Twitter vs. Realwelt: Wo erzeugen welche Volksinitiativen die meiste Resonanz?

Aufmerksamkeit ist Voraussetzung, ist Antrieb, ist Währung politischen Erfolges. Ohne sie geht kaum etwas, das belegt auch die Forschung. Ist das neue soziale Medium Twitter in dieser Hinsicht bloss Abbild der offline-Welt oder setzt es eigene Akzente? Und welche Unterschiede offenbaren sich in der Bewertung der Abstimmungsvorlagen zwischen Presse und Parlament?

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Verschiedene Forschungsarbeiten aus der Politik- und Kommunikationswissenschaft legen nahe1, dass Wahl- wie Abstimmungserfolge stark von der Medienresonanz der jeweiligen Akteure bzw. deren Kernthemen abhängen. Dabei ist mitunter nachrangig, in welche Richtung die Reaktionen des Publikums laufen. Hauptsache, es entsteht genügend Aufruhr, um die eigene Anhängerschaft kräftig wachzurütteln – und damit für einen anstehenden Urnengang zu mobilisieren.

Klassischerweise werden dabei die althergebrachten Printmedien untersucht, wie dies beim sogenannten Abstimmungsmonitor des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich der Fall ist. Seit Anfang 2013 und damit zum mittlerweile elften Male haben die beteiligten Medienwissen­schaftler Resonanz und Tonalität aller Vorlagen eines Abstimmungstermines in den vorangegangenen Wochen anhand von Zei­tungsartikeln der grössten Schweizer Printmedien erfasst und analysiert (vgl. Info zu den Metho­den am Schluss dieses Beitrags).

Ausgehend von diesen Daten sollen im Folgenden Vergleiche gezogen werden mit eigenen Erhebungen und Auswertungen von Politiker-Tweets und Parlamentsreden in National- und Ständerat. So lässt sich etwa der Frage nachgehen, ob die Aufmerksamkeit der politischen Elite mit derjenigen der Presse zusammenhängt oder ob Parlament und Journalismus gemeinsam Schlagseite haben, wenn es um die inhaltliche Bewertung der Volksbegehren geht.

Wenn das Gezwitscher einmal los geht, dann aber richtig

Heute ist evident: Twitter macht auch vor der Schweizer Politszene nicht halt. Gemäss einem einschlägigen Datensatz2 der Universi­tät Zürich zählt der kürzlich 10-jährig gewordene Kurznachrichtendienst inzwischen über 2’000 Twitter-Konten von Schweizer Politikern und Parteisoldaten. Mehr als die Hälfte aller Bundesparlamentarier nutzt den Dienst – bei ei­nem Durchschnittsalter von 50 (Nationalrat) respektive 55 Jahren (Ständerat) durchaus keine Selbstverständ­lichkeit.

Ein Vergleich zwischen den von diesen 2’000 Twitter-Konten abgesetzten Tweets, den gemäss des fög-Abstimmungsmonitors ermittelten Printbeiträgen sowie den zugehörigen Parlamentsreden zu allen Volksinitiativen der letzten drei Jahre gestaltet sich wie folgt:


 

Was als erstes auffällt, sind die vergleichsweise starken Ausschläge bei den abgesetzten Tweets. Die Aufmerksamkeit von Parlament und Printmedien fällt nicht annähernd so selektiv aus. Bekanntlich sind die politischen Kräfte nicht ausgewogen auf Twitter vertreten, sondern das Gezwitscher grosso modo eher links-schief. Dies spiegelt sich auch in der Tweetzahl zu den einzelnen Initiativen wieder: So findet zwar die Masseneinwanderungsinitiative in den Printmedien mehr Resonanz als die 1:12-Initiative, doch auf Twitter ist es genau umgekehrt. Verschiedene andere Vorlagen von Rechts – wie die Volkswahl des Bundesrates, die Streichung der Abtreibungsfinanzierung durch die Grundversicherung oder die Goldinitative – finden auf Twitter nur wenig Beachtung, während etwa die Mindestlohn-, die Erbschaftssteuer- oder die Initiative für eine Energie- statt Mehrwertsteuer im Verhältnis zur Printmedienberichterstattung ausserordentlich viel Interesse wecken. Unangefochtene Spitzenreiter in der Tweetzahl sind indes die beiden jüngsten migrationspolitischen Vorlagen: Die Ecopop- und die Durchsetzungsinitiative.

Die Beschäftigung der Parlamentarier mit direktdemokratischen Anliegen hingegen unterliegt nur relativ geringen Schwankungen und korreliert kaum mit den beiden Medienformaten. Im Gegenteil werden die „Popstars“ der Initiativen – diejenigen, die medial die höchsten Wellen schlagen – nach relativ kurzer Debatte abgewunken. So geschehen bei der 1:12-, der Ecopop- oder der Durchsetzungsinitiative. Die Abzockerinitiative scheint dabei die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Demgegenüber wird bei näherer Betrachtung eine gewisse Korrelation zwischen Twitter und Printjournalismus erkennbar. Die Berechnung eines Pearson-Korrelationskoeffizienten bestätigt die Vermutung: Zwischen der altehrwürdigen Offline-Presse und dem Kurznachrichten-Gezwitscher besteht ein relativ starker, statistisch signifikanter Zusammenhang (0.77)3.

Dieser wird in folgendem Diagramm verdeutlicht (mit der Maus über die Kreise fahren für nähere Angaben über die einzelnen Vorlagen):


 

Zwar ist die Fallzahl gering und insbesondere im oberen Bereich ist die Datenlage dünn, aber trotzdem lässt sich festhalten, dass die beiden Medienformate klar zusammenhängen. Allfällige Ursache-Wirkungs-Beziehungen bleiben freilich ungeklärt – es scheint aber wahrscheinlich, dass eher die Realwelt tonangebend ist und die digitale Sphäre ihr folgt.

Zeitungen und Parlament beurteilen die Vorlagen ähnlich

Leider ist es nicht ohne Weiteres möglich, die Tweets hinsichtlich der Tonalität gegenüber den Vorlagen einzuordnen. Doch immerhin mit den Parlamentsreden ist ein solches Unterfangen realisierbar. Konkret wurde bei denjenigen Parlamentariern, welche eine Rede zu einer untersuchten Vorlage hielten, ermittelt, wie sie bei der Schlussabstimmung zu ebendiesem Geschäft gestimmt haben. Auf diese Weise lässt sich mit relativ hoher Sicherheit bestimmen, ob eine Rede pro oder contra den Forderungen der jeweiligen Vorlage ausfiel.

Wie sich zeigt, besteht ein positiver Zusammenhang4 zwischen der auf diese Weise ermittelten Tonalität der Parlamentsreden und derjenigen der Printbeiträge. Für die Volksinitiativen wird dieser anhand der folgenden Grafik ersichtlich:


 

Werden nun statt bloss der Volksinitiativen 「I」 alle vom fög-Abstimmungsmonitor erfassten Vorlagen in die Analyse aufgenommen – d. h. auch die direkten Gegenvorschläge 「D」 sowie obligatorischen 「O」 und fakultativen Referenden 「F」 – so erhöht sich die Korrelation nochmals erheblich5:


 

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das Twitter-Forum keineswegs in luftleerem Raum bewegt und das politische Gezwitscher denselben Abstimmungsvorlagen die grösste Aufmerksamkeit schenkt wie die professionelle Presse. Dagegen scheinen im tagenden Parlament ganz klar andere Kriterien zu gelten für eine lebendige Debatte. So lässt sich denn auch keine eindeutige Antwort geben auf die Frage, ob die Volksinitiativen in der gemeinen Öffentlichkeit jeweils ähnlich salient sind wie unter der politischen Elite. Sie sind es nicht, betrachtet man die stark formalisierten Reden im Parlament. Sie sind es doch, betrachtet man hingegen den eher informellen Kommunikationsfluss auf Twitter – auch wenn ausschliesslich National- und Ständeräte berücksichtigt werden. Denn die Korrelation zwischen allen Politiker-Tweets und der Untermenge der Bundesparlamentarier ist nahezu perfekt6.

Ferner erstaunt das Ausmass der Gleichartigkeit in der Bewertung direktdemokratischer Vorlagen überaus. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament scheinen sich im Printjournalismus regelrecht zu reproduzieren. Dass Parlament und Printmedien unter dem Strich eine derart hohe Ähnlichkeit in der Tonalität aufweisen, scheint schon fast ein wenig suspekt. Doch die im Rahmen dieses Beitrags ermittelten Daten zeigen in eine eindeutige Richtung – was natürlich förmlich nach weitergehenden Untersuchungen in dieser Hinsicht ruft.

Als kleines Amüsement zum Schluss noch eine etwas ungewohnte, dafür äusserst kompakte Grafik, welche alle relevanten Informationen dieses Blogeintrages in drei Dimensionen vereint. Einfach so. Weil’s möglich ist. Weil’s irgendwie gut ausschaut. Punkt.


 

1 Vgl. etwa:

Boomgaarden, Hajo G.; Vliegenthart, Rens (2007): Explaining the Rise of Antiimmigrant Parties: The Role of News Media Content. In: Electoral Studies, Jg. 26, H. 2, S. 404–417.

Mazzoleni, Gianpietro (2008): Populism and the Media. In: Albertazzi, Daniele; McDonnell, Duncan (Hg.): Twenty-First Century Populism. The Spectre of Western European Democracy. Basingstoke: Palgrave, S. 49–64.

Udris, Linards: Imhof, Kurt (2011): Conflict, the Media and the Far Right. Theoretical Foundations and Empirical Evidence from the Case of Switzerland. In: Virchow, Fabian (Hg.): Media an the Far Right in Contemporary Europe –Theoretical Considerations and Case Studies, Brüssel.

Walgrave, Stefaan; Swert, Knut de (2007): Where Does Issue Ownership Come From? From the Party or from the Media? Issue-party Identifications in Belgium, 1991–2005. In: The Harvard International Journal of Press/Politics, Jg. 12, H. 1, S. 37–67.

2 Der Datensatz stammt von Bruno Wüest, Oberassistent an der Universität Zürich, und diente auch als Grundlage für diese Arbeit.

3 Das 95 %-Konfidenzintervall verläuft dabei von 0.51 bis 0.90.

4 Der entsprechende Pearson-Korrelationskoeffizient beträgt 0.51. Das 95 %-Konfidenzintervall verläuft dabei von 0.10 bis 0.77.

5 Der entsprechende Pearson-Korrelationskoeffizient beträgt 0.75. Das 95 %-Konfidenzintervall verläuft dabei von 0.55 bis 0.87.

6 Der entsprechende Pearson-Korrelationskoeffizient beträgt 0.98. Das 95 %-Konfidenzintervall verläuft dabei von 0.95 bis 0.99.


Methoden

Twitter:
Es wurden für die vorliegende Analyse alle öffentlich zugänglichen Tweets der rund 2’000 Twitter-Konten aus dem Schweizerpolitik-Datensatz von Bruno Wüest untersucht. Dabei konnten allerdings aufgrund einer von Twitter auferlegten API-Beschränkung pro Konto jeweils nur die 3’200 neuesten Tweets in die Analyse aufgenommen werden (Twitter unterbindet schlicht den Abruf älterer Tweets). Es haben aber nur 142 aller untersuchten Twitter-Konten mehr als 3’200 Tweets abgesetzt und sind damit von dieser Limite betroffen. Von diesen 142 Konten wiederum fallen die unberücksichtigten Tweets nur bei 96 Konten überhaupt in einen der Untersuchungszeiträume (d. h. nach dem 12. Dezember 2012 getweetet). Unter dem Strich fällt die Abdeckung also sehr hoch aus.
Als Untersu­chungszeiträume dienten exakt dieselben wie beim fög-Abstimmungsmonitor (meist knapp 3 Monate bis 1 Woche vor der Abstimmung). Von den insgesamt 1,2 Mio Tweets fallen damit je nach Abstimmung zwischen 30’000 und 100’000 Tweets in den jeweiligen Untersuchungszeitraum.
Für die Zuordnung der Tweets zu den einzelnen Vorlagen wurde ausschliesslich die deutsche Sprache berücksichtigt, d. h. französische, italienische, englische oder gar rätoromanische Tweets fanden höchsten als „Beifang“ Eingang in die Analyse. Die Tweets wurden für jede Vorlage mittels regulärer Ausdrücke durchsucht (sozusagen eine thematische Suche statt bloss eine nach dem Titel o. ä. Ein Beispiel: Im Falle der Durchsetzungsinitiative etwa wur­den die Tweets nicht bloss nach den gebräuchlichen Hashtags und dem Titel der Initiative sowie gängigen Abwandlungen davon (wie „Entrechtungs-“ oder „Verschär­fungsinitiative“) durchforstet, sondern auch nach Wortfolgen wie „kriminelle(r) Ausländer“ oder dem gemeinsamen Auftreten von Wörtern wie „Automatismus“ zusammen mit „#ASI“ (Hashtag für die Ausschaffungsinitiative) oder „Initiative“, „Vorlage“, „Abstimmung“ etc. Besonderes Augenmerk wurde auf die Vermeidung von falschpositiven Treffern gelegt. Kurz gesagt, es steckt enorm viel Handarbeit in der Formulierung der regulären Ausdrücke, welche sich bei Interesse alle im verlinkten R-Code weiter unten finden).

Parlamentsreden:
Für die Parlamentsreden wurde die Tonalität analog zum fög-Abstimmungsmonitor berechnet, d. h. nach folgender Formel:
(Anzahl Reden Pro – Anzahl Reden Contra) / Gesamtzahl Reden * 100
Berücksichtigt zur Ermittlung der Tonalität wurden nur diejenigen RednerInnen, welche zum ent­sprechenden Geschäft auch ein eindeutiges Abstimmungsverhalten aufwiesen, d. h. bei der jewei­ligen Schlussabstimmung mit Ja oder Nein gestimmt haben. Dies trifft im Schnitt doch immerhin auf mehr als 2/3 Drittel der RednerInnen zu – wobei berücksichtigt werden muss, dass ein Teil der RednerInnen sowieso keine stimmberechtigten ParlamentarierInnen sind, sondern Bundesräte etc.

Printmedien:
Die Daten zu den Printmedien (Anzahl und durchschnittliche Tonalität der Beiträge) stammen vollumfänglich vom fög. Wie eingangs erwähnt, wird dort seit Anfang 2013 systematisch erhoben, wie in ver­schiedenen Schweizer Tages- und Wochenzeitungen über die Abstimmungsvorlagen berichtet wird. Das Sample an Zeitungen wurde 2014 deutlich ausgebaut und umfasst mittlerweile die 22 reichweitenstärksten Titel. Zum letzten Abstimmungstermin vom 28. Februar 2016 etwa wurden insgesamt 1’128 Artikel ausgewertet.


Autor: Salim Brüggemann, 08-915-126, salim@posteo.ch
Blogeintrag im Rahmen des Forschungsseminars Politischer Datenjournalismus der Universität Zürich
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann, Dr. des. Bruno Wüest, Dr. Sarah Bütikofer
Abgabedatum: 17. April 2016
Anzahl Worte (exkl. Lead): 954 + 637 (Fussnoten und Methoden-Hinweise)

Datenquellen: Bruno Wüest | Twitter | Schweizer Parlament | fög
Datensätze: Data_Abstimmungsmonitor.csv | data_bruno.Rda | twitter_scrape_job.Rda
R-Quellcode: TwitterScrapeJob.R (GitHub Gist) | TwitterParlPrint.R (GitHub Gist)

Bild: Eigene Darstellung

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