Psychische Krankheiten bleiben stigmatisiert – trotz Corona

Psychische Krankheiten sind nach wie vor von Stigmata und Tabus geprägt. Hat die Pandemie daran etwas verändert? Eine Analyse der Berichterstattung in der Deutschschweiz.

Seit dem Beginn der Coronakrise haben vermehrt Menschen Begegnung mit psychischen Krankheiten gemacht. Das hat nicht nur bei Betroffenen, sondern auch bei Expert:innen zu der hoffnungsvollen Vorhersage geführt, dass die Pandemie das Thema endlich enttabuisieren und entstigmatisieren wird. Doch stimmt das? Eine Analyse, wie im Coronajahr 2020 in Deutschschweizer Tages- und Sonntagszeitungen über psychische Krankheiten gesprochen wurde, zeigt: Die Antwort ist zumindest für die Deutschschweiz im besten Fall ein «Jein».

Es wird mehr über psychische Krankheiten gesprochen – aber weniger spezifisch

Ein Indikator dafür, wie tabuisiert ein Thema ist, ist die Häufigkeit, mit der darüber gesprochen wird. Die Analyse zeigt: Kurz vor der erneuten Verschärfung der Coronamassnahmen im Herbst ist der Anteil an Artikeln, in denen psychische Krankheiten erwähnt werden, stark gestiegen.

Das scheint auf den ersten Blick dafür zu sprechen, dass seit Beginn der zweiten Coronawelle das Thema psychische Erkrankungen mehr Aufmerksamkeit erfahren hat und ein Trend zur Enttabuisierung desselben sichtbar ist. Man sollte sich aber an dieser Stelle nicht zu früh freuen.

So hat zwar der Prozentsatz an Artikeln, in denen psychische Krankheiten erwähnt werden, seit Beginn der zweiten Welle stark zugenommen. Gleichzeitig ist aber die durchschnittliche Anzahl Erwähnungen von psychischen Krankheiten in diesen Artikeln sowohl während des Lockdowns als auch nach der erneuten Massnahmenverschärfung im Herbst jeweils eher leicht gesunken.

In den akuten Phasen der Coronakrise letztes Jahr wurde also zwar mehr, aber weniger spezifisch über psychische Krankheiten gesprochen. Es ist daher unklar, wie viel die Coronakrise tatsächlich zur Enttabuisierung des Themas beigetragen hat. Das bedeutet aber noch nicht unbedingt, dass sich keine Effekte auf die (Ent-)Stigmatisierung des Themas feststellen lassen.

Was Stigmata sind und wieso sie ein Problem darstellen

Unter einem Stigma wird normalerweise die „soziale Missbilligung von Individuen auf Grund von angenommenen oder tatsächlichen Charakteristika, Überzeugungen oder Verhalten, die gegen die Norm sind (…)“, verstanden (Lauber 2008: 11, Übers. G.M.). So werden Personen mit psychischen Krankheiten oft als gefährlich, merkwürdig, asozial oder auch faul wahrgenommen (Gottipati et al. 2021; McDaid; Dey et al. 2020). Eine mediale Berichterstattung ist insofern stigmatisierend, als sie diese Missbilligung weiter befeuert – durch die Wahl der Themen, in deren Zusammenhang über psychische Krankheiten gesprochen wird, und durch die Verwendung abwertender Begriffe wie „gestört“ oder „verrückt“.

Die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten ist deshalb wichtig, weil Stigmata sehr reale Konsequenzen für Betroffene haben, wie Roger Staub, Geschäftsleiter von Pro Mente Sana sagt: «Betroffene wenden auf Grund des Stigmas oft viel Zeit auf, um ihre Krankheit zu verbergen. Das kann zu einer Chronifizierung und zu schweren Verläufen der Erkrankung führen, die vermieden werden könnten».

Stigmatisierende Themenwahl: Ein starker Kontrast zwischen Sommer und Herbst

Aufschluss darüber, welche Themen in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen in den jeweiligen Pandemiephasen in den Medien besonders akut waren, gibt eine sogenannte Keyness-Analyse. Diese verdeutlicht, welche Worte – und damit indirekt welche Themen – in einer Phase im Vergleich zu den anderen drei Phasen besonders häufig in unmittelbarem Zusammenhang mit psychischen Krankheiten erwähnt wurden.

Auffällig ist hier, dass nach Aufhebung der Massnahmen im Sommer und vor der erneuten Verschärfung derselben u.a. Begriffe wie „forensischer“, „angeklagt“ oder „Staatsanwaltschaft“ charakteristisch für die Kontexte sind, in denen psychische Krankheiten erwähnt wurden. Hier scheint das Thema also besonders in Zusammenhang mit Verbrechen und Gerichtsurteilen und entsprechend stigmatisierend aufgegriffen worden zu sein.

In starkem Kontrast dazu zeichnete sich die Berichterstattung nach der Verschärfung der Massnahmen im Herbst durch einen Fokus auf Hilfsangebote und -plattformen wie Pro Juventute, die Dargebotene Hand oder dureschnufe.ch aus. Diese klare Dominanz von Hilfsangeboten in der Berichterstattung über psychische Erkrankungen scheint darauf hinzudeuten, dass das Thema nach der Verschärfung der Massnahmen eine gewisse Entstigmatisierung erfahren hat. So scheint hier über psychische Krankheiten nicht als Charakterschwächen oder Gefahr für andere Menschen, sondern tatäschlich als Krankheiten, für die man Hilfe erhalten kann, gesprochen worden zu sein.

(K)eine Entstigmatisierung?

Stigmatisierung zeigt sich, wie bereits angesprochen, nicht nur darin, welche Themen charakteristischerweise im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen behandelt werden, sondern auch, wie über diese Krankheiten gesprochen wird. Die untenstehende Grafik zeigt, wie viele Artikel in den jeweiligen Pandemiephasen in unmittelbarem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen stigmatisierende Worte wie „verrückt“, „durchdrehen“ oder „kriminell“ verwendet haben.

Es scheint, dass in den akuten Phasen der Pandemie generell weniger stigmatisierend über das Thema gesprochen wurde als in den weniger akuten Phasen. Auch eine Aufschlüsselung der verschiedenen Stigmata bestätigt diesen Eindruck. Es dominierte dabei in allen vier Phasen klarerweise die Darstellung dieser Menschen als „gefährlich“. Interessant ist zudem: Sowohl in Bezug auf die Gesamtzahl der Stigmata als auch unter Aufschlüsselung derselben scheint sich ein gewisser Abwärtstrend zu zeigen.

Wird über psychische Krankheiten spezifisch im Kontext der Coronakrise also weniger stigmatisierend gesprochen als über psychische Krankheiten allgemein? Kaum, meint Staub: «Die ‘Spinnerartikel’ gibt es weiterhin. Sie wurden während den akuten Phasen der Pandemie einfach vom Coronathema überdeckt. Das Grundrauschen an stigmatisierender Berichterstattung bleibt aber weiter bestehen». Wer zudem aus dem Trend nach unten in Sachen stigmatisierender Sprache Hoffnung geschöpft hat, der muss ebenfalls enttäuscht werden: «Wenn wir über Entstigmatisierung sprechen, müssen wir in Dekaden reden, nicht in Jahren. Ich glaube kaum, dass der Trend nachhaltig ist – sondern wohl eher ein Zufall», relativiert Staub.

Ein ernüchterndes Fazit

Das Fazit zu den Effekten der Coronapandemie auf die Enttabuisierung und Entstigmatisierung psychischer Krankheiten in der medialen Berichterstattung in der Deutschschweiz fällt ernüchternd aus. So scheint die Pandemie zwar auf den ersten Blick besonders nach der erneuten Massnahmenverschärfung im Herbst die Aufmerksamkeit um das Thema erhöht und Stigmata vermindert zu haben. Auf den zweiten Blick sind diese Effekte aber mit Vorsicht zu geniessen – und werden sich wohl kaum als nachhaltig erweisen.

Wie können psychische Krankheiten also effektiv entstigmatisiert werden? Für Staub ist die Sache klar: «Es braucht vor allem eine Dauerpräsenz des Themas im öffentlichen Raum – also eine langjährige und sehr sichtbare „Wie geht’s Dir?“-Kampagne, vergleichbar mit der STOP AIDS Kampagne».

Informationen zum Blogbeitrag:

Titel des Blogbeitrags: Psychische Krankheiten bleiben stigmatisiert – trotz Corona
Abgabedatum: 20.06.2021
Anzahl Worte: 955

Verfasst von: Gina Messerli
Matrikelnummer: 15-702-384
E-Mail: gina.messerli@uzh.ch

Seminar: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus (FS21)
Dozierende: Theresa Gessler, Bruno Wüest, Alexandra Kohler

Daten und Vorgehen:

Diesem Beitrag liegt ein Datensatz mit über 35’000 Artikeln ca. 20 deutschsprachiger Schweizer Zeitungen aus dem Jahr 2020 zugrunde, der vom Digital Democracy Lab für die vorliegende Analyse zur Verfügung gestellt wurde. Es wurden die beiden themenspezifischen Blätter «Der Landbote» und «Finanz und Wirtschaft» ausgeschlossen und lediglich Tages- und Sonntagszeitungen für die Analyse verwendet. Nach der Bereinigung der Daten wurden die Artikeltexte in einen Corpus überführt, alles kleingeschrieben und Satzzeichen und Zahlen entfernt. Der Corpus wurde dann absichtlich nicht gestemmt, d.h. die Worte auf ihre Stammformen zurückgeführt, weil dies im Kontext dieser Arbeit zu Problemen geführt hätten (z.B. wären die Ausdrücke „Psychos“ als abwertende Beschreibung von Personen mit psychischen Krankheiten und „Psychose“ als Beschreibung eines medizinischen Phänomens auf dieselbe Stammform zurückgeführt worden).

Für den Beitrag wurde erstens eine diktionär-basierte Textanalyse verwendet. Hierbei werden sogenannte Diktionäre erstellt, bei denen Themen durch gewisse Schlagworte repräsentiert werden. Mit einer Analyse der Häufigkeit dieser Schlagworte kann untersucht werden, wie salient ein Thema innerhalb eines gewählten Textausschnittes ist. Im Fall der vorliegenden Analyse wurden zwei Diktionäre erstellt: einer zum Thema psychische Krankheiten und einer zum Thema Stigma um psychische Krankheiten. Bei den psychischen Krankheiten wurden Ausdrücke wie «Angststörung», «psychische Krankheit» oder «schizophren» miteinbezogen. Die Ausdrücke «Depresssion» und «depressiv» wurden spezifisch ausgeschlossen, weil hier auch eine wirtschaftliche Depression gemeint sein kann und dies die Ergebnisse verzerrt hätte. Beim Thema Stigma wurden auf Basis einiger aktueller Forschungspapere (siehe Literaturverzeichnis) 9 negative, stereotypische Eigenschaften psychisch kranker Personen in entsprechende Schlagworte kodifiziert: Dummheit, Faulheit, Verrücktheit, Unzuverlässigkeit, Asozialität, Merkwürdigkeit, Überempfindlichkeit, Unmoralität und Gefährlichkeit.

Zweitens wurde eine Keyness-Analyse durchgeführt. Hierbei wird geschaut, welche Worte im Gegensatz zu einer Menge an Referenztexten statistisch überproportional oft gebraucht werden. Der Code für die gesamte Analyse kann hier runtergeladen werden. Hier findet sich die Selbstständigkeitserklärung für den Beitrag.

Validität:

Die Validität der Analyse kann als relativ hoch betrachtet werden, da für die Erstellung der Diktionäre Forschungspaper hinzugezogen und die Ergebnisse zudem mit einem Experten abgeglichen wurden. Zwei Dinge sind aber zu beachten: Erstens sollten die Diktionäre für eine wirklich sorgfältige Analyse validiert werden. Das konnte hier aus Zeitgründen nicht gemacht werden, was sicherlich die Qualität der Analyse noch erhöht hätte. Zweitens wurden primär deskriptive Analysen durchgeführt. Über eine allfällige statistische Signifikanz der Ergebnisse kann nur im Fall der Keyness-Analyse eine Aussage gemacht werden.

Literaturverzeichnis:

Dey, Michelle, Raquel Paz Castro, Anthony Francis Jorm, Laurent Marti, Michael Patrick Schaub, Andrew Mackinnon (2020): „Stigmatizing attitudes of Swiss youth towards peers with mental disorders“, PLoS ONE 15(7).

Lauber, Christoph (2008): “ Stigma and Discrimination against People with Mental Illness: a Critical Appraisal“, Epidemiologia e Psichiatria Sociale, 17(1), 10-13.

McDaid, Daniel (2008): „McDaid, D. (2008). Countering the stigmatisation and discrimination of people with mental health problems in Europe“

Gottipatti, Swapna, Mark Chong, Andrew Lim Wei Kiat, Benny Haryanto Kawidiredjo (2021): „Exploring Media Portrayals of People with Mental Disorders using NLP“, Proceedings of the 14th International Conference on Biomedical Engineering Systems and Technologies (BIOSTEC 2021) – Volume 5: HEALTHINF, 708-715.

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