Gesundheit oder Wirtschaft: Wie sich die Risikowahrnehmung der Politik in der Corona-Krise verschoben hat

Eine Auswertung von Tweets während der Corona-Krise zeigt, dass sich die Risikowahrnehmung mit dem Abflachen der ersten Pandemiewelle verschoben hat. Sorgen um die Wirtschaft wurden wichtiger, gesundheitliche Themen traten in den Hintergrund. Bei Politikerinnen und Politikern ist diese Verschiebung besonders deutlich zu sehen.

Das Coronavirus hält die Welt seit eineinhalb Jahren in Atem. Was als vermeintlich regionales Geschehen in der chinesischen Provinz Wuhan begann, beeinflusst auch heute noch das Leben von Milliarden Menschen. Das Virus hat weltweit zahlreiche Gesundheitssysteme an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gebracht. Die Wirtschaft hat während der Pandemie stark gelitten. Das hat zu hitzigen Diskussionen geführt. Selten war ein Thema in der öffentlichen Debatte derart dominant, wie die Coronapandemie und deren Auswirkungen in den vergangenen eineinhalb Jahren.

Diese Dominanz zeigt sich auch in den Sozialen Medien. Anhand von Tweets lässt sich rekonstruieren, welche Themengebiete die Öffentlichkeit in den unterschiedlichen Pandemiephasen besonders umgetrieben haben. Die Aufmerksamkeit für ein Thema hängt dabei eng mit der Risikowahrnehmung zusammen. Eine Analyse der Tweets kann also Aufschluss darüber geben, ob die vom Bundesrat getroffenen Massnahmen als wirksam wahrgenommen wurden. Schwindet die Aufmerksamkeit für ein Thema, kann das ein Hinweis darauf sein, dass die getroffenen Massnahmen das Problem effektiv bekämpft haben.

Corona-Debatte kocht vor dem ersten Lockdown hoch

Zu Beginn der Pandemie im März 2020 steigt der Anteil an Tweets zum Thema Corona rasant an. Kurz vor Ankündigung des ersten Lockdowns durch den Bundesrat am 20. März erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Das zeigt die Auswertung der Twitteraktivitäten von Politikerinnnen und Politikern, Medien und Personen, die mehreren Schweizer Nachrichtenportalen folgen. Diese erste Phase der Pandemie war von grossen Unsicherheiten geprägt. Die Einschätzungen über die Gefährlichkeit des Virus und die richtigen Massnahmen zu Bekämpfung der Pandemie gingen weit auseinander.

Während des Lockdowns sinkt die Zahl der Corona-bezogenen Tweets allmählich und stabilisert sich bis in die Lockerungsphase, bevor erneut ein Rückgang zu beobachten ist. Es scheint, als hätten die vom Bundesrat verhängten Lockdown-Massnahmen Mitte März und die Lockerung der Notmassnahmen auf den 11. Mai jeweils zu einer Beruhigung der Debatte beigetragen.

Gesundheitliche Risiken nur kurz im Fokus

Der Bundesrat hat am 20. März Ansammlungen von mehr als fünf Personen verboten. Läden, Restaurants, Clubs, Coiffeursalons und zahlreiche weitere Dienstleister mussten ihre Geschäfte schliessen, Events wurden abgesagt, viele Angestellte wechselten ins Home-Office. Spätestens mit diesen Massnahmen rückte die wirtschaftliche Bedrohung durch die Pandemie ins öffentliche Bewusstsein.

Die Daten aus der Twitter-Analyse zeigen, dass wirtschaftliche Risiken, wie die Angst um Arbeitsplätze, Konsequenzen für Unternehmen sowie volkswirtschaftliche Risiken kurz vor dem Lockdown an Aufmerksamkeit gewonnen haben. In dieser Phase lag der Fokus aber noch stark auf den gesundheitlichen Risiken. Die Sorge um die Risikogruppen und eine mögliche Überlastung der Spitäler und Pflegekräfte überwog. Angesichts der Bilder, welche die Schweiz damals aus der italienischen Stadt Bergamo erreichten, ist das nicht verwunderlich. Bastien Girod, Nationalrat der Grünen, forderte beispielsweise am 29. März im Hinblick auf die zunehmende Belastung des Pflegepersonals via Twitter:

CoronaKrise zeigt: Wir brauchen mehr ausgebildetes Spital- und Pflegepersonal. Dazu muss Weiterbildung ausgebaut werden. Angestellte in „Lockdown gefährdeten“ Branchen (Tourismus, Freizeit, Gastronomie) sollten Anreiz und Unterstützung für solche Zweitausbildung haben.

Mit den sinkenden Infektionszahlen im April verliert die Sorge um eine Überlastung des Gesundheitssystems jedoch rasch an Aufmerksamkeit. Andere Probleme wurden wichtiger.

Die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen blieb während des Lockdowns auf einem ähnlichen Niveau und intensivierte sich in der Lockerungsphase im Sommer. Dies obwohl der Bundesrat zu Beginn des Lockdowns zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie Massnahmenpakete in der Höhe von insgesamt 42 Milliarden Franken zur Verfügungen gestellt hat. Erst als der Bundesrat am 19. Juni weitgehende Öffnungen beschliesst, verliert dieses Thema an Dringlichkeit.

Politik macht sich Sorgen um die Wirtschaft

Betrachtet man nur die Tweets von Politikerinnen und Politikern der grossen Parteien zeigt sich ein etwas anderes Bild. Nach der Meldung über den ersten Coronainfizierten in der Schweiz am 25. Februar steigt die Aufmerksamkeit der Politik für wirtschaftliche Bedrohungen und gesundheitliche Risiken gleichermassen. Mit den vom Bundesrat beschlossenen Lockdown-Massnahmen sinkt jedoch die Aufmerksamkeit für gesundheitliche Themen während wirtschaftliche Themen zunehmend in den Fokus rücken. Über den Sommer trat die Diskussion über genügend Spitalbetten, überlastetetes Pflegepersonal und über Schutzmassnahmen für ältere oder chronisch kranke Personen vollends in den Hntergrund.

Die Diskussion um wirtschaftliche Themen wie beispielsweise Kompromisslösungen zwischen Mietern und Vermietern bei den Geschäftsmieten oder die Diskussion um die Kurzarbeitsentschädigung dominierten besonders Anfang Mai die politische Debatte auf Twitter. SP-Nationalrat und Co-Parteipräsident Cédric Wermuth schrieb am 5. Mai beispielsweise:

Stunde der Wahrheit: Nationalrat beginnt die Debatte über die Frage, ob man Coronakurzarbeit beantragen und gleichzeitig Dividenden ausschütten darf. Zur Erinnerung: Kurzarbeit ist im Moment keine Versicherung mehr, sondern jetzt im wesentlichen Steuergeld.

Mit den Lockerung eines Grossteils der Notmassnahmen am 11. Mai verlor die Sorge um die wirtschaftlichen Risiken etwas an Aufmerksamkeit, blieb aber für die Politik weiterhin wichtiger als die gesundheitlichen Risiken. Dies, obwohl Experten damals schon vor einer zweiten Pandemiewelle gewarnt haben.

Wirtschaftliche Risiken dominieren bei fast allen Parteien

Der Preis der Sorglosigkeit: Die zweite Welle trifft die Schweiz mit voller Wucht. Ab Anfang Oktober beginnen die Ansteckungszahlen zu steigen und erreichen Anfang November mit über 10’000 Neuansteckungen pro Tag ihren Höhepunkt. Wie schon zu Beginn der ersten Pandemiewelle wird über fehlende Kapazitäten in den Spitälern und überlastetes Pflegepersonal diskutiert. Viele Kommentatoren sind der Ansicht, dass die Politik im Sommer bessere Vorkehrungen für die zweite Welle hätte treffen müsssen.

Ein Blick auf die themenbezogenen Tweets von Exponenten der sechs grossen Parteien zeigt, dass nach den ersten Lockerungen die Diskussion über wirtschaftliche Risiken bei den meisten Parteien klar überwogen hat. Nur bei der GLP und der Partei „die Mitte“ ist das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesundheit ausgeglichen. Dieser einseitige Fokus auf wirtschaftliche Risiken im Sommer 2020 könnte ein Indiz dafür sein, dass viele Politikerinnen und Politiker das Risiko einer zweiten Welle nicht genügend ernst genommen haben.

Daten, Validität und Methoden

Daten und Methodik:
Grundlage für diesen Blogbeitrag bilden 85’829 Tweets von Politikern, Nachrichtenmedien und einer Untergruppe von Twitter-Benutzern, die den Accounts von mindestens fünf Schweizer Nachrichtenmedien folgen. Diese Daten erlauben es, die öffentliche politische Diskussion auf Twitter im Zeitraum vom 25. Februar bis zum 12. August 2020 nachzuzeichnen. Die Daten stammen vom Digital Democracy Lab.

Die Thematische Einteilung der Tweets erfolgte mittels eines selbst erstellten Wörterbuchs. Unter gesundheitlichen Risiken wurde der Umgang mit Risikogruppen (chronisch Kranke, ältere Personen etc.) und die Belastung des Gesundheitssystems (Bspw. Überlastung der Spitäler und der Pflegekräfte) zusammengefasst. Unter wirtschaftlichen Risiken werden die Angst um Arbeitsplätze, Konsequenzen für Unternehmen und Angestellte, sowie gesamtwirtschaftliche Risiken subsumiert. Das Wörterbuch besteht aus 64 Wörtern für das Thema Gesundheit und 68 Wörtern für das Thema Wirtschaft. Ein Tweet wurde einem oder beiden Themengebieten zugeordnet, sobald ein Stichwort aus dem jeweiligen Wörterbuch darin gefunden wurde. Die genaue Liste der verwendeten Wörter sowie der methodische Ansatz sind im angehängten Code-File ersichtlich.

Validität:
Grundlage für die Auswertungen bilden 85’829 Tweets in deutscher Sprache. Weil Tweets in anderen Sprachen, insbesondere italienisch und französisch, ausgeklammert wurden, sind die Ergebnisse nicht für die ganze Schweiz generalisierbar. Abgebildet wurde lediglich die Debatte in deutscher Sprache. Für die Auswertungen auf Ebene der politischen Parteien wurden nur die grossen Parteien, SVP, FDP, die Mitte, GLP, Grüne und SP berücksichtigt. Die Datenbasis für die Auswertung der relativen Aufmersamkeit für die Themen Wirtschaft und Gesundheit in der Politik beinhaltet 8742 Tweets. Für die Auswertung nach Parteien wurden nur noch Tweets nach Ende des Lockdowns ausgewertet. Der Fokus liegt dort auf der Phase der Entspannung und der Öffnung. Dieser Datensatz beinhaltet 5602 Tweet vom 17.4.2020 bis zum 12.8.2020. In allen Auswertungen wurden relative Anteile gemessen. So kann sichergestellt werden, dass die Resultate sowohl über die Zeit als auch zwischen den Kategorien vergleichbar sind.

Informationen zum Blog

Autor: Patrick Baumann, 10-740-264, patrick.baumann@uzh.ch
Titel: Wirtschaft oder Gesundheit: Wie sich die Risikowahrnehmung der Politik in der Corona-Krise verschoben hat
Modul: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus (FS21)
Dozenten: Alexandra Kohler, Theresa Gessler, Bruno Wüest
Abgabedatum: 20.06.2021
Anzahl Wörter: 887

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