Asyl in Europa: Wer darf bleiben?

In Europa werden jährlich hunderttausende Asylanträge gestellt. Jeder Antrag wird geprüft und jede Entscheidung registriert. Der Anteil positiver Entscheide variiert von Land zu Land beträchtlich. Erstaunlich, da man annehmen würde, dass der Anteil derer, die Asyl brauchen, konstant ist – egal ob der Antrag in Italien oder Island gestellt wird. Die Differenzen lassen sich unter anderem auf unterschiedliche Migrationsströme und Bewilligungspraxen zurückführen.  Die Abweichungen vom europäischen Schnitt sind für die Schweiz, Italien und Deutschland teils massiv.

Wenn es um Asylanträge in Europa geht, ist die Schweiz nicht überfordert. Gemäss der Bevölkerungsgrösse und Wirtschaftskraft des Landes erhält die Schweiz nicht mehr und nicht weniger Asylanträge, als ihr im europäischen Vergleich zusteht. Die Schweiz sieht sich mit keiner Asylflut konfrontiert, auch wenn das Bild in politischen Debatten oft bemüht wird. Andere Länder (wie Spanien oder Zypern) werden im bestehenden Asylverfahren viel stärker gefordert. Aber die Asylanträge erzählen nur einen Teil der Geschichte, gewissermassen den Teil bis zur Grenze. Wer darf rein, wer darf bleiben, wer muss wieder gehen? Diese Fragen konnten mit den Zahlen der Asylanträge nicht beantwortet werden, die europäischen Zahlen zu den erstinstanzlichen Asylentscheiden erlauben eine Annäherung .

Die Schweiz steht im europäischen Vergleich weit oben. Zwischen 2008 und 2013 lag die Anerkennungsquote von Flüchtlingen nur einmal (2012) unter dem Anteil der summierten Zahlen aller 30 Länder. Wurden in der Schweiz zeitweise mehr als 50 Prozent aller Asylentscheide positiv entschieden, hatten es Asylsuchende in Griechenland deutlich schwerer: In den fünf Jahren lag die Quote positiver Entscheide nie über 5 Prozent. Das Extrem am anderen Ende der Achse ist Malta, wo durchgehend mehr als die Hälfte (2012 gar mehr als 90 Prozent) der Entscheide positiv ausfielen. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich. Kommen in Malta nur Flüchtlinge an, die einen triftigen Fluchtgrund haben, während in Griechenland lauter Menschen ankommen, die keinen haben? Es sind Extrembeispiele, doch auch der Vergleich anderer Länder in der Graphik zeigt, dass der Anteil beträchtlich variiert. Wie kann es sein, dass die Anteile so weit auseinander liegen?

Zwei Faktoren müssen genauer betrachtet werden: Erstens ist der Flüchtlingsstrom in den verschiedenen Ländern höchst unterschiedlich. Es ist nicht so, dass in allen Ländern der Anteil Asylanträge nach Herkunftsland auch nur annähernd gleich wäre. Die Länder Europas weisen spezifische Migrationsströme vor. Zweitens ist die Bewilligungspraxis unterschiedlich. Betrachtet man den Anteil positiver Entscheide nach Her- und Ankunftsland gibt es beträchtliche Differenzen. Dabei ist die Spannbreite bei den Asylentscheiden weit grösser als bei den Asylanträgen. Illustriert werden die Daten für diejenigen Herkunftsländer, aus denen in den vergangenen fünf Jahren mehr als 5000 Personen in der Schweiz Asyl beantragten. Zusätzlich zu den Schweizer Zahlen werden auch diejenigen der Nachbarländer Italien und Deutschland entlang der Nord-Süd-Achse dargestellt. Die Differenz wird im Vergleich zu den summierten Zahlen aller Länder berechnet. Ein positiver Wert bedeutet, dass ein Land einen höheren Anteil hatte als der Anteil an der Summe aller 30 Länder. Ein negativer Wert entspricht dem Gegenteil.

Die Zahlen zum Anteil der Asylanträge nach Herkunftsland zeigen verschiedenes. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die Anteile stark variieren. So ist der Anteil an Asylanträgen aus Nigeria in Italien im Vergleich zum Anteil in allen Ländern um fast 13 Prozentpunkte höher, während der Anteil an Asylanträgen aus Serbien in Italien im europäischen Vergleich um 4 Prozentpunkte tiefer liegt. Offenkundig ist, dass der Anteil von Asylanträgen aus afrikanischen Ländern in Italien und der Schweiz viel höher ist als in Deutschland. Angesichts des Dublin-Verfahrens wenig erstaunlich. Wer von Afrika kommend zuerst in Italien Land betritt und dort registriert wird, wird im Falle einer Weiterreise zurück nach Italien geschafft und kann entsprechend kaum in Deutschland Asyl beantragen. Da in Italien nicht immer alle Asylsuchenden registriert werden und diese danach teilweise weiter Richtung Norden reisen, weist auch die Schweiz einen hohen Anteil Asylsuchender aus Afrika vor.  Deutschland weist derweil gerade bei Asylanträgen aus Syrien und Afghanistan höhere Anteile vor. Das hat wenig mit geographischen Gegebenheiten, viel aber mit politischen Zielsetzungen der Bundesregierung zu tun. Flüchtlinge aus Sri Lanka stellen in der Schweiz öfter Asylanträge als in den anderen Ländern, während Flüchtlinge aus Serbien (oftmals Roma) oft in Deutschland Asyl beantragen.

Die unterschiedlichen Migrationsströme sind zur Interpretation der Anteile positiver Asylentscheide in den verschiedenen Ländern notwendig. Denn je nach Herkunftsland ist der Anteil positiver Entscheide gesamteuropäisch höchst unterschiedlich. Schon nur bei den berücksichtigten acht Herkunftsländern schwankt der Anteil positiver Entscheide zwischen 75 (Syrien) und 5 Prozent (Serbien). Wenn also jedes Land Europas dieselbe Quote für jedes Herkunftsland anwenden würde, wäre der Gesamtanteil der positiven Entscheide weiterhin unterschiedlich. Schlicht, weil jedes Land mit einem unterschiedlichen Migrationsstrom konfrontiert ist.

Nicht nur die Migrationsströme, auch die Bewilligungspraktiken von Asylgesuchen sind unterschiedlich. Betrachtet man die Differenz zu den gesamteuropäischen Werten für die selben drei Länder, zeigt sich, dass die Spanne der Abweichung grösser ist als bei den Migrationsströmen. Die durchschnittliche Abweichung vom gesamteuropäischen Anteil beträgt bei den Asylanträgen 3.4 Prozentpunkte, bei den Asylentscheiden fast 15 Prozentpunkte. Während der Anteil positiver Entscheide bei Gesuchen aus Sri Lanka in Europa bei rund 27% liegt, ist der Wert für sri-lankesische Gesuche in der Schweiz um nochmals 45 Prozentpunkte höher. Von den acht berücksichtigten Herkunftsländer weisen nur Afghanistan, Tunesien und Syrien keine einzige Abweichung von 20 Prozentpunkten vor. Bei allen anderen Herkunftsländern gibt es mindestens einen Fall, wo die Abweichung im Ankunftsland 20 Punkte oder mehr beträgt.

Dieser Wert erstaunt. Kaum vorstellbar ist, dass die Zusammensetzung des Migrationsstroms aus Afghanistan nach Italien derart anders ist als derjenige nach Deutschland. Dennoch unterscheidet sich der Anteil positiver Entscheide um rund 38 Prozentpunkte.  Zwei Erklärungsansätze sind denkbar. Es kann sein, dass der Migrationsstrom in die Länder gleich ist, bei der Registrierung aber selektiert wird. Das heisst, dass Fälle, die auf den ersten Blick wenig Chance auf Asyl haben, gar nicht erst erfasst werden und gleich die Weiterreise empfohlen wird. Angesichts von Meldungen von überlasteten Asylzentren in Italien ist es denkbar, dass infolge des strapazierten Asylwesens kurzerhand die Segeln gestrichen werden und Fälle selektiv behandelt werden. Der zweite Erklärungsansatz hängt damit zusammen, dass die europäischen Länder ganz grundsätzlich weit davon entfernt sind, einheitliche Regelungen für die Gewährung von Asyl zu haben. So wird beispielsweise der Familiennachzug von Land zu Land verschieden geregelt – es gibt „kein allgemeines Recht auf Einreise bzw. Anwesenheit“ infolge des Artikel 8 EMRK, welcher für die juristische Gewährung des Nachzugs relevant ist. Dabei ist der Familiennachzug gerade in der Schweiz ein wichtiger Faktor. 2013 wurden zwei Drittel der Asylgewährungen aufgrund von Familiennachzug gewährt.

In einem Klima im Asylwesen, das stark vom Effizienz-Gedanken geprägt ist, scheint es nur nachvollziehbar, dass auf eine (teilweise) Überlastung reagiert wird, indem Fälle selektiv behandelt werden. Die verschiedenen europäischen Länder nehmen Möglichkeiten der Reduktion der Asylanträge und -entscheide ins Visier und „nutzen [ihren] Spielraum aus„. Dabei geht es selten um die Flüchtlinge und oftmals um innenpolitische Debatten – wie sonst lassen sich die derart unterschiedlichen Zahlen der Asylentscheide interpretieren? Haben von den 7’200 Afghanen, über deren Asylgesuch in Italien entschieden wurde, fast 6’000 einen Asylgrund, während von den fast 24’00 Afghanen in Deutschland nur 10’000 einen haben? Das Asylwesen Europas muss gestärkt werden, die Verteilung der Asylsuchenden fair geregelt werden. Regelungen über Asylentscheide müssen einheitlich sein. Europa muss auf mehr Öffnung statt auf den Ausbau der Festung setzen.

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