Die #MEI auf Twitter: Aufschrei statt Diskussion?

Kaum ein Thema hat die Schweizer Öffentlichkeit in den letzten Monaten mehr bewegt als die Abstimmung über die Initiative gegen Masseneinwanderung vom 9. Februar. Davon zeugten die hohe Stimmbeteiligung von 56% und das starke politische Engagement nach der Annahme der SVP-Initiative. Aber nicht nur in der realen Welt gab es viele Reaktionen, auch auf Twitter fand die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative ein grosses Echo. Am Abstimmungstag wurden allein unter dem Hashtag #abst14 über 9000 Tweets versendet. Laut dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)  ist das acht Mal mehr als an einem «normalen» Sonntag und damit ein neuer Rekord. Wie aber war die Dynamik auf Twitter davor und danach? Haben die Politiker in den letzten Wochen vor der Abstimmung das knappe Resultat antizipiert? Und trugen die Reaktionen zu einer Deliberation bei?

Twitter als Indikator für die politische Stimmung

Der Online micro-blogging Dienst Twitter wird seit einigen Jahren immer populärer als Kommunikationsplattform für politische Themen. Die unterschiedlichsten Akteure tauschen hier Informationen und Meinungen zum aktuellen Geschehen aus. Ob Spitzenpolitikerin, Journalist oder gewöhnlicher Bürger – allen Nutzer stehen dazu 140 Zeichen zur Verfügung. Nicht nur bei der Länge der Tweets haben sie die gleichen Voraussetzungen, sie brauchen auch die gleichen Stichworte und Hashtags, teilen oft sehr ähnliche Inhalte und agieren innerhalb eines gemeinsamen sozialen Netzwerkes. Twitter bietet deshalb eine grosse Menge an öffentlich zugänglichen Daten über politische Amtsträger, Parteien und Politiker und eröffnet neue Möglichkeiten für Analysen des öffentlichen politischen Diskurses. Gemäss einer Untersuchung der Technischen Universität München während dem Deutschen Wahlkampf von 2009 kann Twitter als valider Indikator der politischen Stimmung angesehen werden – und das in Echtzeit. Pablo Barberá, ein Politikwissenschaftler der New York University, konnte sogar die politische Positionierung von Twitter-Nutzern aufgrund ihrer Verbindungen in dem sozialen Netzwerk abschätzen. Auch in der Schweiz nimmt die Twitter-Nutzung in der Politik zu. Alle grossen Parteien sind mit einem offiziellen Auftritt auf dem sozialen Netzwerk vertreten. Zudem nutzen immer mehr Politiker auch als Einzelpersonen den micro-blogging Dienst.

Für eine Analyse der Twitter-Aktivität von Schweizer Politikern rund um die Masseneinwanderungsinitiative wurden neben den zentralen Partei-Accounts all jene Twitter-Konten erfasst, welche mindestens einer politische Partei der Schweiz folgen (followen) und sich in ihrer Beschreibung eindeutig mit einer Schweizer Partei in Verbindung bringen. Um sicher zu stellen, dass zentrale Parteipolitiker darin vertreten sind, wurden zudem die Partei- und Fraktionspräsidenten der sieben grössten Schweizer Parteien (SVP, SP, Grüne, GLP, FDP, CVP und BDP) hinzugefügt, sofern sie auf Twitter präsent sind. Dies ergab eine Liste von 602 Schweizer Politikern, von welchen alle gesendeten Tweets von Januar bis Anfangs März gesammelt und codiert wurden (21 User hatten noch nie einen Tweet gesendet, faktisch wurden also Tweets von 581 Accounts analysiert).

Zunahme der Tweets im Vergleich zur Abstimmung im November

Wie die erste Grafik zeigt, hat die Aktivität der Politiker auf Twitter in den letzten sechs Monaten (abgesehen von einem Einbruch über die Festtage) insgesamt zugenommen. Deutlich erkennbar sind die starken Ausschläge an den beiden Abstimmungstagen am 24.11.2013 und am 9.2.2014, wobei letzterer mit über 2500 gesendeten Tweets alle anderen Tage bei Weitem übertrifft. Die Politiker der SP und der FDP waren dabei besonders aktiv, aber auch Vertreter aller anderen grösseren Parteien sendeten rund um den Abstimmungssonntag im Februar mehr Tweets aus pro Tag als noch im Herbst. Das deutet darauf hin, dass die Initiative gegen Masseneinwanderung auch online zu einem verstärkten politischen Engagement geführt hat.

Anzahl Tweets pro Tag der Politiker-Accounts von Oktober 2013 bis März 2014

Ein leicht anderes Bild zeigt sich allerdings nach einer inhaltlichen Analyse der Tweets. Dabei wurden die Nachrichten auf die Verwendung von verbreiteten Hashtags untersucht. Unter «#Hashtags» werden Stichwörter verstanden, die in Tweets verwendet werden um auf ein bestimmtes Thema zu verweisen. Solche Hashtags verbreiten sich umso stärker, je prominenter ein Thema auf Twitter diskutiert wird und erlauben eine Diskussion über die eigenen Folger (follower) und Verfolgten (following) hinaus. Rund um die Abstimmung über die Initiative gegen Masseneinwanderung wurden #abst14 und #chvote als «offizielle» Hashtags vom SRF lanciert. Zusätzlich entwickelte sich #MEI als einer der am häufigsten verwendeten Hashtags. Die zweite Grafik zeigt die Anzahl Tweets pro Tag, die mindestens eines dieser drei Stichworte enthalten. Es wird deutlich, dass die Hashtags erst am Tag der Abstimmung wirklich aufgegriffen wurden, obwohl sie bereits davor entstanden waren.

Anzahl Tweets pro Tag mit den Hashtags #MEI, #abst14, #chvote

Mehr Reaktion als Deliberation

In einem weiteren Schritt wurde zusätzlich zu den genannten Hashtags die Verwendung von weiteren Stichworten analysiert, die im Zusammenhang mit der SVP-Initiative häufig erwähnt, aber nicht unbedingt als Hashtag verwendet wurden. Wie die dritte Grafik zeigt, ändern sich die Zahlen dadurch wenig. Allerdings lassen sich weitere Feinheiten in der Dynamik des Diskurses erkennen. So reagierten die Politiker in ihren Tweets vor allem auf Ereignisse in Politik und Medien, zum Beispiel auf die Publikation der Umfragen des gfs.bern vor der Abstimmung, sowie die Entscheide der EU zu den Förderprogrammen Erasmus+ und Horizon2020 nach dem Volksentscheid. Interessant ist, dass die Initiative in den letzten Tagen vor der Abstimmung keine besonders hohe Aktivität auf Twitter auslöste. Dies, obwohl sie gemäss dem Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft in den traditionellen Medien auch in den letzten beiden Wochen vor dem 9. Februar eine ausgesprochen hohe Beachtung erfuhr. Auch nach dem Abstimmungstag gingen die Twitter-Beiträge zu den erhobenen Stichworten wieder deutlich zurück. Anzahl Tweets pro Tag zur Initiative gegen Masseneinwanderung (Hashtags und Stichworte)

Die Daten legen nahe, dass die Politiker im Abstimmungskamp auf Twitter nicht wirklich neue Themen setzten oder Diskussionen anregten, sondern eher reaktiv auf das Agenda-Setting der Medien und der offline-Politik reagierten. Die geringe Aktivität kurz vor der Abstimmung deutet ausserdem darauf hin, dass die Politiker auf beiden Seiten das knappe Resultat nicht antizipierten und kaum Tweets zur Mobilisierung in letzter Minute nutzten. Eine Ausnahme bildete ein Aufruf zur Stimmabgabe eine Woche vor der Abstimmung von Anhängern mehrerer gegnerischer Parteien. Zahlenmässig blieb dieser allerdings eher klein.

— Junge Grüne Zürich (@JungeGrueneZH) January 29, 2014

Die vierte Grafik verdeutlicht , dass die Anzahl gesendeter Tweets pro Stichwort abgesehen von den Hashtags #MEI und #abst14 (der sich auch auf die beiden anderen Vorlagen beziehen konnte) eher klein war. Natürlich muss die Auswahl der untersuchten Stichworte, die sich mehrheitlich auf den deutschsprachigen Raum beziehen, kritisch betrachtet werden. Die relativ geringe Nutzung der neutraleren Hashtags vor und nach dem Abstimmungstag deutet allerdings ebenfalls darauf hin, dass unter den Politikern keine Deliberation über die Grenzen der eigenen Follower hinaus stattgefunden hat. Diese Annahme wird auch durch eine Analyse der Follower der zentralen Partei-Accounts über denselben Zeitraum hinweg bekräftig. Die Anzahl Anhänger änderte sich trotz der erhöhten Aktivität kaum, weder auf der Gewinner- noch auf der Verliererseite. Dies entspricht auch Barberas These, dass sich Twitter-Nutzer mehrheitlich entsprechend ihrer Ideologie entlang der Parteilinien gruppieren.


Diese Ergebnisse sind auch im Hinblick auf die Schweizer Politiklandschaft und die Internet-Nutzung nicht unbedingt erstaunlich.  Wie das «World Internet Project – Schweiz 2013» herausfand, sind Internet-Nutzer zwar politisch aktiver als Nicht-Nutzer. Dennoch diskutieren 71% der Schweizer Internet-Nutzer politische Themen weiterhin ausschliesslich offline. Bei politisch kontroversen Themen ist das wiederholte Exponiertsein besonders wichtig für die Übernahme und Verbreitung von Hashtags. So kommt es, dass an einem Abstimmungstsonntag zwar Tausende unter einem gemeinsamen Stichwort aufschreien, die Mehrheit der Schweizer Politiker auf Twitter sich davor und danach aber eher mit Gleichgesinnten austauscht oder in Schweigen hüllt.

Skript Twitter Analyse

Literatur:

Barberá, Pablo (2013): Birds of the Same Feather Tweet Together. Bayesian Ideal Point Estimation Using Twitter Data. APSA 2012 Annual Meeting Paper, S. 1-50.

Romero, Daniel M./Meeder, Brendan/Kleinberg, Jon (2011): Differences in the Mechanics of Information Diffusion Across Topics: Idioms, Political Hashtags, and Complex Contagion on Twitter. Proceedings of the 20th international conference on World Wide Web, S. 695-704.

Tumasjan, Andranik et al. (2010): Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment. Proceedings for the Fourth International AAAI Conference on Weblogs and Social Media, S. 178-185.

3 comments

  1. Interessante Analyse. Die Grafiken sehen ebenfalls gelungen aus, obwohl es vielleicht angezeigt wäre, die Anzahl Tweets pro Partei mit der Anzahl der aktiven PolitikerInnen dieser Partei zu normalisieren. Dies, weil zumindest BundesparlamentarierInnen und somit wohl auch andere höchst unterschiedlich aktiv sind auf Twitter. Ein paar wenige produzieren Hunderte von Tweets während die grosse Mehrheit eher wenig produziert (siehe auch: http://www.nngroup.com/articles/participation-inequality/).
    Zur Aktivität und Interaktivät von PolitikerInnen hat SoMePolis einen „Twittermonitor“ erstellt: http://twittermonitor.somepolis.ch
    Auch sonst findest Du auf somepolis.ch einige Analysen zu CH-Politik und Twitter – unter anderem auch eine aktualisierte Liste aller BundesparlamentarierInnen auf Twitter, für kommende Analysen (auf die ich gespannt bin): https://twitter.com/SoMePolis/lists/bundesparlamentarierinnen

    • Vielen Dank für den Hinweis und die Links! Das stimmt natürlich, eine solche Normalisierung wäre sicher sinnvoll gewesen.

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