Den Stadtzürchern vergeht die Lust am Heiraten – unabhängig von der Nationalität

Während die Bedeutung der traditionellen Ehe auf dem Rückmarsch ist, sind neuere Lebensformen wie Ein-Eltern-Familien, Konkubinat, LAT-Partnerschaften nicht mehr unüblich. Daneben drängt sich das Single-Leben vor allem in den grösseren Städten wie Zürich in den Vordergrund. Gilt dieser Trend der Ehemüdigkeit entgegen aller Vorurteile auch für Stadtzürcher unterschiedlicher Nationalitäten?

Grafik 1: Sedef Biçer, Screenshot des Facebook-Profils der Autorin

Chiara*, 36 und seit über zehn Jahren mit ihrem Freund Lorenzo* zusammen, tippt noch schnell ein paar Termine in ihr Mobiltelefon ein. Im Geschäft sei viel los so kurz vor Weihnachten und sie entschuldigt sich wiederholt, dass sie nicht zeitlich flexibel sein konnte, da sie und Lorenzo erst vor zwei Wochen wieder von ihrer Afrika-Rundreise zurück seien und dementsprechend vieles zu erledigen hätten. Sie leitet mit einem herzlichen Lachen in unser eigentliches Interview ein: «Reisen ist definitiv ansteckend, Heiraten und Kinderkriegen nicht wirklich!»
Mit dieser Meinung steht Chiara nicht alleine da. Um die Entwicklung des Zivilstandes der Stadtzürcher über die Zeit aufzuzeigen und somit die These der Ehemüdigkeit visuell zu unterstreichen, wurden die Alterskategorien von 20 bis 44 Jahren zusammengefasst, wobei eine Unterteilung zwischen «Ausländer» und «Schweizer» gemacht wird. Es wird lediglich zwischen «Verheiratet», «Ledig» und «Geschieden» differenziert, da die anderen Kategorien für die Darstellung des Trends nicht relevant sind.

Grafik 2: Sedef Biçer, Daten: Statistik Stadt Zürich, Link: http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/Zeitreihe-2-1.png

Im Jahre 1993 waren 62 Prozent der Ausländer in der Stadt Zürich zwischen 20 bis 44 Jahren verheiratet, 2016 waren es nur noch 37 Prozent. Die Quote der ledigen Ausländer stieg seit den neunziger Jahren von 36 Prozent stetig an und lag 2016 bei 61 Prozent. Bei den Schweizern ist der Rückgang an Verhei­rateten weniger gut zu erkennen. Nichtsdestotrotz zeichnet sich auch hier die Tendenz zur Ehemüdigkeit mit einer Verringerung um 10 Prozent ab. Diese Unterteilung zwischen Ausländern und Schweizern schliesst somit aus, dass der Trend der Ehemüdigkeit vor allem von Inländern verursacht wird.

«Die traditionelle Lebensform ist eher eine Last»

Chiara und Lorenzo sind Secondos, Kinder italienischer Gastarbeiter, geboren und aufgewachsen in Zürich. Die Entscheidung gegen eine Heirat und Kinder fiel früh in ihrer Beziehung. Es müsse schliesslich nicht mehr sein, weil sie diese traditionelle Art des Lebens eher als Last empfinden würden und nicht als Bereicherung. Chiara hat nebenberuflich ihren Bachelor und Master an einer Fachhochschule absolviert und arbeitet im mittleren Kader. Lorenzo weist ungefähr das gleiche Bildungsniveau auf und ist als Elektro­ingenieur tätig. An der finanziellen Situation läge es definitiv nicht. Es sei nun mal anders als früher als man die Heirat als eine Absicherung sah. Aber wieso sollten sie Zeit in die Familienplanung investieren oder sich trotz erheblichen Steuernachteilen mit einer offiziellen Unterschrift füreinander entscheiden, wenn es heute genügend andere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und des Zusammenlebens gäbe, die sie glücklicher machen würden?
Diese Frage stellen sich nicht nur Chiara und Lorenzo. Dass der Trend zur Ehemüdigkeit keiner Nationalität zuzuordnen und als kulturell unabhängiges Phänomen zu betrachten ist, zeigen die folgenden Zeitreihen. Demnach wird dargelegt wie sich die Kategorien «Verheiratet», «Ledig» sowie «Geschieden» in den einzelnen Altersklassen von 1993 bis 2016 entwickelt haben. Neben «Schweizer» wurden vor allem Staatsangehörigkeiten in der Stadt Zürich berücksichtigt, die als grössere Einwanderer-Gruppe und als heiratsaffiner gelten.

Grafik 3: Sedef Biçer, Daten: Statistik Stadt Zürich, Link: http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/smallMulitples.png

Von den 25 bis 29-Jährigen Italienern waren 1993 42 Prozent verheiratet, 2016 nur noch 7.7 Prozent – rund 0.3 Prozent weniger als Schweizer in der gleichen Alterskategorie. Die Zahl der ledigen Italiener belief sich in derselben Altersklasse anfangs auf 55 Prozent und steigerte sich bis auf 92 Prozent. Im Alter von 30 bis 34 verzeichneten die Italiener eine Abnahme in der Kategorie «Verheiratet» sowie eine Zunahme in der Kategorie «Ledig» von über 40 Prozent.
Ganz ähnlich sieht es bei anderen vorwiegend katholisch-südländischen Kulturen aus: Im Jahre 1993 waren 68 Prozent der 25 bis 29-jährigen und 81 Prozent der 30 bis 34-jährigen Spanier verheiratet. Zwei Jahrzehnte später befanden sich lediglich 9 Prozent der 25 bis 29-Jährigen und 26 Prozent der 30 bis 34-Jährigen in der Kategorie «Verheiratet». In den neunziger Jahren waren 75 bis 85 Prozent der 25 bis 29-jährigen Portugiesen verheiratet, 2016 über 50 Prozent weniger.
Obwohl die Balkanländer höhere Prozentzahlen in Bezug auf die Kategorie «Verheiratet» aufweisen, ist auch hier ein Rückgang im Laufe der Zeit zu sehen. Bei den 25 bis 29-jährigen wie auch bei den 30 bis 34-jährigen Schweizern waren im Jahre 2016 nur um die 13 Prozent weniger verheiratet als am Anfang der neunziger Jahre. Hierbei ist zu beachten, dass die Prozentzahlen der «Schweizer» in der Kategorie «Verheiratet» vergleichsweise schon immer tief waren.

«Die Familienplanung hätten wir gerne erst mit 30 oder 35 gemacht»

Als Vertreterin der mehrheitlich islamisch-nicht abendländischen Kultur dient die Türkei: In der Zeit­spanne von 1993 bis 2016 waren anfänglich 78 Prozent der Türken zwischen 25 und 29 verheiratet, später nur noch 50 Prozent. Die 30 bis 34-jährigen Türken waren zu 85 Prozent verheiratet. 23 Jahre später lag die Zahl der Verheirateten bei 61 Prozent. Die Zahl der ledigen Türken zwischen 30 und 34 belief sich 2016 auf 27 Prozent – knapp 19 Prozent mehr als noch am Anfang der neunziger Jahre.

Die Töchter von Sevim* und Mehmet* wären 1993 also eine Ausnahme gewesen. Beide über 30, geboren und aufgewachsen in Zürich, kinderlos, studiert und länger mit ihren Partnern nicht türkischer Herkunft zusammen. Mehmet findet es lustig, dass ich die Nicht-Türkische-Herkunft der Partner speziell hervorhebe. Sie wünschten sich schliesslich genauso wie andere Eltern auch ihren Töchtern alles Glück auf der Welt und wenn sie glücklich seien mit ihren Entscheidungen, seien sie es als Eltern auch. Das Konzept der türkischen Hochzeit mit vielen Gästen, Verwandten und einer Party, die über Tage, Nächte andauert, empfänden seine Töchter schon bei der blossen Vorstellung als ermüdend. Wenn es nach Sevim und Mehmet ginge, hätten sie selbst auch viel später geheiratet. Gerne hätten sie beide ihr akademisches Potential ausgeschöpft und vielleicht erst so mit 30 oder 35 die Familienplanung in Angriff genommen anstatt mit 21 und 22. Was hätten sie sich nur dabei gedacht? «Nicht viel! Andere haben für uns gedacht», amüsiert sich Mehmet über ihre damalige Naivität. Das sei jetzt schon über 36 Jahre her. «Zaman çabuk geçiyor», sagt Sevim lachend, was so viel bedeutet wie «die Zeit vergeht wie im Flug».

Auf die Frage ob die Stadtzürcher die Lust am Heiraten verlieren, kann man zweifelsohne mit «Ja» antworten. Nur gilt dieser Trend entgegen aller Vorurteile für Stadtzürcher unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten, die bis anhin als traditioneller respektive als heiratsaffiner galten. Die Verbindung von einzelnen Personen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit geschieht demnach durch den Lebensstil, der primär von der jeweiligen Stadt beeinflusst wird.

 

[Anzahl Wörter: 1009 (exkl. Titel, Lead, Grafikbeschriftungen, Methodenbox)]

 *Die Namen aller befragten Personen sind der Autorin bekannt.

**Im Blogbeitrag wurde für das bessere Leseverständnis die männliche Form (z.B. Stadtzürcher, Italiener, Türken usw.) benutzt. Selbstverständlich ist hiermit immer auch die weibliche Form gemeint.

 

Methodenbox
Personendaten wurden von der Statistik Stadt Zürich (SSZ) bezüglich der Zusammenarbeit mit dem Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich (IPZ) zur Verfügung gestellt. Sie enthält über 30 Variablen in mehreren Datensätzen zur Stadt Zürich: Bevölkerung, Wegzug, Zuzug (1993 bis 2016) und ab 2008 bis 2013 für Gebäude und Umzug. Der Jahresabschluss wurde zum Stichtag 31. Dezember des jeweiligen Jahres gemacht. Die Anonymisierung der Daten erfolgte durch die SSZ bevor diese dem Forschungsseminar «Datenjournalismus» weitergeleitet wurden. Dementsprechend konnten keine Rückschlüsse auf Einzelpersonen bei der Auswertung der Daten erfolgen.

Validität der Datenauswertung
Allgemein: Alle Variablen wurden dem Datensatz «Bevölkerung» entnommen. Die Beobachtungen «Unbekannt» der Variable «Zivilstand» wurden von der Datenauswertung ausgeschlossen.

Grafik 2: Die Alterskategorien von 20 bis 44 Jahren wurden zusammengefasst, wobei die Kategorie der 15 bis 19-Jährigen wegen den 15 bis 17-Jährigen nicht miteinbezogen wurde. Eine Unterteilung zwischen «Ausländer» und «Schweizer» wurde bei der Visualisierung berücksichtigt um auszuschliessen, dass der Trend der Ehemüdigkeit vor allem von Inländern verursacht wird. Die Kategorien «In eingetragener Partnerschaft» sowie «Aufgelöste Partnerschaft» wurden weggelassen, weil diese erst 2007 erfasst werden konnten und die Vergleichbarkeit fehlt. Die Kategorie «Verwitwet» wurde ausser Acht gelassen, da es nicht wirklich zur Aussage bezüglich der These «Trend zur Ehemüdigkeit» beiträgt.

Grafik 3: Die Schweizer wurden in die Auswertung miteinbezogen, weil sie als Vergleich resp. «Baseline» dienen. Die anderen Staatsangehörigkeiten wurden vor allem wegen ihrem Status als «Top-Einwanderungsland» sowie der angeblichen «Heiratsaffinität» ausgewählt. Obwohl die Nationalität «Serbien, Montenegro, Kosovo» ab 2010 anders kategorisiert wurde (d.h. als voneinander unabhängige Nationalitäten), wurde sie wegen ihrer vergleichsweise grossen Zahl an Beobachtungen trotzdem bis und mit 2009 ausgewertet.

Abbildungsverzeichnis
Beitragsbild: Screenshot des Facebook-Profils der Autorin. (http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/Titel_Pic-Copy.png [16.12.2017]).

Grafik 1: Screenshot des Facebook-Profils der Autorin. (http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/Titel_Pic.jpg [16.12.2017]).

Grafik 2: Sedef Biçer, Daten: Statistik Stadt Zürich: «Zivilstand der Stadtzürcher im Alter von 20 – 44 Jahren. Anteil verheiratet, ledig und geschieden unterteilt in Ausländer und Schweizer, 1993 – 2016». (http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/Zeitreihe-2-1.png [29.12.2017]).

Grafik 3: Sedef Biçer, Daten: Statistik Stadt Zürich: «Zivilstand nach Alterskategorie und Nationalität. Anteil verheiratet, ledig und geschieden, 1993 – 2016». (http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/smallMulitples.png [16.12.2017]).

Inspirationsquelle
Statistisches Amt des Kantons Zürich, Statistik Info 14/09 (2009): Trend zu höherem Heiratsalter hält an. Ledige heiraten im Schnitt fünf Jahre später als noch 1970. (http://pwiweb.uzh.ch/wordpress/wp-content/uploads/2017/12/si_2009_14_heiratsalter.pdf [17.12.2017]).

Anmerkungen zum Blogbeitrag
Titel: Den Stadtzürchern vergeht die Lust am Heiraten – unabhängig von der Nationalität
Sedef Biçer (sedef.bicer@uzh.ch)
Forschungsseminar: Politischer Datenjournalismus (HS 2017)
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Bruno Wüest, Alexandra Kohler
Abgabedatum: 17.12.2017
Kommentiertes R-Script: R_Script_Sedef_Bicer

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