Wandel in der Langstrasse: Was stimmt wirklich?

Blogbeitrag von Johanna Burger
Email: johanna.burger@uzh.ch
Matr.Nr.: 13-754-262
Dozierende: Prof. Dr. F. Gilardi, Dr. B. Wüest, Alexandra Kohler
Abgabedatum: 17.12.2017
Anzahl Wörter: 1054

Wandel in der Langstrasse:
Was stimmt wirklich?

Als jüngst der Hiltl-Club an der Langstrasse eröffnet wurde, ging sie wieder los: die Debatte über den Wandel der Langstrasse. Aber wie hat sich das Quartier denn tatsächlich verändert, wer wohnt hier, wie nehmen die Bewohner des Quartiers den Wandel wahr und decken sich subjektive Wahrnehmungen mit belegbaren Fakten? Ein datenunterfütterter Spaziergang durch das Quartier.

 

Mitten drin: Wer hier wohnt oder arbeitet, hat Geschichten zu seinem Quartier und dessen Entwicklung zu erzählen.
Bild: Johanna Burger

Wir steigen am Limmatplatz aus dem Tram aus und biegen in die Langstrasse ein. Vor drei Jahren beschrieb es Barteilhaber Martin Stocker so: „Für mich ist die Langstrasse immer noch das grösste multikulturelle Biotop der Schweiz. Auch wenn die Europapartyallee, das Hiltl und der […] Hipster-Fitness-Bio-Bünzli-Gentrifikations-Mainstream immer näherrücken“ (Tages-Anzeiger vom 30.12.2014). Nun, da der Hiltl-Club genau dort eröffnet wurde, wo früher der Kunstraum Perla Mode war, eröffnet wurde, titelte der Tages-Anzeiger, die (Kultur-)Szene fühle sich provoziert (Tages-Anzeiger 22.09.2017). Aber wie steht es tatsächlich um die Meinung der Bewohner und wie nehmen sie die Veränderungen im Quartier wahr? Um diese Fragen zu beantworten betreten wir zunächst Werners Head Shop. Werner Bösch, den Besitzer des Ladens, treffen wir im ersten Stock des gelben Hauses nahe des Limmatplatzes. Es riecht süsslich, ab und zu hält ihm ein Kunde Tabak hin und stellt eine Frage dazu. Bösch betreibt den Head Shop hier schon seit 35 Jahren und hat in der Strasse einiges erlebt. Dass aber eines Tages eine Leiche vor seiner Ladentür gelegen habe, das sei reiner Zufall gewesen – trotzdem, ein Morgen, den er wohl nie vergessen wird.

Nur noch Junge?

Heute sei es hier hip und jung, beginnt Bösch über die Entwicklung der Langstrasse zu erzählen. Ein Blick in die Daten verrät, dass die Wahrnehmung Böschs sich nicht ganz mit der Realität deckt (siehe Abb. 1). Zwar hat die Anzahl der jungen Erwachsenen (Altersgruppe von 20 bis 39) seit 1997 im Trend stark zugenommen, die junge Altersgruppe war aber schon seit 1993 die mit Abstand stärkste im Quartier Langstrasse. Im letzten Jahr bewohnten 5769 junge Erwachsene die Langstrasse. Kein Wunder also, dass wir wieder zurück auf der Langstrasse gleich einem Vertreter dieser Altersklasse begegnen. Enea von Fellenberg steht, eine Zigarette im Mundwinkel, gegen eine Hausmauer gelehnt und beobachtet das Treiben in der Strasse. Der junge Mann ist des Studiums wegen nach Zürich gezogen. Heute arbeitet er in einer Bar im Quartier. Er hat einen positiven Eindruck von der Langstrasse: «Hier hilft man sich gegenseitig und schaut aufeinander». Nach Eneas Altersgruppe ist Böschs eigene (jene der 40- bis 59-Jährigen) die zweitgrösster. Auch sie hat seit 2000 – noch stetiger als jene der jüngeren – zugenommen und zählte im vergangenen Jahr 3268 Vertreter. Die älteren Semester (80 Jahre und älter) waren schon seit 1993 nur schwach vertreten. 2016 waren es gerade einmal 169 Personen.

 

Abb.1: Weniger Kinder: Von 1993 bis 2016 nahm die Anzahl an Kindern im Quartier Langstrasse ab.                         Eigene Darstellung.

Beim Weitergehen begegnen wir Dusanka Ahrens. Sie steht mit dem Kinderwagen vor der Strassenkreuzung bei der Olé Olé Bar und wartet, bis die Ampel grün wird. Sie habe auch hier gewohnt, früher. Das habe sie genossen. „Aber jetzt, mit Familie, kann ich mir nicht vorstellen, noch immer hier zu wohnen“, sagt sie. Die gesamte Anzahl der Kinder im Quartier hat seit 1993 stark abgenommen. Damals waren es noch 1585, im letzten Jahr nur noch 791. Bis ins Jahr 2000 gab es noch mehr Kinder als 60- bis 79-Jährige (Gruppe der Pensionäre). Heute sind es deutlich mehr Pensionäre als Kinder. Es scheint also vielen so zu gehen, wie Ahrens, die nicht als Familie mit Kindern hier wohnen möchte. Die Ampel springt auf grün und Ahrens verabschiedet sich.

Nur noch WGs?

Wenn man sich die Daten anschaut, wird ersichtlich, dass es auch insgesamt prozentual viel weniger Ehepaare mit Kindern im Quartier gibt, als in der ganzen Stadt Zürich (siehe Abb.2). Während hier die türkisen Balken die relative Häufigkeit eines Haushaltstyps in der Stadt Zürich illustrieren, zeigen die lilanen jene des Langstrassenquartiers.

Abb.2: Im Quartier Langstrasse wohnen viele Einpersonenhaushalte, dafür wenige Familien. Eigene Darstellung.

Es wird ersichtlich, dass die Bewohner des Quartiers häufig in Ein- oder Zweipersonenhaushalten zusammenwohnen oder in Wohngemeinschaften. Die also eher etwas unkonventionellen Haushaltstypen sind in der Langstrasse stärker vertreten im Vergleich zur gesamten Stadt Zürich. In der Stadt sind die traditionelleren Formen des Zusammenlebens wie eben auch jene von Ahrens, das Ehepaar oder die Familie, stärker vertreten. Die Ampel nun springt auf grün, Ahrens verabschiedet sich und schiebt den Kinderwagen über die Langstrasse. Die Klischeevorstellung, ebendieser Strasse und des ganzen Quartiers, wonach hier besonders junge Leute in WGs wohnen, kann durchaus mit Hilfe der Daten bestätigt werden.

Heute sei es für die Jungen denn auch cool und dank der WGs erschwinglich, im Quartier zu wohnen, beginnt der Rapper E.K.R. aka Thomas Bollinger zu erzählen. Wir treffen ihn auf dem Spaziergang vor einer Bar an der Langstrasse. E.K.R. ist hier oft unterwegs, wobei er das Quartier von Donnerstag bis Sonntag zu meiden versuche, wie er berichtet. Dies, wegen der Ausgehmöglichkeiten am Wochenende und des Sex- und Drogentourismus. Den Abend, als er unten auf der Strasse stand und vom zweiten Stock eine Prostituierte heruntergestossen worden ist, wird ihm für immer in Erinnerung bleiben. Auf die Eröffnung des Hiltl-Clubs angesprochen meint E.K.R., dass er neue Clubs, die ein neues Publikum anziehen, nicht per se schlecht finde. „Sie können auch zu einer Aufwertung des Quartiers beitragen“. Diese angesprochene Aufwertung lässt sich beispielsweise am gestiegenen Bodenpreis in der Langstrasse festmachen. Zwischen 2014 und 2017 stieg dieser nach einem Bericht des Tages-Anzeigers um 89 Prozent (Tages-Anzeiger 25.08.2017). Wohl auch ein Grund, weshalb wer hier wohnt, eine grössere Wahrscheinlichkeit hat, in einem Zweipersonenhaushalt oder einer Wohngemeinschaft lebt als in der gesamten Stadt. Beim Weitergehen durch die Strasse, wird klar, dass die von E.K.R. erwähnte Aufwertung auch in der Infrastruktur sichtbar wird: Kulturorte, wie etwa das Perla Mode, müssen etwa Restaurants oder Clubs weichen. Sven Schirmer, der früher das Revier an der Langstrasse führte, beschrieb den Wandel in einem Interview mit der NZZ: „Das Urbane und Kulturelle schwindet immer mehr. Alle zwei Minuten entsteht ein Coop, und ein Türkenladen verschwindet“ (Neue Zürcher Zeitung, 19.01.2017).

Am Schluss unseres Spaziergangs betreten wir einen der vielen Imbiss-Läden in der Langstrasse. Abbas Yerocagi steht hinter der Theke und wartet auf den grossen Ansturm an hungrigen Gästen, die schon in wenigen Minuten bis aufs Trottoir anstehen werden. Während wir auf das Essen warten, bleibt Zeit, um zu resümieren. Ja, das Quartier Langstrasse hat sich in der Vergangenheit verändert. Weniger Kinder, mehr junge Erwachsene und prozentual viel mehr WGs als in der gesamten Stadt. Wie sich das Quartier in Zukunft entwickeln wird, wer deshalb beleibt, zu- oder wegzieht, das wird sich zeigen. Yerocagi sieht all diesen Veränderungen aber gelassen entgegen. „Entweder du gehst mit der Zeit, oder du gehst mit der Zeit“, meint er lachend, während er den Döner über den Tresen reicht.

 

Infobox:
Statistik Stadt Zürich hat der Universität Zürich im Rahmen des Seminars „Datenjournalismus“ erstmals Individualdaten zur Wirtschaftsbevölkerung der Stadt Zürich zur Verfügung gestellt. Die Datensätze umfassen Informationen zu Demographie, Zu-, Weg- und Umzügen. Obwohl es sich um Individualdaten handelt, ist die Anonymität der Zürcher Bevölkerung gewährleistet. Die Daten reichen zurück bis ins Jahr 1993 und wurden zuletzt 2016 erhoben.
Die Grafiken dieses Blogbeitrags wurden mit Hilfe des Statistikprograms R erstellt.

Literaturverzeichnis:
  • Roth, Rafaela (2017): «Wenn die Aufwertung konkret wird». Tages-Anzeiger: 25.08.2017.
  • Sarasin, David (2017): «Szene fühlt sich von Hiltl provoziert». Tages-Anzeiger: 22.09.2017.
  • Schoop, Florian (2017): „Ich finde Kontraste sexy“; Interview mit Sven Schirmer. Neue Zürcher Zeitung: 19.01.2017.
  • Zürich-Redaktion: «Ist die Langstrasse wirklich noch aufregend?. Tages-Anzeiger: 30.12.2014.

 

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