Corona und Bewegungsbeschränkungen: Nicht nur die Verschwörungstheoretiker haben die Massnahmen abgelehnt

Beschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit wegen der Coronapandemie sind seit Längerem unbeliebt. Eine Analyse zeigt aber: Es gibt zeitliche Unterschiede, von wem und wieso diese am ehesten abgelehnt werden – mit interessanten Erkenntnissen.

Mit dem Beginn der Coronapandemie sind Beschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit Teil der Normalität geworden – würde man denken. Umfragedaten der Forschungsstelle Sotomo zeigen aber: Bereits kurz nach Beginn der Pandemie gab es einen dramatischen Anstieg in der Ablehnungsrate dieser Massnahmen – von ursprünglich 4% im März auf rund 23% im Mai letzten Jahres.

Während sich bis Mai ein rapider Anstieg der Personen zeigt, die bewegungseinschränkende Massnahmen ablehnen, blieb die Rate von Mai bis November relativ konstant. Doch waren die Demographie und die Gründe der Massnahmengegner*innen in diesem Zeitraum auch dieselben – und wie lassen sich allfällige Muster und Veränderungen erklären?

Massnahmen zur Beschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit
Personen, denen die Massnahmen zu weit gehen in %
Entwicklung 23. März – 2. November

Daten: Forschungsstelle Sotomo (Corona-Monitor 2020).
Grafik: Gina Messerli

Demographie der Ablehner*innen: gab es zeitliche Unterschiede?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde basierend auf den Daten von Sotomo als erstes ein Modell mit dem Einfluss der politischen Einstellung, des Geschlechts, des Alters und des Bildungsgrads auf die Ablehnung der Bewegungsmassnahmen geschätzt. Beim Blick auf die Faktoren politische Einstellung und Geschlecht sticht heraus: Männer und politisch rechts eingestellte Personen hatten im Mai und Juni eine signifikant höhere Chance gegen die Bewegungsmassnahmen zu sein als Frauen und politisch links eingestellte Menschen. Im November verschwinden allerdings jegliche statistisch bedeutsamen Unterschiede.

Relative Chance zur Ablehnung der Bewegungsmassnahmen: Geschlecht und Parteiaffinität
Entwicklung 5. Mai – 2. November

Daten: Forschungsstelle Sotomo (Corona-Monitor 2020).
Grafik: Gina Messerli

Bei der Bildung lassen sich dagegen nur im Mai signifikante Unterschiede feststellen: Hier hatten Personen mit einem Hochschul- bzw. einem Mittelschulabschluss oder einer Berufsausbildung noch eine rund eineinhalb mal so hohe Chance wie Personen ohne Ausbildung sich gegen die Bewegungsmassnahmen auszusprechen. Überraschungen zeigen sich möglicherweise beim Alter: So scheinen 18-30-Jährige über keinen der Erhebungszeitpunkte eine höhere Chance zur Massnahmenablehnung als 31-64-Jährige zu haben.

Relative Chance zur Ablehnung der Bewegungsmassnahmen: Alter und Bildung
Entwicklung 5. Mai – 2. November

Daten: Forschungsstelle Sotomo (Corona-Monitor 2020).
Grafik: Gina Messerli

Zwischenfazit: Demographie der Ablehner*innen wird über die Zeit immer heterogener – aber wieso?

Die bisherige Analyse zeigt, dass die Masse, die sich gegen bewegungseinschränkende Massnahmen stellt, über die Zeit demographisch immer vielfältiger geworden ist. Waren es im Mai zunächst Männer, politisch rechts gesinnte oder gut gebildete Menschen, die die Massnahmen eher ablehnten, lassen sich im November keine solchen demographischen Unterschiede bei den Ablehner*innen mehr ausmachen. Es stellt sich die Frage, wie sich diese Entwicklung erklären lassen könnte.

Einer kürzlich veröffentlichten soziologischen Studie der Universität Basel zufolge sind es überproportional viele gut gebildete und rechts gesinnte Personen mittleren Alters, die Coronamassnahmen wie das Tragen von Schutzmasken oder das Einhalten von Abständen ablehnen. Diese zeichnen sich durch einen starken Hang zu Verschwörungstheorien und ein tiefes Vertrauen in politische Institutionen aus (Nachtwey et al. 2020: 51-53). Die starken Parallelen zu den gefundenen demographischen Mustern im Mai legen den Schluss nahe, dass in dieser Zeit Verschwörungstheorien eine grosse Rolle bei der Ablehnung gespielt haben könnten. Dass sich in der Gruppe der Ablehner*innen dabei eher Männer als Frauen finden, dafür hat die deutsche Historikerin Hedwig Richter eine mögliche Erklärung. Ihr zufolge können Männer schlechter mit Unsicherheiten und Unklarheiten umgehen als Frauen. Sie neigen daher eher zu extremen Positionen oder Verschwörungstheorien und somit in diesem Fall wohl eher zur Ablehnung der Massnahmen.

Die im Kontrast zum Mai und Juni fehlenden demographischen Unterschiede bei der Ablehner*innen lassen zwei mögliche Schlüsse zu: Erstens könnte ein immer grösser werdender Teil der Schweizer Bevölkerung angefangen haben, an Verschwörungstheorien zu glauben oder den politischen Institutionen zu misstrauen. Zweitens könnte zum Beispiel wachsender Unmut über die sozialen Einschränkungen zu einer Ausbreitung der ablehnenden Haltung geführt haben.

Fehlendes Vertrauen, Eingeschränktheit, Freiheitsverlust: die dominierenden Faktoren bei der Ablehnung

Um diese These zu prüfen, wurde ein zweites Modell mit möglichen psycho-sozialen Faktoren für die Ablehnung geschätzt. Auffällig ist zunächst: Es sind über alle drei Erhebungszeitpunkte die gleichen Faktoren, die zu einer höheren Chance der Ablehnung führen – nämlich ein tiefes Vertrauen in den Bundesrat zur Bewältigung der Coronakrise, die Sorge um persönlichen Freiheitsverlust und ein subjektives Gefühl der Eingeschränktheit durch die zu dem Zeitpunkt geltenden Coronamassnahmen. Sorgen um eine soziale Isolation oder ein schlechtes Zurechtkommen mit der Krise haben hingegen entweder keinen oder einen untergeordneten Effekt.

Relative Chance zur Ablehnung der Bewegungsmassnahmen: Psycho-soziale Faktoren
Entwicklung 5. Mai – 2. November

Daten: Forschungsstelle Sotomo (Corona-Monitor 2020).
Grafik: Gina Messerli

Gleichzeitig ist ein zeitlicher Wandel der Stärke dieser Faktoren sichtbar: So hatten im Mai Personen mit tiefem Vertrauen, einem Gefühl der Eingeschränktheit durch die Massnahmen oder Sorgen vor persönlichem Freiheitsverlust alle eine rund 3-fach so hohe Chance, gegen die Massnahmen zu sein, wie Personen mit hohem Vertrauen oder ohne diese Gefühle und Sorgen. Im Juni war die relative Chance gegen die Massnahmen zu sein bei leicht höheren Werten für die Faktoren Angst vor Freiheitsverlust und subjektive Eingeschränktheit bei Personen ohne Vertrauen dann mehr als 8-mal höher als bei Personen mit Vertrauen.

Im November kehrt sich das Bild interessanterweise genau um: Hier zeigen sich die höchsten Werte für Sorgen um persönlichen Freiheitsverlust und ein Gefühl der Eingeschränktheit durch die Massnahmen.

Fazit: Zeitliche Veränderungen bei den Ablehner*innen – mit interessante Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse des zweiten Modells legen nahe, dass die zusehends fehlenden demographischen Unterschiede bei den Ablehner*innen der Bewegungsmassnahmen zwei Gründe haben: einerseits ein sich ausbreitendes Misstrauen der Bevölkerung in den Bundesrat, andererseits aber auch wachsenden Unmut über die zu ertragenden Massnahmen. Während im Juni dabei das fehlende Vertrauen dominierte, waren es im November Sorgen um Freiheitsverlust und das Gefühl, durch die Massnahmen eingeschränkt zu sein. Unklar bleibt, ob im Mai tatsächlich Verschwörungstheorien oder ein fehlendes Vertrauen in die politischen Institutionen eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Zumindest scheint letzteres keinen grösseren Einfluss auf die Ablehnung der Massnahmen gehabt zu haben als die Unzufriedenheit über die Einschränkungen.

Auch wenn nicht alle Fragen abschliessend geklärt werden können, lassen sich zwei Dinge mit Sicherheit sagen: Erstens haben sich sowohl die Demographie als auch die Gründe der Ablehner*innen der Bewegungsmassnahmen über die Zeit gewandelt. Zweitens deuten die Ergebnisse darauf hin, dass wir auch in Zukunft eher eine Zunahme der Menschen erwarten können, die Bewegungseinschränkungen ablehnen.

Informationen zum Blogbeitrag

Titel des Blogbeitrags: Titel
Abgabedatum: 03.01.2021
Anzahl Worte: 998 (exkl. Titel, Lead, Literaturverzeichnis, Informationen zum Blogbeitrag)

Verfasst von: Gina Messerli
Matrikelnummer: 15-702-384
E-mail: gina.messerli@uzh.ch

Seminar: Politischer Datenjournalismus (HS 20)
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Bruno Wüest, Alexandra Kohler

Daten und Vorgehen

Die diesem Beitrag zugrundeliegenden Umfragedaten zu Corona stammen von der Forschungsstelle Sotomo und wurden über fünf Erhebungswellen im Zeitraum vom 23. März bis 02. November 2020 erhoben. Für die Analyse wurden zwei Modelle erstellt: Eines, das den Einfluss verschiedener demographischer Variablen und eines, das den Einfluss verschiedener psycho-sozialer Faktoren auf die Ablehnung der jeweils zu dem Zeitpunkt geltenden bewegungseinschränkenden Coronamassnahmen schätzt. Die in den Modellen enthaltenen Variablen wurden recodiert, indem verschiedene Antwortkategorien zusammengefasst wurden, um schliesslich eine einfachere Interpretation zu ermöglichen (siehe Code für weitere Details). Zudem wurden Auslandschweizer*innen und unter 18-Jährige vom Datensatz ausgeschlossen.

Für drei der insgesamt fünf Erhebungszeitpunkte wurden dann je die zwei Modelle mittels einer gewichteten, quasi-binominalen logistischen Regression mit Maximum Likelihood geschätzt und basierend hierauf die relativen Chancen ausgerechnet: Ein Assoziationsmass, das angibt, wie viel höher oder tiefer die Chance einer Person in einer bestimmten Kategorie ist, die Massnahmen abzulehnen, als einer Person, die sich in der sogenannten Vergleichskategorie befindet. Diese Chancenverhältnisse wurden schliesslich als Punkte mit dem dazugehörigen 95%-Konfidenzinterval als Whisker geplotted.

Validität

Generell ist die Validität der Analyse im Vergleich zu einer rein deskriptiven Analyse sicherlich als hoch einzuschätzen, zumal durch die Verwendung einer Regressionsanalyse zuverlässigere Aussagen getroffen werden können. So kann u.a. auf Effekte der in den Modellen enthaltenen Variablen kontrolliert werden. Durch die Gewichtung der Daten sollten zudem sampling biases ausgeglichen werden. Dennoch gibt es eine Reihe an Problemen:

– Durch die Verwendung von gewichteten Umfragedaten kann kein Bestimmtheitsmass wie Pseudo-R2 berechnet werden bzw. alternative Berechnungen sind recht umstritten. Entsprechend ist eine Einschätzung der Anpassungsgüte der Modelle nicht möglich. Aus diesem Grund lässt sich letztlich nicht sagen, in welchem Mass eine Ablehnung der bewegungseinschränkenden Massnahmen tatsächlich durch die untersuchten Faktoren erklärt werden kann.

– Für die fünfte Erhebungswelle gibt es beim Modell mit den demographischen Variablen lediglich 168 komplette Fälle (im Vergleich zu 5267 Fällen für die dritte bzw. 4899 Fällen für die vierte Welle). Da viele wünschenswerte Eigenschaften der hier für die Regressionen verwendeten Maximum Likelihood Schätzer nur asymptotisch gelten, ist ein gewisser Bias in den Schätzungen zu erwarten (der bei den anderen Wellen zumindest erheblich tiefer ausfallen wird). Tendenziell sollten durch dieses Problem aber eher schneller als weniger schnell signifikante Ergebnisse gefunden werden, weshalb dies meines Erachtens keinen Einfluss auf die Schlussfolgerunden der vorliegenden Analyse haben sollte.

– Die von den Befragten angegebene Meinung zu den bewegungseinschränkenden Massnahmen bezieht sich immer auf die zu diesem Zeitpunkt gerade geltenden Massnahmen. Man könnte also argumentieren, dass über die verschiedenen Wellen gar nicht dasselbe gemessen wird. Ich denke aber, dass dieses Problem minim ist, zumal in jedem Fall sicherlich eine ablehnende Haltung gegenüber bewegungseinschränkenden Massnahmen gemessen wird.

Literaturverzeichnis:

– Deutschlandfunk (2020): „Es betrifft eher Männer als Frauen“. (https://www.deutschlandfunk.de/verschwoerungstheorien-in-corona-zeiten-es-betrifft-eher.694.de.html?dram:article_id=476098 [Stand 29.12.2020]).

– Nachtwey Oliver, Schäfer Robert, Frei Nadine (2020): Politische Soziologie der Coronaproteste. SocArXiv 20 Dezember, 1-63.

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