Schweizer ParlamentarierInnen werden stets mit einem gewissen Argwohn aus verschiedenen Teilen der Bevölkerung konfrontiert. Dieser Vorbehalt ist unter anderem auf die komplizierte Sprache im Ratssaal zurückzuführen. Wie gehen die PolitikerInnen in Bern, beim Versuch ihre Volksnähe zu betonen, mit diesem Umstand um? Eine Textanalyse mehrerer tausend Parlamentsreden geht der Sache auf die Spur.
Oliver Roos, 16.06.2019
Sprache und Politik sind schon seit jeher sehr eng miteinander verbunden. PolitikerInnen sind stets mit der Herausforderung konfrontiert, schwierige Sachverhalte einem möglichst grossen Teil der Bevölkerung verständlich zu erklären. Vielen, oftmals Spezialisten auf ihrem Politikgebiet, fällt es allerdings schwer, die Bürger überzeugend und effektiv anzusprechen. Denn für eine gute und leicht verständliche Rede bedarf es neben einer guten Rhetorik und einem sicheren Auftreten zusätzlich auch eines adäquaten Sprachniveaus. Einerseits müssen PolitikerInnen ihre Problematik sachkompetent und nicht zu banal wiedergeben, um ernstgenommen zu werden. Andererseits werden zu komplex und schwierig formulierte Reden nicht aufmerksam verfolgt oder überhaupt verstanden und wirken darüber hinaus abgehoben und elitär.
In der Schweiz sollten die PolitikerInnen der Bevölkerung in Anbetracht des Milizsystems eigentlich näher stehen. Nichtsdestotrotz kann schon seit längerem eine Kluft zwischen den Wählern und denen „da oben in Bern“ beobachtet werden, deren Ursache unter anderem auch in der politische Sprache gesucht werden muss. Verfolgt man einmal die Debatte im Nationalrat, welche häufig von vielen trockenen, möglichst schnell abgelesenen Reden geprägt ist, dann macht die politische Ausdrucksweise nicht gerade einen einladenden Eindruck. Dies bestätigte sich auch schon in einer Umfrage des Tagesanzeiger, bei welcher 46% die Diskussion im Parlament als langweilig und nicht volksnah empfanden. Nicht erst seit kurzem wird die politische Klasse mit einem schwer verständlichen „Polit-Deutsch“ in Verbindung gebracht. Dieses ist, laut einer Studie des Gfs Bern von 2014, unter anderem dafür verantwortlich, dass viele Jungbürger von den Wahlen und Abstimmungen fernbleiben, da Ihnen die Sprache der Politikerinnen und Politiker schlicht zu schwierig sei.
Ist diese fachspezifische und eher trockene Sprache der PolitikerInnen aber auch tatsächlich so schwer verständlich oder hat sie nur ein schlechtes Image? Obwohl ParlamentarierInnen ihre Reden im engeren Sinn nur für ihre Kollegen halten, ist dennoch fast allen bewusst, dass sie damit eigentlich das Volk adressieren. Besonders gerne betont dies SVP-Nationalrat Amstutz: «Ich rede jetzt zur Bevölkerung an den Fernsehern!» Da in den beiden nationalen Räten die Landespolitik massgebend bestimmt wird, stehen sie auch immer unter der Beobachtung der Öffentlichkeit. Die Reden sollten folglich für den Durchschnittsbürger greifbar sein.
Um spezifischere Angaben machen zu können, wurden rund 100’000 deutschsprachige Parlamentsreden zwischen 1995 und 2017 in einer quantitativen Textanalyse mithilfe eines Index [siehe Infobox unten] hinsichtlich ihre Sprachkomplexität untersucht.
Die (neue) Wiener Sachtextformeln, welche von Bamberger und Vanecek (1984) direkt für die deutsche Sprache entwickelt wurden, verfolgen die Absicht einen intuitiveren Wert für Lesbarkeit und somit auch Textverständlichkeit zur Verfügung zu stellen. Der Wertebereich geht dabei von 4 bis 15, wobei die Werte ungefähr den Schulstufen entsprechen. Ein Text mit einem Index von 4 kann somit von Viertklässlern verstanden werden, während Texte mit Werten ab 12 eher für Akademiker geeignet sind. Es gibt insgesamt 4 verschiedene Formeln, von welchen die 4., welche verwendet wurde, am schlichtesten und damit besonders gut geeignet für die Analyse grosser Textkorpora ist.
WSTF4 = 0.2656*SL + 0.2744*MS – 1.693
SL – Satzlänge (mittlere Satzlänge (Anzahl Wörter/ Anzahl Sätze)); MS – Mehrsilber (prozentualer Anteil Wörter mit drei oder mehr Silben)
Dabei werden entsprechende Werte eines Textes (mittlere Satzlänge und prozentualer Anteil an Mehrsilbern) ermittelt/gezählt und in die Formel eingesetzt, um als Ergebnis die entsprechende Schulstufe zu erhalten, für die jener Text geeignet ist.
Ist die „volksnahe“ SVP auch einfach zu verstehen?
Dass das Thema der distanzierten Politikersprache mittlerweile sogar die Schweizer Volks Partei (SVP) beschäftigt, welche immer wieder selbstbewusst ihre eigene Volksnähe betont, zeigte sich kürzlich bei einer Pressekonferenz. Christoph Blocher bezog nach der Niederlage seiner Partei in mehreren Kantonen Stellung und forderte, dass viele SVP-Politiker wieder einfacher reden sollten. «Die Leute verstehen nicht mehr, was die Politiker in Bern sagen wollen. Auch die SVP muss hier aufpassen.» Ist die SVP wirklich schlechter verständlich als früher? Und inwiefern bestehen überhaupt Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Parteien hinsichtlich ihrer Sprachverständlichkeit?
Ein Blick auf die untenstehende Grafik zeigt, dass diese Vorwürfe von Blocher teilweise zurückgewiesen werden müssen. Die Trendlinie zeigt sich nämlich deutlich, dass die Textkomplexität der SVP-Reden im Parlament über die letzten 20 Jahre kleiner geworden ist. Dem Anspruch der Bevölkerung am nächsten zu stehen, wurde die Partei in den letzten Jahren also tatsächlich gerecht, abgesehen von der BDP, deren Reden 2017 im Schnitt noch einfacher waren. Die FDP ist, zusammen mit der CVP, die Partei, die die schwersten Reden im Parlament hält. Eine mögliche Begründung, wonach die SVP und BDP aufgrund ihres, im Vergleich zu den anderen Parteien, tiefen Anteils an Akademikern im Parlament (siehe Blogbeitrag 2015) die einfachsten Reden geben, bleibt gegenstandslos, da die Grünen, welche prozentual die meisten HochschulabgängerInnen in ihren Reihen haben, sogar über lange Zeit die Spitzenreiter bezüglich Verständlichkeit waren.
Diese Unterschiede im Verständlichkeitsgrad der Parteien sollte aber nicht überhöht werden. So war der durchschnittliche Abstand zwischen den schwer und leicht verständlichen Parteien maximal ein Index-Punkt, sprich eine Schulstufe, was schlussendlich keinen riesigen Unterschiede ausmacht. Allerdings viel interessanter ist die Interpretation des tatsächlichen Zahlenwerts, der bei allen Parteien des gesamten Zeitraums immer über 9 lag. Somit sind Schweizer Parlamentsreden mindestens so komplex wie ein NZZ-Artikel [siehe kleine Indobox unten] und können erst von Schülern am Ende der Sekundarschule (Ende der obligatorischen Schulzeit) verstanden werden.
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- ein NZZ-Artikel hat im Durchschnitt einen Indexwert höher als 9
- ein 20min Artikel hingegen nur knapp 7.5
Zur Berechnung dieser Werte wurden jeweils fünf Artikel zufällig ausgesucht und davon die durchschnittliche Sprachverständlichkeit errechnet. Diese Werte wurden in der oberen Grafik als Referenz hinzugefügt.
Texte bis zur 9. Stufe können als leicht bis mittel eingeschätzt werden. Dann wird es mit steigenden Werten tendenziell schwieriger.
Unter anderem ärgerte sich auch schon Nationalrat Cédric Wermut selbstkritisch über die Debattenkultur und Sprache des eigenen Kollegiums. «Wir leben hier manchmal in einer Blase», gestand er dem Tagesanzeiger, «wir entwickeln uns in Bern zu Fachspezialisten. Darum ist die Sprache oft so technokratisch.»
Reden werden einfacher
Trotz der Erkenntnis, dass die Reden im National- und Ständerat tendenziell komplex und ein wenig schwerer verständlich sind, kann man bei fast allen Parteien eine schrittweise Reduktion der Textkomplexität seit 1995 beobachten. Nur die Textkomplexität der FDP Parlamentsbeiträge scheint sich über den ganzen Untersuchungszeitraum kaum verändert zu haben. Ein genereller Trend hin zu simpleren Reden im Schweizer Parlament lässt sich dennoch nicht von der Hand weisen. So lag der durchschnittliche Index für die Textkomplexität 1995/96 bei 10.02 und 2016/17 bei rund 9.62. Es gibt also durchaus ein Bestreben der Politiker, auf die Kritik der Entfernung zur Bevölkerung mit einer verständlicheren Sprache zu reagieren. Einige ParlamentarierInnen geben sogar offen zu, dass sie im Bemühen dem Zuschauer, dem «Volk» zu gefallen, oftmals schlechter reden, als sie können.
Besonders auffallend ist diese Abwärts-Tendenz, wie schon vorher angemerkt wurde, bei der SVP. War der Anteil an ziemlich schwierigen (und schwereren) Reden 1995 noch bei Rund 75%, so ist in den Jahren bis 2017 auf knapp 50% gesunken. Ebenfalls stechen die neuen Mitte-Parteien, GLP und BDP, heraus. Beide Parteien haben ihre Reden, welche zu Beginn eher schwierig waren, seit ihrem Einzug ins nationale Parlament im Jahr 2007 in kurzer Zeit stark in der Komplexität vereinfacht.
Obwohl die Mehrheit der Reden tendenziell schwierig bleiben, ist indes hervorzuheben, dass sehr schwer verständliche Beiträge (dunkelblau in Grafik), welche nur von Menschen mit höherer Bildung aufgefasst werden können, konstant niedrig bleiben.
Giezendanner spricht in Bern am verständlichsten
Während sich die Unterschiede zwischen den Parteien in beiden Kammern des Parlaments in Grenzen halten, sind die Reden der Politiker selbst sehr stark polarisiert hinsichtlich ihrer Sprachkomplexität. Am unkompliziertesten aller ParlamentarierInnen spricht der Aargauer SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner, oft auch als ein Haudegen bekannt, mit einem Lesbarkeitsindex von nur 7.14. Seine Reden sind so im Schnitt noch weniger komplex als ein durchschnittlicher 20min Artikel.
Dicht auf Giezendanner folgen Ex-Bundesrat Burkhalter und Yvette Estermann. Beide sprechen Deutsch nicht als ihre Muttersprache, was erklären könnte, weshalb die Texte ihrer Reden weniger kompliziert aufgebaut sind. Dahingegen findet man am Ende des Rankings PolitikerInnen mit sehr hohen durchschnittlichen Komplexitätswerte von bis zu 12-13, die wohl für den Grossteil der Bevölkerung zu schwierig sind. Auffallend dabei ist, dass mit de Buman, Küchler, Markwalder und Bischofsberger gleich vier ehemalige Stände- oder Nationalratspräsidenten in den Top-10 der schwer verständlichen Redner auftauchen. Dies ist vermutlich auf das Verlesen der komplizierten Formalitäten der Ratspräsidenten zurückzuführen, die alleinstehend wenig durchsichtig sind.
Erkennt man nun anhand der Rangliste auch die besten RednerInnen des Parlaments? Nein, das kann man so sicher nicht sagen! Wie anfangs bereits einmal erwähnt wurde erfordert eine Ansprache weit mehr, als bloss ein simple Sprachverständlichkeit. Wenig komplexe Reden, werden zwar von mehr Menschen verstanden, sind aber nicht automatisch auch spannend oder packend.
Blogbeitrag im Rahmen des Forschungsseminars «Politischer Datenjournalismus» (FS 2019)
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Theresa Gessler, Alexandra KohlerTitel: „Wie verständlich reden unsere Politikerinnen und Politiker?“
Anzahl Wörter (exkl. Lead, Anhänge und Infoboxen): 1180
Verfasser: Oliver Roos, Matr. Nr. 15-710-890 | oliver.roos@bluewin.ch
Daten,Vorgehen und Validität
Die in diesem Beitrag verwendeten Daten zu allen Parlamentsreden zwischen 1995 und 2017 wurden vom Institut für Politikwissenschaft Zürich (IPZ) im Rahmen des Forschungsseminars zur Verfügung gestellt. Für die Datenauswertung wurden lediglich die deutschsprachigen Reden verwendet und überdies nur Reden mit einer Länge von min. 750 Zeichen. Auf kleinere Parteien, wie zum Beispiel die EDU, CSP oder Lega, wurde aus Gründen der Aussagekraft (zu wenige Reden) und zugunsten einer besseren Übersicht nicht eingegangen. Mit Hilfe des quanteda-packages und der oben bereits ausgeführten Wiener Sachtextformel wurden die Lesbarkeit für jede Rede berechnet. Extremwerte weit ausserhalb der eigentlichen Index-Skala wurden als Ausreisser aus dem Sample entfernt (Es waren hauptsächlich Aufzählungen von Artikelnummern und Parlamentariervorstössen, welche schlecht als Reden interpretiert werden konnten). Bei der Berechnung der durchschnittlichen Verständlichkeit pro PolitikerIn für die Tabelle (Ranking) wurde des weiteren ein Minimumwert für die Anzahl Reden festgelegt. Die Visualisierungen wurden in R mit ggplot2 und/oder Datawrapper erstellt.
Das R-Script kann hier geladen werden.
Als Schwachpunkt dieser Auswertung muss angefügt werden, dass die Ergebnisse stark vom jeweiligen Index abhängig sind. Die Werte der Sprachkomplexität waren zum Beispiel bei Benutzung der 1. WSTF, statt der 4. Formel, leichten Veränderungen unterworfen (generelle Tendenzen blieben erhalten), was vereinzelt eine andere Interpretation ermöglicht hätte.
Referenzen
- Golder Lukas; Milic Thomas; Tschöpe Stephan; Müller Meike; Schwab Johanna Lea (2014): Planungsstudie politisches Interesse und Jugendpartizipation. Im Auftrag von easyvote. Gfs Bern.
- Käser Julia (20min) 2019: Blocher kritisiert «Polit-Deutsch» seiner Partei. (https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Versteht-das-Volk-die-SVP-nicht-mehr–31244667 [23.04.2019]).
- Loser Philippe; Cassidy Alan (Tagesanzeiger) 2016: Dieses bäurische Hochdeutsch. So schneiden Amstutz und Co. im Debatten-Vergleich mit Berlin, Washington, London und Rom ab. (https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/sie-sind-gut-beraten-das-fuder-nicht-zu-ueberladen/story/27322660 [10.06.2019]).
- Mistric Vanessa (2015): Akademiker im Parlament: der Bildungsgraben schliesst sich. Data driven Journalism @ IPZ/ UZH. (http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/?p=4898 [23.04.2019]).
- Weber Hannes (der Bund) 2017: Debattieren, nicht ablesen! (https://www.derbund.ch/schweiz/standard/debattieren-nicht-ablesen/story/28211668 [10.06.2019]).
Das ist eine wunderbare Analyse von Rhetorik, die weit über den üblichen persönlichen Eindruck hinausgeht. Auch Ihre optische Darstellung ist eine Freude.
Wie sieht es aber mit der Informationsmenge aus? Heißt weniger komplex, dass gleichzeitg die Anzahl der Informationen zurückgeht? Dann wäre es eine Verschlechterung der praktizierten Rhetorik. Oder ist die Anzahl der vermittelten Informationen in etwa konstant – dann wäre es eine deutliche Steigerung in der Vermittlung.
Wie sehen Sie das?