Vom Mythos «Dichtestress»

«Dichtestress» beschreibt alles – und nichts. Das diffuse Konstrukt soll entlang seiner strukturellen Bestimmung konsumiert werden.

Mit moderner politischer Kommunikation können Resultate an der Urne beeinflusst werden. So weit, so gut. Selbstredend ist, dass dabei die Sprache das wesentliche Element ist. Dabei geht es nicht um die Muttersprache und die Frage, weshalb in der Deutschschweiz in der deutschen Sprache über eine Abstimmungsthematik diskutiert wird, sondern vielmehr darum, wie eine Debatte gefärbt ist. Auch in der politikwissenschaftlichen Forschung wird immer wieder untersucht, wie ein Abstimmungskampf geführt wird. Man nennt das Framing. Framing bezieht sich auf den Rahmen, in dem ein Diskurs stattfindet. Der Rahmen beeinflusst die Debatte wesentlich. Es ist wie bei einem Bild, das je nach Art und Material des Rahmens unterschiedlich wirkt.

«I claim […] to show, not how men think in myths, but how myths operate in men’s minds without their being aware of the fact.» [1]

Das zentrale Element von Frames sind Mythen. Die Kraft der Mythen liegt darin, dass sie ohne Erklärung funktionieren und nicht untersuchungswürdig erscheinen – sie geben sich «transparent».

Mythen gibt es viele, aber nur wenige sind so erfolgreich wie jene aus der politischen Ecke. Der Erfolg rührt daher, dass der politische Mythos komplexe, unüberschaubare Situationen und Zusammenhänge verständlich macht – Begriffe werden als natürlich inszeniert, unabhängig davon, ob sie mit den jeweiligen Tatsachen vereinbar sind. Mythen sind Vereinfachungen, die sich an Stereotypen bedienen. Ein weiteres wichtiges Merkmal liegt in seiner Emotionalität, er kennzeichnet sich durch aufregende und entzückende Erzählungen. Der Mythos wendet sich nicht zufällig an sein Publikum, ganz im Gegenteil: Er verfolgt ein Ziel. Er ist der Wolf im Schafspelz, er will die Abstimmung gewinnen. Im Falle von «Dichtestress» ist klar, wer das Publikum darstellt: Das Schweizer Stimmvolk. Spannend daran ist, dass dieses sowohl Adressat des Mythos als auch, in gewisser Weise, dessen Mitbegründer ist. Dadurch, dass es den Begriff aufnimmt und immer wieder artikuliert, tragen die Adressaten wesentlich zu der Naturalisierung des Begriffes bei.

Dass es sich bei «Dichtestress» um einen Mythos handelt, kann mithilfe seiner Diffusion in den Medien gezeigt werden. Aus diesem Grund wurden vierzehn Zeitungen während einer Dauer von neun Jahren untersucht. Es handelt sich dabei ausschliesslich um deutschschweizer Medienerzeugnisse, da die frankofone Schweiz den Begriff «Dichtestress» nicht kennt.

diffusion

In der ersten untersuchten Phase, den sechs Jahren vor der Unterschriftensammlung, sind praktisch keine Nennungen auszumachen. Auch während der Phase, in der die Initianten auf Unterschriftenfang waren, zeigt sich noch kein nennenswerter Artikelanstieg (Phase 2). Erst mit der erfolgreichen Einreichung der Initiative nimmt die Anzahl sukzessive zu. Der vorläufige Höhepunkt liegt in der Zeit zwischen dem 24. November (letzte eidg. Abstimmung vor dem MEI-Urnengang) 2013 und dem 9. Februar 2014 – im Abstimmungskampf (vierte Phase). Auf den ersten Blick scheint erstaunlich, dass der Abstimmungskampf nur einen vorläufigen Höhepunkt darstellt. Erst durch den erneuten Anstieg in der Berichterstattung wird der Mythos vollkommen naturalisiert. Dieses „normal werden“ kommt einem Ritterschlag gleich und geschieht erst in der Retrospektive durch die Analysen der um Deutungshoheit ringenden Experten und Parteien (Phase 5). Dass in diesem Prozess oft negativ auf den Begriff verwiesen wurde, tut der Begriffsnaturalisierung keinen Abbruch. Vielmehr zeigt sich, dass sich nun sogar die politischen Experten um den Begriff bemühen. Auf diese Art wird der Mythos aus der Bevölkerung heraus verstärkt und in gewisser Weise immer wieder neu erschaffen.

Überfüllte Züge, verstopfte Autobahnen, zu hohe Mieten, kein Platz im Zoo-Restaurant um 12.00 Uhr mittags. Zusammengefasst: Dichtestress.[2]

Dichte und andere Dichtungen

Um den Mythos «Dichtestress» komplett zu demaskieren, fehlt es noch an einer Überprüfung der Realität. Falls sich zeigt, dass tatsächlich vorhandener Platzmangel zu mehr Zustimmung geführt hat, ist «Dichtestress» allenfalls ein unglücklich gewählter Begriff, der aber sehr wohl mit den realen Tatsachen vereinbar ist. Wenn «Dichtestress» jedoch nicht als Erklärung für das Abstimmungsresultat dient, dann ist gezeigt, dass es sich dabei tatsächlich um eine emotional aufgeladene Erzählung handelt. Wenn dem so ist, dann ist der Mythos entlarvt und es stellt sich die Frage, welche anderen Faktoren das Abstimmungsresultat erklären.

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Statistische Annäherung

Verschiedene Autoren haben bereits darauf hingewiesen, dass die Bevölkerungsdichte wahrscheinlich nicht zur Erklärung des Resultates dient.

Auf der Ebene der Deutschschweizer Gemeinden zeigt sich in der statistischen Analyse des Abstimmungsresultates, dass die Dichte keine Rolle spielt. Es kommt noch schlimmer, nicht nur dient die Dichte nicht als Erklärungsfaktor, sondern je mehr Bevölkerungswachstum eine Gemeinde erlebte, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit in dieser Gemeinde, die Initiative abgelehnt zu haben. Weiter gilt auf der Gemeindeebene, was für die Kantone Gültigkeit hatte: Die Zustimmung zur Initiative hing in erster Linie vom Anteil der SVP-Wähler ab, während der Anteil der ausländischen Bevölkerung eine höhere Ablehnungswahrscheinlichkeit nahelegt. Spannend für Deutschschweizer Gemeinden ist, dass sich die Agglomerationen neu am Land orientieren und im Vergleich zu den Städten wertkonservativ abstimmen.

«Unser Dichtestress ist der Ausdruck einer satten, reichen Gesellschaft.» [3]

Für die französischsprachige Schweiz zeichnet sich ein wenig anderes Bild. Die Dichte hat keine Erklärungskraft und auch hier zeigt sich, dass je mehr Zuwanderung eine Gemeinde zu bewerkstelligen hatte, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, gegen die Initiative gestimmt zu haben. Auch hier ist interessant zu beobachten, dass Gemeinden der Romandie viel weniger stark für die Initiative gestimmt haben, sich also der krasse Stadt-Land Gegensatz der Deutschschweiz nicht so deutlich zeigt. Auch in der italienischsprechenden Schweiz taugt der Faktor Dichte nicht, um das Abstimmungsresultat zu erklären und es zeigen sich dieselben Muster wie in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz.

Zunehmende Dichte kann zu Unfruchtbarkeit und Tod führen

Die Begriffsdiffusion und die Überprüfung an realen Gegebenheiten belegt klar, dass es sich bei «Dichtestress» nur um einen Mythos handeln kann. Interessant ist, dass die Romandie, die den Begriff nicht kennt, gegen die Initiative stimmte. Das Wort «Dichtestress» hat einen eindrücklichen Eingang in die Themenlandschaft der deutschschweizer Presse gefunden und dank der Offenheit des Begriffs gelangt «Dichtestress» zu seiner vermeintlich natürlichen Bedeutung. Es bleibt nur noch anzuführen, was es mit dem Begriff tatsächlich auf sich hat. Der Duden kennt den Begriff nicht und Wikipedia verweist einen zu Lemmingen und Seidenschwänzen. Diese verlassen aufgrund von sozialem Stress ihr Gebiet. Auch aufgeführt ist, dass zunehmende Dichte zu Verhaltensänderungen, Unfruchtbarkeit oder gar dem Tod führen kann.[4]

Beitrag von Thomas Willi
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