Gewalteskalation im Irak – versinkt das Land im Chaos?

Am 30 April fanden im Irak die ersten Parlamentswahlen seit dem Abzug der amerikanischen Truppen statt. Die definitiven Resultate werden erst am 19. Mai verkündet werden, zuverlässige Prognosen gibt es noch keine. Trotzdem ist zu erwarten, dass es Präsident al-Malikis Bündnis gelingt die Mehrheit zu halten. Doch wie auch immer die Wahl ausgehen wird, die Gewinner stehen vor der Herkulesaufgabe das zutiefst gespaltene Land zusammenzuhalten und die anhaltende Gewaltspirale zu durchbrechen. Schwierige Zeiten stehen dem Irak bevor. Auf dem Ranking des ‚failed state index‘, rangiert der Irak auf dem elften Platz. Dies ist symptomatisch, denn der irakische Staat vermag es nach wie vor nicht, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, geschweige denn die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet zu wahren. Über die letzten Monate haben sich die Sicherheitsprobleme noch stärker akzentuiert. Es besteht die ernst zunehmende Gefahr, dass der Irak in den Strudel eines regional überbordenden schiitisch-sunnitischen Machtkampfes gerät.

Die ISIS im Irak (und Syrien)

In der Berichterstattung über den Syrien-Konflikt wird der Irak meist ausgeblendet. Zu Unrecht, denn das Land ist von äusserst grosser Bedeutung für die Geschehnisse in SyrienDie Kräfteverhältnisse in Syrien haben sich im Verlauf des Krieges verschoben. Die ernsthaftesten Gegner des Assad Regimes, sowie der ethnischen und religiösen Minderheiten welche es stützen, (namentlich den Aleviten, welche eine Untergruppe der schiitische Glaubensgemeinschaft darstellen, wie auch den syrischen Christen) sind mittlerweile sunnitisch-fundamentalistische Splittergruppen. Die Gruppierung „Islamischer Staat im Irak und Syrien bzw. der Levante“ (ISIS / ISIL), die sich 2012 in den Konflikt eingeschaltet hat, ist Treiber dieser Entwicklung.  ISIS war vorher vorwiegend im Irak aktiv. Die Organisation hat ihr Kontrollgebiet in den zwei Ländern seit dem Ausbruch der Syrien-Krise beträchtlich ausdehnen können. Im Irak macht sie dem Staat nicht nur periphere Gebiete streitig, sondern unterdessen auch Ortschaften welche vor den Toren Bagdads liegen. 

„… it also means that ISIS has become so strong that not only can it recruit platoons of volunteers ready to kill themselves for the terrorist cause, but that it was able to train them unmolested in a camp just 60 miles north of Baghdad…“

Aryn Baker, TIME MAGAZINE, 11.04.2014

Dass ISIS ihren Einflussbereich so stark ausweiten kann, ist neben der gegenwärtigen Instabilität in der Region auch auf den wachsenden Unmut der sunnitischen Minderheit gegenüber Präsident al-Maliki und seiner schiitisch dominierten Regierung zurückzuführen. Die zunehmende Akzentuierung der ethnisch-konfessionellen Konfliktlinien äussert sich daher in verstärkter innenpolitischer Polarisierung. Vertreter der Sunniten werfen al-Malikis Regierung vor, sie in Politik und Wirtschaft zu benachteiligen. Daher kann ISIS vermehrt auch auf Unterstützung seitens der sunnitischen Stämme zählen.

„The United States helped engineer Maliki’s reelection as prime minister in 2010. But once the Americans had left, Maliki’s government foolishly created a vacuum that allowed Sunni extremists to take root again in western Iraq…“

Jalal al-Gaood, Irakischer Politiker, Washington Post, 26.04.2014

Ein islamisches Kalifat

ISIS verfolgt das Ziel, einen islamischen Staat im Irak und Syrien zu errichten und anerkennt daher die Grenze zwischen den zwei Staaten nicht. Die Karte unten zeigt das Gebiet welches weitgehend ISIS untersteht.

ISIS

Eine detailliertere Karte für die Lage in Syrien findet sich hier.

Eine Vielzahl von Städten wird von ihren dschihadistischen Milizen kontrolliert. Kürzlich konnte sogar Falludscha eingenommen werden. In den eroberten Gebieten führen die Dschihadisten der ISIS das Recht der Scharia ein. Ihr Operationsbereich erstreckt sich jedoch weit über den eingefärbten Bereich. ISIS versucht mit systematisch über das gesamte Staatsgebiet verteilten Anschlägen und Angriffen, den Irak zu destabilisieren. Es sind bürgerkriegsähnliche Szenen welche sich im Land abspielen. Bis in den Norden hinauf gelingt es der ISIS, den Regierungstruppen herbe Verluste zuzusetzen und auch immer wieder irakische Soldaten gefangen zu nehmen um sie hinzurichten.

„Mosul – Im Nordirak haben Extremisten einen Armeekonvoi überfallen, mindestens 20 Soldaten entführt und diese anschließend durch Kopfschüsse getötet.“

Reuters, 11.05.2014

Ausländische Dschihadisten im Irak?

Dank der Kontrolle von Gebieten entlang der syrisch-türkischen Grenze kann ISIS im Ausland rekrutierte Freiwillige unbehelligt nach Syrien holen und anschliessend für Anschläge in den Irak schleusen.

„A wave of suicide bombings carried out by foreign volunteers entering Iraq from Syria is killing some 1,000 civilians a month…

…Isis should have little problem transporting suicide bombers from Syria because it controls much of the north-east of the country.“

The Independent, 20.04.2014

Die Anzahl monatlicher Bombenanschläge und Selbstmordattentate widerspiegelt diese besorgniserregende Entwicklung. Im Herbst 2013 wurde sogar der Höchststand der Bombenanschläge von 2007 übertroffen, als die amerikanischen Truppen noch im Land waren. Die Daten zu den Zwischenfällen in diesen zwei Kategorien sind nur bis Oktober 2013 verfügbar. Erst in ein paar Monaten werden die für Anfang 2014 nach Kategorie aufgeschlüsselten Häufigkeiten zur Verfügung stehen. Hingegen werden die Zahlen zu den Todesopfern die in der ersten Grafik gezeigt wurden tagesaktuell veröffentlicht. Und die sprechen eine klare Sprache: es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Zwischenfälle in diesen zwei Kategorien abgenommen haben. Wahrscheinlich verharren sie nach wie vor auf hohem Niveau. 2014 scheint sich folglich keine Verbesserung abzuzeichnen.

Das Ausmass der chronischen Instabilität lässt sich auch an der geografischen Ausdehnung terroristischer Zwischenfälle ablesen. Die interaktive Karte zeigt alle gemeldeten Zwischenfälle im September 2012. Hierbei werden nicht nur Bombenanschläge und Selbstmordattentate, sondern auch bewaffnete Überfälle berücksichtigt.

Die geografische Ausdehnung der Zwischenfälle auf praktisch alle Provinzen und Städte ist eindrücklich. September 2012 war was die Anzahl der Todesopfer angeht, eher unterdurchschnittlich (396, plus ca. 900 Verletzte). Im September 2012 konnten 39% der Anschläge direkt auf die ISIS zurückgeführt werden, wobei eine hohe Dunkelziffer besteht und ihr tatsächlicher Anteil wahrscheinlich noch um einiges höher ist.

Steht der Irak am Abgrund?

Die Situation im Irak ist prekär und nach der blutigen Eskalation Ende 2013 sind noch keine Anzeichen einer Entspannung erkennbar. Die Zahlen zu Todesopfern und Anschlaghäufigkeiten widerspiegeln eine unheilvolle Entwicklung. Prognosen zum weiteren Verlauf sind schwierig, doch zählt das Projekt ‚IRAQ BODY COUNT‘ in den ersten 4 Monaten dieses Jahres bereits 4000 Opfer unter der Zivilbevölkerung, was den alarmierenden Trend von 2013 zu bestätigen scheint. In den etwas ‚ruhigeren‘ Jahren 2009-2012 entsprach diese Zahl in etwa den Todesopfern im Zeitraum eines ganzen Jahres. So ist nach dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte kein Aufkeimen einer stabilen und sicheren Ordnung im Irak zu erkennen, trotz den vermeintlich demokratischen Institutionen über welche das Land nun verfügt. Das Gewaltpotential wird durch eine Vielzahl Faktoren befeuert. Der Bürgerkrieg in Syrien ist hierbei sicherlich von zentraler Bedeutung. Der weitere Verlauf des Konfliktes im Nachbarland wird weiterhin auf den Irak ausstrahlen.Doch auch innere Faktoren spielen eine Rolle. Während die schiitische Mehrheit sowie die kurdische Bevölkerung vom Ende des Saddam-Regimes profitiert haben mögen, gibt es Bevölkerungsgruppen welche einen signifikanten Machtverlust erlitten haben. Die Ressentiments der sunnitischen Minderheit gegenüber Präsident al-Maliki sind hierfür sinnbildlich. Ob es gelingt die gesellschaftliche Kohäsion zu stärken und die vielen ethnischen- und religiösen Gruppen zu versöhnen, hängt daher nicht zu letzt von der künftigen Linie der (neuen?) Regierung ab. Denn letztlich ist es gerade die innere Zerrissenheit des Landes die es zu einer fruchtbaren Machtbasis für Gruppierungen wie ISIS macht. 

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