Der Corona-Graben: Gibt es ihn wirklich oder ist er nur ein Scheingebilde?

Im November wurden die Ursachen der stark steigenden Coronazahlen in der Romandie kontrovers diskutiert. Weder Wissenschaft noch Politik schienen hierfür eine plausible Erklärung zu haben. Nun werden die gängigsten Thesen hierzu einem Faktencheck unterzogen.

Die Schweiz wurde von der zweiten Corona-Welle hart getroffen. Ende Oktober respektive Anfang November erreichten die täglich gemeldeten Neuinfektionen Höchstwerte von gegen zehntausend. Auffallend hierbei war, dass gerade die Romandie im Vergleich zur Deutschschweiz stärker steigende Fallzahlen zu verzeichnen hatte trotz strengerer Corona-Massnahmen.

Dementsprechend ratlos zeigten sich Experten aus Politik und Wissenschaft. Übrig blieben nur Spekulationen und Vermutungen zu den wahren Gründen der hohen Infektionszahlen in der Romandie, an denen sich auch die Medien rege beteiligten. So stellte beispielsweise der Tagesanzeiger konkrete Thesen zur Erklärung dieses Phänomens auf.

Ob die Romands effektiv weniger Angst vor dem Virus haben, mehr in Feierlaune sind und weniger auf Eigenverantwortung setzen, wird hier mittels neu publizierten Daten der Forschungsstelle Sotomo zum Corona Monitoring überprüft.

Die Angst ist immer noch präsent

Als mögliche Erklärung für die steigenden Coronazahlen in der Romandie wurde wiederholt die schwindende Angst vor dem Virus angegeben. Die Argumentation hier: Nimmt die Angst vor dem Virus ab, so verhält man sich dementsprechend fahrlässig und riskiert damit eine Ansteckung. Ein Blick auf die Karte lässt vermuten, dass dies für die Romandie, das Tessin und Graubünden nicht zutrifft.

Gerade in der lateinischen Schweiz und in Graubünden grassiert die Angst vor dem Virus nach wie vor. Lediglich der Jura tanzt hier ein wenig aus der Reihe und schliesst sich damit den Kantonen aus der Ost- und Zentralschweiz an, wo die Angst vor einer Covid-19-Erkrankung verhältnismässig gering ist.

Gemäss den Umfragedaten von Sotomo deutet folglich wenig daraufhin, dass die Angst vor einer Covid-19-Erkrankung ein massgeblicher Grund für die hohen Infektionszahlen in der Romandie darstellt. Umso mehr lassen die tiefen prozentualen Werte in der Ostschweiz aufhorchen. Gerade diese Regionen haben wenige Wochen später für Schlagzeilen gesorgt, da die Coronazahlen dort plötzlich rapide anstiegen. Greift hier womöglich die schwindende Angst vor einer Ansteckung als Erklärung?

Wo kein Kontakt ist, ist auch kein „Todesküsschen“

Eine weitere These, die von mehreren Medien aufgegriffen wurde, ist jene des sagenumwobenen „Todesküsschens“. Gerade im Zusammenhang mit dem viel zitierten Corona-Graben wurde argumentiert, dass sich die Romands aufgrund ihrer kulturellen Tradition vermehrt zur Begrüssung Küsschen geben und sich damit einem erhöhten Risiko aussetzen würden, sich mit Corona zu infizieren. Ganz abgesehen davon, ob es bezüglich der Begrüssungsrituale effektiv grosse kulturelle Unterschiede gibt, hält dieses Argument ohnehin nur stand, wenn die Anzahl der Kontakte in der Romandie auch bedeutend höher gewesen wäre.

Schaut man sich die durchschnittliche Anzahl Personen an, mit denen die Befragten innert einer Woche ausser Haus Kontakt hatten, so fällt Zweierlei auf. Zum einen zeigen sich nur marginale Unterschiede zwischen den Kantonen beziehungsweise den Regionen. Zum anderen ist der Durschnitt der Anzahl Kontakte mit einer Spannweite von 19.1 bis 26.2 auffallend hoch, was die stark steigenden Fallzahlen in der Romandie und später auch in der Deutschschweiz erklären könnte.

Bei der genauen Verteilung der Anzahl Kontakte pro Kanton fallen Appenzell Innerrhoden, Glarus, Luzern, Neuenburg und Zug auf, in denen jeweils über 30% der Befragten angegeben haben, sich mit mehr als 21 Personen getroffen zu haben. Auch hier akzentuieren sich die Unterschiede primär innerhalb der Kantone und nicht zwischen den Regionen.

Mit dieser Erkenntnis wird also das Argument entkräftet, dass die Feierlaune in der Romandie überproportional gewesen wäre. Da die Anzahl der Kontakte schweizweit sehr hoch war, die Fallzahlen jedoch anfangs November insbesondere in der Romandie in die Höhe schnellten, ist aber das Argument des Todesküsschens nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Auch wenn natürlich offen bleibt, ob die kulturellen Unterschiede in der Begrüssung effektiv bestehen.

Fatale Staatsgläubigkeit?

Nach dem Motto „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ wurde den Romands unterstellt, dass ihre „fatale Staatsgläubigkeit“ an den steigenden Coronazahlen schuld sei. Dieser Logik zufolge würden die staatsgläubigen Westschweizer erst dann reagieren, wenn ihre Kantonsregierungen klare Vorgaben machen und das öffentliche Leben einschränken, während die Deutschschweizer die Kontrolle selbst in die Hand nehmen und auf Eigenverantwortung setzen.

Ein Blick auf die folgende Grafik scheint diese These vorerst zu bekräftigen. So ist das Vertrauen in die Kantonsregierung in Bezug auf die Bewältigung der Corona-Krise in der lateinischen Schweiz zusammen mit Bern und Graubünden deutlich grösser als in der Zentral- und Ostschweiz. Dabei stechen der Jura und das Tessin mit einem besonders grossen und der Kanton Schwyz mit einem besonders geringen Vertrauen ins Auge. Doch die entscheidende Frage ist hier: Ist dieses Vertrauen in die Kantonsregierung etwas Schlechtes? Wohl eher nicht. Denn in einer derartigen Krisensituation ist die ganze Gesellschaft darauf angewiesen, dass jemand die Zügel in die Hand nimmt und uns sicher aus dieser Corona-Krise führt. Wie soll das ohne jegliches Vertrauen in die Regierung funktionieren?

Natürlich ist auch die Eigenverantwortung für eine nachhaltige Reduktion der Coronazahlen elementar. Darauf macht auch das SECO in einer im Juli erschienen Studie aufmerksam:  Die Wirksamkeit der Corona-Massnahmen darf nicht isoliert von den freiwilligen Verhaltensanpassungen betrachtet werden.

Das Vertrauen in die Kantonsregierung in Bezug auf die Bewältigung der Corona-Krise und die damit wahrscheinlich einhergehende Einhaltung der beschlossenen Corona-Massnahmen funktioniert also nur, wenn auch die Bereitschaft, das Verhalten anzupassen, vorhanden ist. Das eine schliesst aber das andere nicht aus. Es kann also unabhängig vom Vertrauensgrad in die Kantonsregierung eine starke oder schwache Eigenverantwortung vorliegen. Sicher ist, dass Vertrauen in die Kantonsregierung nicht pauschal als etwas Schlechtes abgetan werden kann.

Worin liegt dann die Erklärung?

Die Umfrage-Daten von Sotomo haben zwar gezeigt, dass Unterschiede zwischen den Kantonen bestehen in Bezug auf die Angst vor einer Covid-19 Erkrankung, der Anzahl Kontakte und dem Vertrauen in die Regierung bezüglich der Bewältigung der Corona-Krise. Sie zeigen aber auch, dass diese Unterschiede nicht stur entlang des angeblichen Corona-Grabens verlaufen.

In diesem Kontext interessant ist, dass Wissenschaftler darauf aufmerksam machen, dass auch soziodemographische und sozioökonomische Eigenschaften einen entscheidenden Einfluss auf die Adaption von Corona-Massanahmen haben können. Plausibel scheint also ein Zusammenspiel von regionalen Unterschieden und sozialen Gegebenheiten. Die Erklärung der unterschiedlich steigenden Infektionszahlen nur im Argument eines „Corona-Grabens“ zu suchen, greift demnach zu kurz.

Informationen zum Blogbeitrag

Titel: Der Corona-Graben: Gibt es ihn wirklich oder ist er nur ein Scheingebilde?

Name: Sophie Schäfer
Matrikelnummer: 16-728-651
E-Mail: sophie.schaefer@uzh.ch

Seminar: Politischer Datenjournalismus (HS 2020)
Leitung: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Alexandra Kohler, Bruno Wüst
Abgabedatum: 03. Januar 2021

Anzahl Wörter: 968

Selbständigkeitserklärung

Literaturverzeichnis

Atchison, Christina J., Bowman, Leigh, Vrinten, Charlotte, Redd, Rozlyn, Pristerà, Philippa, Eaton, Jeffrey W. und Ward, Helen (2020): Perceptions and behavioural responses of the general public during the COVID-19 pandemic: A cross-sectional survey of UK Adults. medRxiv, doi: https://doi.org/10.1101/2020.04.01.20050039.

Reichen, Philippe (2020): Warum hat die Westschweiz so viele Infektionen? (https://www.tagesanzeiger.ch/warum-hat-die-westschweiz-so-viele-infektionen-948291745145 [16.11.2020])

Rutz, Samuel, Mattmann, Matteo, Crede, Ann-Kathrin, Funk, Michael, Siffert, Anja und Häner, Melanie (2020): «Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus – Eine Übersicht». Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 15. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern, Schweiz.

Quellen

Für die Analyse wurden die Daten des Corona-Monitorings der 5. Umfragewelle (06.11.2020) verwendet, die von der Forschungsstelle sotomo zur Verfügung gestellt wurden. Der Datensatz enthält Einstellungen und Verhaltensweisen der Befragten in Bezug auf Corona und viele weitere Pandemie-bezogene Variablen. Die Befragung zum 5. SRG-Corona-Monitor dauerte insgesamt vom 23. Oktober bis zum 2. November 2020. In die Auswertung flossen damit die Antworten von insgesamt 42’425 Befragten ein. Durch die statistische Gewichtung sind die Ergebnisse dieser Befragungsreihe repräsentativ für die sprachlich integrierte Wohnbevölkerung der Schweiz ab 15 Jahren.

Analyse und Validität

Die Datenanalyse besteht vorwiegend aus deskriptiven Methoden. Alle untersuchten Einstellungen bezüglich Corona wurden pro Kanton aggregiert, um allfällige Unterschiede zwischen den Kantonen feststellen zu können. Zudem flossen für jede untersuchte Variable jeweils die gewichteten Werte pro Kanton ein, um die Repräsentativität der gefundenen Ergebnisse zu gewährleisten.

Da der Kanton Appenzell Innerrhoden in der untersuchten Umfrage nur 49 Observationen aufweist, wurden die Kantone Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden in den Grafiken zusammengefasst, um die Repräsentativität zu wahren. Eine Ausnahme bildet die Grafik der Small Multiples, wo die beiden Kantone wieder bewusst einzeln dargestellt wurden, um einen vertieften Einblick in die Situation der einzelnen Kantone zu gewähren.

Den Code zur Analyse und den Grafiken finden Sie hier.

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