Gut ausgebildete Schweizer wollen weniger Chancengleichheit für Ausländer

Je besser die Ausbildung einer Person, desto liberaler die Einstellung gegenüber Einwanderung und Ausländern. Lange galt diese Aussage als wenig umstritten. Doch in der Schweiz scheint ein Wandel im Gange zu sein.

Abstimmungssonntag. 9. Februar. 13.30 Uhr. Politikwissenschaftler Claude Longchamp erscheint vor den Kameras des Schweizer Fernsehens. In wenigen Sekunden präsentiert er die erste Hochrechnung zur Masseneinwanderungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Die Initiative will den freien Personenverkehr stoppen. Die Schweiz soll wieder Einwanderungskontingente festlegen können. Schon in den Wochen vor der Abstimmung zeichnet sich ein knappes Ergebnis ab. Nun gilt es ernst. Longchamp übernimmt das Wort. Er teilt dem Fernsehpublikum mit, dass sich noch keine klare Aussage machen lässt. Die Hochrechnung zeigt: 50 Prozent Zustimmung, 50 Prozent Ablehnung. Was danach passiert ist Geschichte. Die Schweizer Stimmbevölkerung nimmt die Initiative knapp an und will somit die Zuwanderung wieder mit Kontingenten regeln. Nach der Zustimmung zu den Bilateralen Verträgen I (2000), Schengen- und Dublin (2005) und die Osterweiterung der Personenfreizügigkeit (2009) markiert der 9. Februar eine Wende in der Schweizer Europa- und Einwanderungspolitik. Eine Wende, welche sich auch in der Haltung der Schweizerinnen und Schweizer bezüglich der Chancengleichheit von Ausländern widerspiegelt. Das zeigt die Analyse der Vox Nachwahlbefragungen von 2000 bis 2012. Dabei wurde die Einstellung der Befragten basierend auf den Antworten zur folgenden Frage untersucht: «Möchten Sie eine Schweiz mit gleichen Chancen für die Ausländer und Ausländerinnen, oder eine Schweiz mit besseren Chancen für die Schweizer und Schweizerinnen?»

Bildungseffekte nehmen ab

Die Untersuchung zeigt, dass sich die Einstellung bei Bürgerinnen und Bürger mit höherem Bildungsniveau an die Einstellung jener mit einem tieferen Niveau angleicht. Das überrascht, vertraten doch bis anhin viele Politikwissenschaftler die These, dass mehr Bildung zu einer liberaleren Haltung gegenüber Einwanderung und Ausländern führt. Dies deshalb, weil schlecht ausgebildete Personen zu den Globalisierungsverlierern gehören und stärker von zunehmenden Lohndruck, mehr Wettbewerb und hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind. Das führe dazu, dass die Einwanderer als Sündenböcke für die von der globalisierten Wirtschaft verursachten Probleme herhalten müssen, schreiben Soziologe Yunus Kaya und Politikwissenschaftler Ekrem Karakoç in ihrer Studie «Civilizing vs destructive globalization? A multi-level analysis of anti-immigrant prejudice».

Die unten angeführte Grafik zeigt nun, dass der Bildungseffekt im Wandel ist. In der Schweiz wünschen sich gut ausgebildete Personen vermehrt eine Bevorzugung von Schweizern als noch im Jahr 2000. Speziell jene Bürger mit einer Matura oder einem Abschluss einer höheren Fachschule. Diese nähern sich der durchschnittlichen Haltung jener mit einer obligatorischen Grundausbildung oder einem Lehrabschluss an. Oder sie sind wie 2010 und 2011 nicht einmal mehr signifikant unterschiedlich voneinander. Das bedeutet, dass aufgrund der Daten kein Unterschied angenommen werden darf.

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Aus der Grafik lässt sich dies mittels der farbigen Flächen ablesen. Diese widerspiegeln das 95 Prozent Konfidenzintervall der Schätzungen. Das bedeutet, dass aufgrund der analysierten Daten der wahre Wert zu 95 Prozent innerhalb dieses Bereiches liegt. Überschneiden sich die Flächen in der Abbildung, kann statistisch keine klare Unterscheidung gemacht werden.

Der Bildungseffekt hat sich demnach seit der Einführung der Personenfreizügigkeit verändert. Zum einen nimmt der Effekt zwischen den Gruppen ab. Zum anderen tendieren besser ausgebildete zu einer kritischeren Haltung gegenüber der Chancengleichheit für Ausländer, während die Einstellung der schlechter ausgebildeten auf dem Niveau von 2000 verharrt.

Diese Trends sind sowohl in der Romandie als auch in der Deutschschweiz zu beobachten. Die unten stehenden Abbildungen zeigen die Analyse für Romandie und Deutschschweiz im Vergleich.

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Die Migrationsströme verändern sich 

Auffällig ist, dass die Veränderung der Bildungseffekte verstärkt ab dem Jahr 2005 einsetzen. Zeitgleich steigen die Einwanderungszahlen rasant an. Die jährliche Einwanderung in die Schweiz wächst zwischen 2005 und 2008 um rund 60’000 Personen. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zuwanderung pro Jahr beinahe verdoppelt. Dies bestätigen die Daten des Bundesamt für Statistik (BfS).

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Seit 2000 verändert sich zudem auch die Zusammensetzung der Migrationsströme. Der Anteil an Personen aus den 27 EU-Staaten nimmt deutlich zu, jener aus nichteuropäischen Staaten ab. 2012 sind 72 von 100 Migranten aus EU-Staaten und jeder vierte davon ist ein Deutscher. Die folgende Grafik basiert auf BfS-Daten und veranschaulicht die Veränderung der Einwanderungsanteile.

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Diese Entwicklung könnte im direkten Zusammenhang mit der Veränderung der Bildungseffekte stehen. Denn mit der Zunahme der Migrationsströme aus EU-Staaten, insbesondere Deutschland, hat sich der Bildungsstand der Einwanderer deutlich erhöht. Das zeigt eine Publikation der Wirtschaftsverbände economiesuisse und dem Arbeitgebeverband. Seit 2003 nimmt die Zahl der Migranten mit einem Lehrabschluss, einer Maturität oder gar einem Universität oder Fachhochschulabschluss massiv zu. Die absoluten Zahlen steigen in sieben Jahren um das Vierfache an. Es kommen also immer mehr gut ausgebildete Arbeitnehmer in die Schweiz und parallel nimmt die kritische Haltung gegenüber Ausländern innerhalb der gleichen Bildungsgruppen zu.

Neue Globalisierungsverlierer

Die Korrelation ist auffällig. Theoretisch kann argumentiert werden, dass die gut ausgebildeten Einwanderer eine potentielle Gefahr für Schweizer mit einem höheren Bildungsniveau darstellen. Dies führte dazu, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit, Lohndruck und mehr Konkurrenzkampf im Arbeitsmarkt stieg. Ob diese Gefahr real ist oder, wie die Wirtschaftsverbände in ihrer Publikation argumentieren, die Migranten hauptsächlich die einheimischen Arbeitnehmer ergänzen, sei dahingestellt. Doch die medialen Hypes (2006/2007) um die Zuwanderung aus Deutschland und der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 beruhigten die Schweizer Arbeitnehmer kaum. Viel wahrscheinlicher förderten diese Entwicklungen protektionistische Gedanken aufgrund wirtschaftlicher Ängste und könnten daher der Grund für den steigenden Wunsch nach einer Bevorzugung von Schweizern gegenüber Ausländern sein. Der Theorie der Globalisierungsverlierer folgend, könnte man sagen, dass sich ein Art neue Gruppe von gut ausgebildeten Globalisierungsverlierern in der Schweiz bildete.

Ob tatsächlich die besser ausgebildeten Stimmbürger den Ausschlag für das knappe Ja zur Masseinwanderungsinitiative gegeben haben, kann jedoch noch nicht mit Sichherheit festgestellt werden. Dazu muss die Vox-Befragung abgewartet werden, damit man die persönlichen Motivationsgründe auswerten kann. Trotzdem zeigt die Analyse, dass in der Bevölkerung die kritische Einstellung gegenüber Einwanderern wächst und es vermutlich auch aufgrund dieser Veränderung am 9. Februar zur Wende in der Schweizer Europa- und Migrationspolitik kam.

Von Patrice Siegrist
07-920-150
patrice.siegrist@uzh.ch

Blogbeitrag im Rahmen des Forschungsseminars: Politischer Datenjournalismus
Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann, Dr. des. Bruno Wüest

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