Vom „Abfalleimer der Stadt“ zum urbanen Trendquartier: Die Langstrasse zieht immer mehr Schweizer Familien an

Wo in den 1990er-Jahren illegale Prostitution und Drogenhandel Anwohner und Polizei in Atem hielten, werden heute Klagen über Partylärm und Gentrifizierung laut. Dennoch hat sich die Lebenssituation im ehemaligen Arbeiterquartier Langstrasse für viele zum Besseren gewandelt. Für Familien und Kinder gilt dies aber nur bedingt.

Bäckeranlage im Langstrassenquartier an einem schönen Sommertag: Kinder tummeln sich über die Wiese, junge Eltern geniessen den Flecken Natur mitten in der grauen Stadt. Nur die starke Polizeipräsenz erinnert noch an die Vergangenheit der Anlage als einer der wichtigsten Drogenumschlagplätze im Zürich der 1990er-Jahre. Als Teil des verrufenen Kreis 4 – auch „Chreis Cheib“ genannt – ist das Langstrassenquartier heute als Vergnügungsviertel berühmt-berüchtigt. Der Kreis sowie das Quartier zogen seit jeher marginalisiert Bevölkerungsgruppen an und hier wurde ausgelagert, was man nicht wollte. Bereits 1891, als die Gemeinde Aussersihl, aus der einige Jahre später der Kreis 4 hervorgehen sollte, in die Stadt Zürich eingebürgert wurde, war die wirtschaftliche Situation des Gebiets äusserst schwierig und der Zuwanderungsanteil aussergewöhnlich hoch. Die Gegend um die Kaserne im heutigen Langstrassenquartier war ausserdem als Vergnügungsviertel bekannt, galt aber noch nicht als Rotlichtmilieu. Bis in die 1970er-Jahre war es im traditionellen Arbeiter- und Industriequartier, das konsequenterweise auch viele Familien anzog, sogar relativ ruhig. Die Situation änderte sich aber bis um die Jahrhundertwende dramatisch. Die Lage im Quartier galt aufgrund der soziodemografischen Zusammensetzung und aus Sicherheitsbedenken zwar seit längerem als prekär. Nach der Räumung des Platzspitzes und der darauffolgenden Immission durch das illegale Rotlichtmilieu und die Drogenszene wurde die Lage aber für viele Bewohner unerträglich. Insbesondere Familien und Kinder litten unter den Bedingungen. Das Langstrassenquartier war laut einer Bewohnerin „ganz klar kein Wohnquartier. Es war aus meiner Sicht für Eltern mit Kindern sehr unattraktiv. Die Eltern hatten auch Angst, wir mussten Schulwegsicherung machen […].“ Der Stadtrat reagierte 1996 mit dem Projekt Pro Langstrasse-Quartier (1996-1998) und liess darauf das Projekt Langstrasse PLUS (2001-2011) folgen.

Langstrassenquartier erreicht 2016 Tiefstwerte in Familien- und Kinderfreundlichkeit

Das ämterübergreifende Projekt mit der Steigerung der Lebensqualität als Hauptziel beruhte auf einem 4-Säulen-Modell. Die Sicherheit im öffentlichen Raum sollte wiederhergestellt, das Leben im Quartier aufgewertet, die Nutzung von Liegenschaften durch das Sexgewerbe und das Gastgewerbe besser reguliert und ein „urbanes, durchmischtes, stabiles Wohnquartier“ geschaffen werden. Auch wenn die Polizeipräsenz im Langstrassenquartier noch immer aussergewöhnlich hoch ist, gilt es heute tatsächlich als relativ sicher. Ehemalige Drogenumschlagplätze wie die Bäckeranlage, die 2001 gar zwischenzeitlich geschlossen werden musste, wurden durch die Öffentlichkeit wiedererobert und die Tourismusindustrie bewirbt die Gegend als „eine[s] der beliebtesten Viertel der Stadt “. Wirft man aber einen Blick auf die generelle Familien- und Kinderfreundlichkeit des Quartiers, fällt die Bilanz weniger positiv aus.


Ein Vergleich des Familien- und Kinderanteils im Quartier und in allen anderen Zürcher Quartieren zeigt, dass das Langstrassenquartier bezüglich Familien- und Kinderfreundlichkeit 2016 absolute Tiefstwerte erreicht. Mit einem Familienanteil von knapp 19 Prozent liegt es deutlich unter dem städtischen Durchschnitt von über 40 Prozent und rangiert nach dem Quartier Hochschule an zweitletzter Stelle. Zudem weist das Langstrassenquartier mit 7.1 Prozent den tiefsten Kinderanteil aller Zürcher Quartiere auf und unterbietet den städtischen Durchschnitt von 16.5 Prozent auch hier klar. Trotzdem kann nicht von einem Stillstand die Rede sein. Die Familien- und Kinderfreundlichkeit des Quartiers hat sich seit 1993 durchaus verändert. Allerdings nicht so wie erwartet.

Weniger Kinder trotz Attraktivitätsgewinn und verbesserter Sicherheitslage

Denn trotz gesteigerter Sicherheit ist der Kinderanteil im Quartier nicht gestiegen. Er ist im Gegenteil seit den 1990er-Jahren von fast 15 auf heute unter 10 Prozent zurückgegangen, während er in den übrigen Zürcher Quartieren bei leicht über 15 Prozent stabil geblieben ist. Derselbe Negativtrend lässt sich auch beim Elternanteil an der Gesamtbevölkerung beobachten – allerdings nur bis 2012. Dies hängt grösstenteils mit einer veränderten Messmethode zusammen. Ein anderer Erklärungsfaktor sind aber bauliche und soziodemografische Entwicklungen. Denn zwischen 2012 und 2013 gab es in ganz Zürich ausgelöst durch den überproportional starken Bau von Familienwohnungen und steigenden Geburtenzahlen eine relativ starke Zunahme an Familien, wobei diese Entwicklung im Langstrassenquartier bereits wieder rückläufig zu sein scheint scheint.

Ist das Ziel, ein auch für Familien und Kinder lebenswerteres Quartier zu schaffen, also gescheitert? So einfach ist das nicht.

Immer mehr Schweizer Eltern, immer kleinere Familien

Die Eltern des Langstrassenquartiers haben nämlich immer weniger Kinder. In den anderen Quartieren der Stadt ist die Kinderanzahl dagegen relativ stabil geblieben. Noch in den 1990er-Jahren variierten die Werte sowohl für Zürich als auch für das Langstrassenquartier zwischen 1.6 und 1.8 Kindern pro Elternteil. Seither sind sie für Letzteres bis 2016 auf knapp 1.4 Kinder gesunken, während jene von Zürich heute bei etwas mehr als 1.6 liegen. Dafür gibt es zwei Erklärungsansätze. Einerseits haben Eltern fast aller Staatsangehörigkeiten heute weniger Kinder als noch 1993. Eine Ausnahme sind die Schweizer Eltern, deren Kinderbestand leicht steigend ist und 2016 denjenigen aller Nicht-Schweizer mit 1.47 Kindern pro Elternteil gegenüber 1.43 sogar übertroffen hat. Die Schweizer bilden mit ungefähr 60 Prozent die grösste Personengruppe im Langstrassenquartier und anders als in der gesamten Stadt Zürich nimmt ihr Anteil im Quartier stetig zu. Nach der Jahrhundertwende ist auch die Anzahl Schweizer Eltern stark gestiegen. Somit sind heute die meisten Eltern schweizerischer Staatsangehörigkeit und ihr Anteil an der Schweizer Gesamtbevölkerung im Quartier ist zunehmend. Anders sieht das Bild bei den Eltern nicht-schweizerischer Staatsangehörigkeit aus. Die Anzahl ehemals kinderreicher Familien aus Süd- und Osteuropa, Asien sowie der Türkei ist tendenziell ebenso abnehmend wie die Anzahl ihrer Kinder.

Langstrassenquartier insbesondere bei jungen Familien beliebt

Die abnehmende Anzahl Kinder und Eltern und der sinkende Kinderanteil von Eltern lässt sich schliesslich auch damit erklären, dass das Langstrassenquartier für Familien mit sehr jungen Kindern zwar seit Mitte 2005 wieder beliebter wird, für solche mit Kindern im schulfähigen Alter aber an Attraktivität zu einzubüssen scheint. Es ist also insbesondere für junge Personen und Familien interessant, verliert aber mit deren zunehmenden Alter seinen Reiz. Das Langstrassenquartier hat sich während der Projektperiode von Langstrasse PLUS und darüber hinaus stark verändert hat. Neue Restaurants und Unterhaltungsstätten spriessen wie Pilze aus dem Boden, der Anteil Schweizer Bewohnerinnen und Bewohner mit und ohne Kinder nimmt ebenso zu wie die Anzahl der Arbeitsplätze für Kreativschaffende und der Anteil Einwohner mit tiefem Bildungsniveau sowie wenig Lohn ist drastisch zurückgegangen. Die Gentrifizierung hat Einzug gehalten, das Quartier ist für bestimmte Bevölkerungsgruppen lebenswerterer geworden. Für Familien und Kinder gilt dies aber nur bedingt. Denn Prostitution und Drogenhandel sind nicht verschwunden. Partylärm bereitet den Anwohnerinnen und Anwohnern Kopfzerbrechen und die Anzahl Grünflächen ist verschwindend klein. Es ist Nacht geworden auf der Bäckeranlage. Die Familien haben dem Partyvolk Platz gemacht.

Chantal Marquart

Informationen zum Blogbeitrag

Verfasserin: Chantal Marquart | Matrikelnummer: 13-763-13 | chantalmirja.marquart@uzh.ch
Abgabedatum: 17.12.2017
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Bruno Wüest, Alexandra Kohler

Wortzahl: 869

Information zu den Daten

Dieser Blogbeitrag beruht auf anonymisierten den Personendaten der Einwohner/innen der Stadt Zürich, die das Statistischen Amt der Stadt Zürich den Teilnehmenden des Forschungsseminars Politischer Datenjournalismus der Universität Zürich freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Der Datensatz beinhaltet Variablen zu soziodemografischen Merkmalen, Zuzügen, Umzügen, Wegzügen, Wohnungen und Gebäuden und reicht in den meisten Fällen von 1993 bis zum Jahre 2016.

Dieser Blogbeitrag beruht insbesondere auf den Variablen Haushaltstyp, Anzahl Kinder und Alter. Mit der Variable Haushaltstyp, die erst seit 2013 erfasst wird, können Familien analysiert werden. Als Familie wurden in diesem Beitrag folgende Haushaltstypen bezeichnet: Ehepaar mit Kinder, Ein-Elternhaushalt, Eingetragenes Paar mit Kinder, Familien-Verbund, Generationenhaushalt, Paar mit Kind(ern), Patchwork-Haushalt, Wohngemeinschaft mit Kindern. Die Variable Anzahl Kinder gibt an,  wie viele im gleichen Haushalt lebende Kinder unter 18 Jahren eine Person hat. Darum wurden in diesem Beitrag dadurch Eltern identifiziert. Das Alter der Einwohner/innen der Stadt Zürich wird in Fünfjahresschritten angegeben. Als Kinder wurden alle Individuen im Alter von 0-19 Jahren bezeichnet.

Quellen

Künzle, Daniel (1991): City, Millionenvorstadt und Arbeiterquartier: demographische und baulich-soziale Entwicklung in Zürich 1830-1914, in: Unsere Kunstdenkmäler. Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 42. (https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=kas-001:1991:42::563 [Stand: 31.12.2017]). 

Kolly, Marie-José, Anja Lemcke und Balz Rittmeyer (2017):
Hipster machen sich in den Arbeiterquartieren breit. NZZ, 02.06.2017.

(https://www.nzz.ch/zuerich/gentrifizierung-in-zuerich-der-auslaenderanteil-in-zuercher-kreisen-gleicht-sich-an-ld.604774 [Stand: 17.12.2017]).

MySwitzerland.com: Lebendige Langstrasse. (https://www.myswitzerland.com/en-ch/lively-langstrasse.html [Stand: 17.12.2017]).

Rohrer, Jürg und Michael Rüegg (2017): Gutausgebildete verdrängen in Zürich die Büezer. Tages Anzeiger, 22.03.2017. (https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Die-Zuercher-werden-immer-reicher-und-gebildeter/story/30641093 [Stand: 17.12.2017]).

Stadt Zürich (2015): Quartierspiegel Langstrasse. (https://www.stadt-zuerich.ch/epaper/PRD/SSZ/QS/Quartierspiegel_042-Langstrasse_2015_output/web/html5/index.html?&locale=DEU [Stand: 17.12.2017]).

Stadt Zürich Polizeidepartement (2011): Projekt Langstrasse PLUS. Rückblick 2001-2010.

Stadt Zürich Präsidialdepartement (2014): Analyse Neubausiedlungen 2009-2012. Fokus gemeinnütziger und privater Wohnungsbau in der Stadt Zürich. (https://www.stadt-zuerich.ch/epaper/PRD/SSZ/Analysen/A_001_2014_output/web/flipviewerxpress.html [Stand: 17.12.2017]).

Stadt Zürich Präsidialdepartement (2016): Dem Baby-Boom auf der Spur: Warum leben in Zürich immer mehr kleine Kinder? (https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/publikationen-angebote/publikationen/webartikel/2016-03-02_Dem-Baby-Boom-auf-der-Spur.html [Stand: 17.12.2017]).

Stadt Zürich. Tiefbau- und Entsorgungsdepartement: Bäckeranlage. (https://www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/gsz/natur-_und_erlebnisraeume/park-_und_gruenanlagen/baeckeranlage.html [Stand: 31.12.2017]).

Stadt Zürich und Geographisches Institut Universität Zürich (2008): Das Langstrassenquartier. Veränderungen, Einflüsse, Einschätzungen 1990-2007. (http://www.news.uzh.ch/dam/jcr:ffffffff-d5cc-9ac4-0000-00002a1f4363/LSP_Schlussbericht_web.pdf [Stand: 17.12.2017]).

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