Der Röstigraben unter der Lupe

Die Differenz zwischen französischsprachiger und deutschsprachiger Schweiz – der sogenannte Röstigraben – und der Stadt-Land Konflikt sind zentrale Faktoren bei der Analyse direktdemokratischer Abstimmungen. Über ihre Interaktion ist jedoch bisher nur wenig bekannt. Wo liegt denn nun der Röstigraben? Zwischen den Städten oder zwischen den Dörfern? Und welche weiteren Faktoren beeinflussen seine genaue Ausprägung?

 

Am 9. Februar 2014 nahm das Schweizer Stimmvolk die umstrittene Masseneinwanderungsinitiative mit 50.3 Prozent Jastimmen-Anteil knapp an. Die nachträglichen geografischen Analysen dieses überraschenden Ergebnisses zeichneten wieder einmal ein Bild, das den meisten Schweizern wohlbekannt ist: Die Westschweiz in Rot und der Osten, bis auf einige rote Inseln – Basel-Stadt, Zug und Zürich – in Grün. Der als Röstigraben bekannte systematische Unterschied zwischen dem Stimmverhalten der französischsprachigen Schweiz und der deutschsprachigen Schweiz bleibt nach wie vor einer der wichtigsten Faktoren in der Schweizer Abstimmungsforschung. Trotz seiner anhaltenden Relevanz beschäftigen sich jedoch bisher nur relativ wenige Arbeiten im Detail mit dem Röstigraben und seiner Entwicklung. Insbesondere über die Interaktion zwischen dem Röstigraben und einem weiteren zentralen Faktor in der Schweizer Abstimmungsforschung – der Konfliktlinie zwischen Stadt und Land oder auch Zentrum und Peripherie – ist bisher wenig bekannt. Dieser Beitrag soll daher den Werdegang des Röstigrabens während der letzten Jahrzehnte unter die Lupe nehmen und dabei vor allem der Frage nachgehen, welchen Einfluss der Gemeindetyp auf die Ausprägung der Differenz zwischen Deutsch- und Welsch-Schweiz hat.

 

Die Analyse der Abstimmungsergebnisse auf Gemeindeebene vom Juni 1981 bis zum Februar 2014 zeigt: Der Röstigraben hat sich insgesamt betrachtet über die letzten 33 Jahre kaum verändert.

Grafik Zeit

Die gestrichelten Linien zeigen den linearen Zusammenhang zwischen Zeit in Jahren und absoluten Differenzen in Stimmenprozent-Punkten zwischen Welschschweiz und Deutschschweiz. Die durchgezogenen Linien zeigen den Verlauf der jährlichen Durchschnitte und die Punkte repräsentieren einzelne Abstimmungen.

 

Durchschnittlich unterscheidet sich das Abstimmungsverhalten der Welschen um etwa 10 Prozentpunkte von demjenigen, der Deutschschweizer. Dieser Wert hat sich über die letzten 30 Jahre auch kaum geändert, seine Zusammensetzung jedoch durchaus. Während deutschsprachige und französischsprachige Städte sich in ihrem Abstimmungsverhalten ähnlicher geworden sind, öffnet sich der Röstigraben zwischen ländlichen Gebieten immer weiter. Die bereits 1981 ersichtliche Tendenz dazu, dass der Röstigraben an Bedeutung verliert, je städtischer die beobachteten Gemeinden sind, hat sich damit während den letzten Jahrzehnten weiter verschärft.

 

Wie gross der Unterschied zwischen Welschschweiz und Deutschschweiz ausfällt, variiert je nach Abstimmungsvorlage stark. Die Differenzen während der beobachteten Periode schwankten von praktisch null bis zu rund 33% Stimmenprozent. Ein wichtiger Grund für diese enorme Varianz liegt in dem Einfluss des Abstimmungsthemas auf den Röstigraben.

 

Grafik Themen

Wie die obige Grafik zeigt, variiert die durchschnittliche Grösse des Röstigrabens abhängig davon, welche Themabereiche die jeweiligen Vorlagen behandeln. Der Graben zwischen französischsprachiger Schweiz und Deutschschweiz sind besonders markant, bei Abstimmungen zur Stärke des Sozialstaats, zum Schutze der Umwelt oder restriktiven, migrationspolitischen Massnahmen. Unterdurchschnittlich grosse Differenzen treten hingegen bei Abstimmungen zu restriktiver Finanzpolitik sowie Armee und Polizei auf.

 

Besonders interessant sind hier die Auswirkungen der Interaktion zwischen Gemeindetyp und Abstimmungsthema: Wir sehen wiederum, dass der Röstigraben zwischen ländlichen Gemeinden tendenziell stärker ausgeprägt ist, als zwischen städtischen Zentren. Wie gross dieser Unterschied ist, hängt jedoch enorm vom Thema der Abstimmung ab. Dies zeigt sich insbesondere bei den üblicherweise stark polarisierenden Themengebieten aussenpolitische Öffnung, Migrationspolitik und Sozialstaat. So ist die Differenz zwischen welschen und Deutschschweizer Gemeinden in der Peripherie bei Abstimmungen zu aussenpolitischer Öffnung rund sieben Prozentpunkte grösser als diejenige, zwischen den Kernstädten der beiden Sprachregionen. Bei Abstimmungen zum Schutze der Umwelt oder zu restriktiver Finanzpolitik indes, beträgt dieselbe Differenz nur ungefähr einen Prozentpunkt.

 

Diese Funde eröffnen eine neue Perspektive, um bisherige Erkenntnisse der Schweizer Abstimmungsforschung zum Röstigraben zu beurteilen. Die Relevanz des Abstimmungsthemas ist in diesem Zusammenhang bereits wohlbekannt (Hermann 2006). Eine simple Betrachtung der durchschnittlichen Abstimmungsergebnisse in beiden Sprachregionen würde jedoch etwa zum Schluss kommen, dass der Röstigraben bei den Themenfeldern aussenpolitische Öffnung, gesellschaftliche Liberalisierung und wirtschaftliche Liberalisierung ähnlich ausgeprägt ist und ungefähr dem themenübergreifenden Durchschnitt entspricht. Tatsächlich öffnet sich jedoch bei Abstimmungen zur aussenpolitischen Öffnung ein signifikanter Graben zwischen ländlichen Gemeinden der beiden Sprachregionen. Dieser wird allerdings dadurch kompensiert, dass der Röstigraben zwischen den städtischen Zentren bei solchen Abstimmungsfragen aussergewöhnlich klein ist. Dadurch wird deutlich, dass die Abstimmungsanalyse die Konfliktlinien zwischen Stadt und Land und zwischen Sprachregionen nicht nur für sich, sondern auch in ihren Interaktionen mit einander und mit anderen relevanten Faktoren berücksichtigen muss.

 

Ein weiterer Faktor, der sich auf den Röstigraben auswirkt, sind die politischen Parteien und ihre Abstimmungsparolen. Laut Hanspeter Kriesi (2006: 599) sind die Positionen der politischen Elite und ihre Bündniskoalitionen im Vorfeld von direktdemokratischen Abstimmungen einer der wichtigsten Faktoren, die das Ergebnis derselben bestimmen. Analog zu Kriesi unterteilen wir die untersuchten Abstimmungen also anhand der Abstimmungsparolen der wichtigsten Parteien in sechs Gruppen: Grosse Koalitionen bezeichnen Fälle, in denen sich die Bundesratsparteien einig waren. Dabei gab es entweder keine Opposition, Opposition durch radikal rechte Parteien oder Opposition durch radikal linke Parteien. Weiter unterscheiden wir Zentrum-Rechts und Zentrum-Links Koalitionen, bei denen jeweils die SP respektive eine der bürgerlichen Parteien, meist die SVP, von der Position der restlichen Bundesratsparteien abweicht. Schliesslich haben wir noch den Fall einer gespaltenen Koalition, wobei jeweils zwei Bundesratsparteien dieselben Parolen vertreten.

grafik Koalitionen

Wenig überraschend ist, dass sich im Falle kompletter Einigkeit unter den politischen Parteien auch die Sprachregionen üblicherweise relativ einig zu sein scheinen. Tendenziell scheint der Röstigraben grösser zu werden, je stärker die Abstimmungsvorlage unter den Parteien polarisiert hat. Opposition der Regierungsparteien durch die radikale Rechte führt zu einer stärkeren Ausprägung des Röstigrabens als Opposition durch radikal linke Parteien. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die radikal rechten Parteien gerade zu Beginn der untersuchten Periode noch deutlich besser in der Lage waren, Stimmen zu mobilisieren als die radikale Linke, sich diese Mobilisationsfähigkeit jedoch relativ stark auf die Deutschschweiz konzentrierte.

 

Interessant ist, dass der Gemeindetyp einzig im Falle der Zentrum-Links Koalition eine markante Rolle spielt. Dies lässt schliessen, dass die SVP insbesondere in den ländlichen Deutschschweizer Gemeinden in der Lage ist, Stimmen zu mobilisieren, während die ländlichen Gemeinden in der Westschweiz weniger stark den Parolen einer durch die SVP angeführte Opposition gegen die Regierungsparteien Folge leisten.

 

Autor: Dominik Braunschweiger / dominik.braunschweiger@uzh.ch / 09-105-933 / Abgabedatum 7.12.2014

Blog: Im Rahmen des Forschungsseminars Policy Analyse: Politischer Datenjournalismus

Dozenten: Dr. Sarah Bütikofer, Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann und Dr. des. Bruno Wüest

Daten: Vollerhebung Abstimmungsergebnisse Schweizer Gemeinden, VoxIt, Abstimmungsthemen Rating nach Michael Hermann (aus der Vorlesung: Forschungsseminar Policy-Analyse: Politischer Datenjournalismus),  Integraler Datensatz Swissvotes.

 

Wörter: 908

 

Literaturverzeichnis

 Kriesi, Hanspeter. 2006. Role of The Political Elite in Swiss Direct-Democratic Votes. Party Politics 2006(12): 599-622.

Hermann, Michael. 2006. Werte, Wandel und Raum – Theoretische Grundlagen und empirische Evidenzen zum Wandel regionaler Mentalitäten in der Schweiz. Dissertation an der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.

 

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