Auf den ersten Blick spaltet die Armeefrage die Schweiz nicht. Zu eindeutig spricht sich die Schweizer Stimmbevölkerung Abstimmung für Abstimmung für ein starkes Militär aus. Doch ein klares Nein zu armeekritischen Vorlagen bedeutet nicht zwingend, dass militärpolitische Volksbefragungen keine gesellschaftlichen Spannungen auszulösen vermögen. Ganz im Gegenteil: Persistente Gegensätze treiben teilweise massive Keile in die Gesellschaftsstruktur, wie eine umfangreiche Analyse armeerelevanter Abstimmungen zeigt.
Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung stimmte 1989 der Armeeabschaffungsinitiative zu. Die Armee war fortan keine „heilige Kuh“ der Nation mehr: Unter Federführung der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sind dem Stimmvolk seither in regelmässigen Abständen armeekritische Abstimmungen vorgelegt worden. Sämtliche Volksbegehren der Armeegegner erlitten heftige Niederlagen; die Ja-Stimmen Anteile lagen jeweils zwischen 21.9 und 42.8 Prozent. Seit der Jahrtausendwende haben die Initiativen zudem in keinem Kanton ein Volksmehr erzielen können, während in vorhergehenden Abstimmungen zumindest einige Westschweizer Kantone, das Tessin und in die Basler Halbkantone zugestimmt hatten. Die unmissverständlichen Voten der Bevölkerung lassen den Schluss zu, dass sich die Armee – trotz veränderter sicherheitspolitischer Bedrohungslage – nach wie vor in der Mitte der Gesellschaft wiederfindet (vgl. hierzu auch die jährlichen Studien des Center for Security Studies CSS). Ungeachtet der deutlichen Abstimmungsergebnisse bemüht sich die anschliessende Analyse gleichwohl, allfällige gesellschaftliche Risse in militärpolitischen Fragen aufzudecken, wobei die Aufmerksamkeit insbesondere den Veränderungen über die Jahre gilt.
Nicht selten offenbaren sich bei Volksbefragungen sozialstrukturelle Spaltungen. Die bekanntesten Gräben betreffen einerseits den Gegensatz zwischen Stadt und Land, anderseits den sprachkulturellen Konflikt. Unterscheidet sich das Abstimmungsverhalten von Deutschschweiz und Romandie auch in armeerelevanten Vorlagen? Liegt gar ein tiefgreifender Gegensatz zwischen urban geprägten progressiven Städten und konservativen ländlichen Gebieten vor? Falls ja, haben sich die damit einhergehenden Spaltungen in den letzten Jahren kontinuierlich verschärft? Oder hat vielmehr eine Annäherung zwischen Stadt und Land bzw. deutsch- und französischsprachiger Schweiz stattgefunden? Diesen Fragen geht die Untersuchung unter Berücksichtigung armeelevanter Initiativen des vergangenen Vierteljahrhunderts nach [1]:
- 1989: Für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik, 64.4% Nein
- 1993: Für eine Schweiz ohne neue Kampfflugzeuge, 57.2% Nein
- 2000: Sparen beim Militär und der Gesamtverteidigung, 62.4% Nein
- 2001: Für eine glaubwürdige Sicherheitspolitik und eine Schweiz ohne Armee, 78.1% Nein
- 2008: Gegen Kampfjetlärm in Tourismusgebieten, 68.1% Nein
- 2013: Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht, 73.2% Nein
Nationale und kommunale Abstimmungsergebnisse im Vergleich
Zugunsten einer differenzierten Erforschung derartiger Gesellschaftsstrukturen bietet sich eine Analyse auf Gemeindeebene an [2]. Die Verwendung der Kantonsergebnisse würde der sozialstrukturellen Heterogenität der Kantone (z.B. Bern) kaum gerecht. Damit die militärpolitischen Abstimmungen untereinander vergleichbar sind, stellt die schweizweite Ablehnung gemäss offiziellem Abstimmungsergebnis den jeweiligen Referenzpunkt dar. Konkret: Der nationale Nein-Anteil lag bei der letzten Armeevorlage bei 73.2 Prozent. In Winterthur betrug dieser 66.9 Prozent. Die prozentuale Abweichung beträgt somit -6.3 Prozent. Diese Berechnung erfolgt entsprechend für sämtliche Kommunen bzw. Abstimmungen, wobei vergleichsweise armeefreundlicher stimmende Gemeinden positive Differenzen, d.h. im gesamtschweizerischen Vergleich höhere Nein-Anteile aufweisen, wohingegen bei relativ armeekritischer stimmende Kommunen negative Differenzen resultieren [3]. Die Gemeinden werden anschliessend gemäss ihrer Zugehörigkeit zu Siedlungstypen (Stadt, Agglomeration und Land) und Sprachregionen (D=Deutschschweiz, F=Westschweiz, I=italienische Schweiz, R=rätoromanische Schweiz) zu Aggregaten zusammengefasst (Mittelwerte der Gemeindeergebnisse). Die Grösse n besagt, wieviele Gemeinden die Aggregate umfassen. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Konfliktlinien beruht somit auf sozialstrukturellen Aggregaten.
Grafik 1, 2: Nach Sprachregionen (links) und Siedlungstyen (rechts) aggregierte Gemeinden.
Welche Auffälligkeiten lassen sich aus der deskriptiven Darstellung erkennen (Grafik 1, 2)? Zunächst fällt auf, dass die Deutschschweiz deutlich armeefreundlicher stimmt als die Romandie: Zwischen den Polen „armeekritischer“ und „-freundlicher“ liegen seit 1993 durchgehend mehr als 10 Prozent Differenz. Bemerkenswert ist auch der Wandel des Tessins zu einem tendenziell armeefreundlicheren Abstimmungsverhalten in den letzten Jahren. Die zeitlich weitaus volatilere Entwicklung von italienischer sowie rätoromanischer Schweiz gilt es aufgrund der massiv tieferen Fallzahlen jedoch vorsichtig zu interpretieren. Desweiteren nahm die Polarisierung 2000 massiv ab und hat sich seither bei etwas mehr als 10 Prozent eingependelt.
Auch die Typisierung nach Siedlungsformen bringt sichtbare Kontraste hervor: Die urbanen Kernstädte stimmen seit jeher tendenziell armeekritischer, demgegenüber sich ländliche Gebiete Abstimmung für Abstimmung als Verfechter einer starken Armee hervorgetan haben. Zwischen den beiden Polen liegen seit 1993 mehr als 10 Prozent Unterschied. Das Abstimmungsverhalten der Agglomeration enspricht dahingegen weitgehend dem nationalen Durchschnitt.
Akzentuierte Konfliktlinien durch Schichtung
Gesellschaftliche Spaltung treten selten losgelöst von anderen Konfliktlinien auf. Eine kombinierte Berücksichtigung beider Gegensätze (Grafik 3) scheint deshalb sinnvoll. Die Schichtung der Spaltungen deutet wiederum auf scharfe Kontraste innerhalb der Sprachregionen und Siedlungstypen hin. In gewissen Konstellationen präsentieren sich die Klüfte nun gar in prononcierterer Weise: Besonders auffällig offenbart sich die gesellschaftstrukturelle Polarisierung im Jahr 2000 , als sich das Abstimmungsergebnis welscher Städten und ländlicher Deutschschweiz um beinahe 30 Prozent unterschied [4].
Grafik 3: Kombination von sprachlicher und raumtypischer Konfliklinie.Die sozialstrukturellen Differenzen haben sich seiher etwas gelegt, die vorherrschenden Gegensätze halten sich allerdings nach wie vor hartnäckig – wenngleich auf leicht tieferem Niveau. Von einer umfassenden Annäherung kann nicht die Rede sein. Dies trifft sowohl auf die einzelnen Spaltungen für sich, als auch die geschichteten Gegensätze zu.
Festgefahrene Antagonismen
Ob und inwiefern sich der Zuspruch zur Armee in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat vermag die durchgeführte Analyse nicht zu beantworten. Die wiederholt wuchtig abgelehnten GSoA-Initiativen deuten darauf hin, dass die Armee in der Schweizer Bevölkerung ungebrochenen Rückhalt geniesst. Die nuancierte Betrachtung der Abstimmungsergebnisse nach Siedlungstypen und Sprachregionen der Gemeinden lässt hingegen – trotz der auf den ersten Blick deutlich verworfenen Volksbegehren – in sämtlichen armeerelevanten Volksbegehren persistente, teilweise tiefe politische Risse zutage treten. Im Speziellen sind dies die Antagonismen zwischen urbanen und ruralen Gegenden sowie der sprachkulturelle „Röstigraben“. Die Klarheit der nationalen Abstimmungsergebnisse darf deshalb keineswegs über die vorherrschenden Spaltungen hinwegtäuschen.
Der Abstimmungskampf zur nächsten militärpolitischen Volksbefragung ist bereits lanciert („Bundesgesetz über den Fonds zur Beschaffung des Kampfflugzeugs Gripen“). Ob das von Armeekritikern getragene fakultative Referendum am 18. Mai das erforderliche Volksmehr erreichen wird, scheint ungewiss. Dass sich jedoch wiederum Klüfte zwischen Stadt und Land und den Sprachregionen auftun werden, scheint unzweifelhaft. Basierend auf den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte dürften die gesellschaftlichen Spaltungen in militärpolitischen Fragen in absehbarer Zeit kaum verschwinden, obwohl die Gräben in den vergangenen Jahren zumindest etwas zugeschüttet worden sind. Noch einige Male werden also im Kampf um die „heilige Kuh“ offensichtlich unverrückbare Konfliktlinien antagonistisch aufeinanderprallen.
[1] „Armeerelevant“ bedeutet, dass die Argumentation der Stimmenden gemäss VOX-Umfrage u.a. die grundsätzliche Haltung zur Armee beinhaltete. Bei der Initiative „Für den Schutz vor Waffengewalt“ (2011) lag dieses Motiv z.B. nicht vor. Es gilt zu beachten, dass die Analysen demnach auf Initiativen beruhen, die im Wesentlichen auf die Armeeabschaffung (in den Jahren 1989, 2001, 2013) und die militärische Aus- bzw. Abrüstung (1993, 2000, 2008) hinzielen. Ob es legitim ist, diese sich in distinkter Weise unterscheidenden Initiativen zueinander in Bezug zu setzen, darf infrage gestellt werden. Zugunsten einer möglichst umfangreichen zeitlichen Analyse scheint dies jedoch gerechtfertigt.
[2] Die Abstimmungsdaten zu den Gemeinden stammen vom Bundesamt für Statistik BfS. Der analysefertig aufbereitete Datensatz steht zum Download bereit.
[3] „Armeefreundlicher“ bezieht sich somit stets auf den schweizerischen Durchschnitt. In den meisten Fällen liegt der durchschnittliche Nein-Anteil der Gemeinden bzw. Aggregate trotzdem bei über 50 Prozent.
[4] Relativierend gilt es anzumerken, dass die urbane Westschweiz ein äusserst homogenes Aggregat aus bloss fünf Städten darstellt, sodass der Mittelwert das Ergebnis wohl verzerrt.
1. Blogbeitrag von Jonas Räber (s09611864, jonas.raeber@uzh.ch) im Rahmen des Forschungsseminars Politischer Datenjournalismus an der Universität Zürich.