Prämien, Klimaschutz, Rentenalter – welche Parteien vertreten ihre Wählerschaft am besten? Die Analyse zeigt: Das neugewählte Parlament politisiert teilweise am Volk vorbei.
Das Parlament vertritt das Volk – eigentlich. Doch wie gut wird die Meinung der Bevölkerung wirklich repräsentiert? Themen wie die Bilateralen Verträge, die Beschaffung von Kampfflugzeugen sowie Klimaschutzmassnahmen stehen im kommenden Jahr auf der politischen Agenda. Im Vorfeld der Wahlen hat smartvote die Nationalrätinnen und Nationalräte gefragt, wie sie dazu stehen, 92 Prozent haben teilgenommen. Dieselben oder ähnliche Fragen wurden von sotomo und dem gfs Bern auch dem Stimmvolk vorgelegt. Der Vergleich von acht Fragen zeigt: die Meinung der Wählerinnen und Wähler wird nicht immer vertreten.
Thema | Frage |
---|---|
Begrenzung der Einwanderung vs. Bilaterale | Ist die Begrenzung der Einwanderung für Sie wichtiger als der Erhalt der Bilateralen Verträge mit der EU? |
Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare | Sollen gleichgeschlechtliche Paare in allen Bereichen die gleichen Rechte wie heterosexuelle Paare haben? |
Beschaffung neuer Kampfflugzeuge | Befürworten Sie die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge für die Schweizer Armee? |
Klimaschutzmassnahmen mit Kostenfolgen | Befürworten Sie Massnahmen zum Klimaschutz in der Schweiz mit Kostenfolgen, die im Alltag deutlich spürbar sind (Treibstoffabgabe, Gebäudevorschriften, Road-Pricing usw.)? |
Organspende-Initiative | Befürworten Sie die Organspende-Initiative? |
Verbilligung der Krankenkassenprämien | Sind Sie dafür, dass die Krankenkassenprämien auch für mittlere Einkommen mit Steuergeldern verbilligt werden? |
Erhöhung Rentenalter | Befürworten Sie eine Erhöhung des Rentenalters (z. B. auf 67 Jahre)? |
Steuersenkungen auf Bundesebene | Haben für Sie Steuersenkungen auf Bundesebene in den nächsten vier Jahren Priorität? |
Am deutlichsten unterscheiden sich die Ansichten zwischen Parlament und Stimmbevölkerung bei der Verbilligung der Krankenkassenprämien. Während sich die Wähler/innen mit einer Zustimmung von 56% relativ deutlich für eine Vergünstigung aussprechen, findet die Thematik im Nationalrat keine Mehrheit.
Auch beim Klima sind sich Volk und Volksvertreter nicht einig. Hier zeigen sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier klimafreundlicher: 66 Prozent befürworten Klimaschutz-Massnahmen mit spürbaren Kostenfolgen – im Volk wollen dies bloss knapp 54 Prozent.
Parlament und Wähler/innen
Zustimmung in %
Die Erhöhung des Rentenalters, die Einführung gleicher Rechte für gleichgeschlechtliche Paare sowie Steuersenkungen werden von der kleinen Kammer am besten repräsentiert. Die Zustimmungsraten weichen bei diesen Themen nur um wenige Prozentpunkte voneinander ab. Während jedoch weder die Erhöhung des Rentenalters noch Steuersenkungen auf Bundesebene eine Mehrheit finden, steht der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare nichts im Weg.
Kampfjet-Referendum könnte Erfolg haben
Die Beschaffung von neuen Kampfflugzeugen wird in unserer Analyse von den Nationalräten und Nationalrätinnen mit deutlich grösserer Mehrheit unterstützt als von den Wählerinnen und Wählern. Tatsächlich wurde im Nationalrat Anfang Dezember die Beschaffung von Kampfflugzeugen für maximal 6 Milliarden Franken beschlossen. Die Abstimmung fiel mit 123 zu 68 Stimmen aus, trotz einigen Abweichlern entspricht die erreichte Zustimmung von 64% fast punktgenau der errechneten Zustimmung aufgrund der smartvote-Daten (65%). Sollte das angekündigte Referendum der Gruppe Schweiz ohne Armee zustande kommen, könnte es somit einen knappen Entscheid geben.
Befürworten Sie die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge für die Schweizer Armee?
Bei den zwei SP-Mitgliedern auf der Ja-Seite handelt es sich um Cédric Wermuth und Edith Graf-Litscher. Obwohl diese bei smartvote angaben, grundsätzlich für die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge zu sein, stimmten sie im Nationalrat ‘Nein’. Auch die einige glp-Parlamentarier aus dem ’Nein’-Lager änderten ihre Meinung: Kathrin Bertschy, Melanie Mettler und Barbara Schaffner enthielten sich in der Schlussabstimmung, Jörg Mäder stimmte im Nationalrat ’Ja’.
FPD-Basis vielleicht doch nicht so klimafreundlich
Differenziert nach Parteien bestätigt sich das Bild, dass Politiker und Politikerinnen ihre Basis nicht bestmöglich vertreten. Gerade in der Positionierung der Parteien zur Klimapolitik gibt es Differenzen. Die Haltung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier ist dabei polarisierter als diejenige der Wählerschaft. Die klimapolitische Kehrtwende der FDP scheint bei ihrer Basis nur bedingt anzukommen. Während weniger als die Hälfte der FDP-Wählerinnen und Wähler Klimaschutzmassnahmen mit Kostenfolgen einführen möchten, liegt die Zustimmung der FDP im Parlament bei ganzen 75 Prozent. Obwohl ein strengerer Kurs in der Klimafrage von der FDP-Basis grundsätzlich unterstützt wurde, scheint dies nicht mehr zuzutreffen sobald die Massnahmen zu Kosten führen.
Befürworten Sie Massnahmen zum Klimaschutz mit Kostenfolgen, die im Alltag deutlich spürbar sind?
Zustimmung in %
Grosse Differenzen beim Thema Prämienverbilligungen
Neben der aktuellen Debatte um das Klima, sind auch die Krankenkassenprämien ein Thema, welches die Bevölkerung stark beschäftigt. Ausser bei den Grünen und der SP ist die Zustimmung zum Ausbau der Prämienverbilligungen der Parteiwähler und -wählerInnen deutlich grösser als bei den Parteien. Am offensichtlichsten zeigt sich der Graben bei der CVP: Eine Mehrheit der Basis befürwortet den Ausbau, während kein/e CVP-Abgeordnete/r im Parlament zustimmt. Auch bei der SVP befürwortet eine knappe Mehrheit der Basis die Vergünstigung von Prämien, jedoch stimmen bloss 9% der Parteielite zu.
Gegebenenfalls sind die grossen Differenzen darauf zurückzuführen, dass die Thematik leicht unterschiedlich abgefragt wurde. Die Wählerinnen und Wähler beantworteten die Frage nach Prämienvergünstigungen für mittlere Einkommen. Hingegen wurden die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nach der SP-Initiative zur Entlastung der Krankenkassenprämien gefragt (siehe Methode). Die grossen Differenzen lassen aber dennoch darauf schliessen, dass sich hier ein Graben zwischen Basis und Elite auftut.
Sind Sie dafür, dass die Krankenkassenprämien auch für mittlere Einkommen mit Steuergeldern verbilligt werden?
Zustimmung in %
Vergleich zwischen den Parteien
Durchschnittliche Differenz über alle 8 Themen
FDP | SVP | CVP | SP | Grüne | glp | Total |
---|---|---|---|---|---|---|
27.42 | 24.1 | 22.63 | 18.37 | 18.16 | 17.63 | 9.13 |
Über alle Themen verteilt gibt es die grössten Differenzen zwischen Basis und Parlamentarier/innen bei der FDP. Neben Prämien und Klima werden die FDP-Sympathisanten auch bezüglich dem Bestreben das Rentenalter zu erhöhen nur ungenügend vertreten.
Am nächsten bei den Anhängern politisiert aber auch nicht etwa die SVP, welche sich besonders volksnah gibt, sondern die glp, dicht gefolgt von den Grünen und der SP. Während die SVP-Anhängerschaft beim Schlüsselthema Einwanderung gut von der Partei vertreten wird, scheint der Graben bei den Prämien und Steuern zu verlaufen. Die glp hingegen politisiert in den meisten Bereichen nahe bei ihrer Wählerschaft. Die durchschnittliche Differenz über alle Themen beträgt hier bloss knapp 18 Prozentpunkte. Im Vergleich zur FDP und SVP liegt dies fast 10 Prozentpunkte tiefer.
Die Schwarz-Weiss Debatten aus der grossen Kammer überdecken, dass bei der Basis Gaustufen vorherrschen. Obwohl sowohl Unterschiede in der Repräsentation der einzelnen Themen als auch bei den Parteien bestehen, ist zu erkennen, dass die Basis meistens gemässigtere Positionen einnimmt. Ein Erklärungsansatz dafür, warum die Wählerinnen und Wähler extreme Parteien wählen, ist das strategische Wählen. Demnach werden gezielt Parteien gewählt, welche polarisierte Positionen vertreten. Den Wählerinnen und Wählern ist bewusst, dass die Partei nicht alleine bestimmen kann, sondern lediglich die Mitte etwas nach links oder rechts verschieben verschoben wird.
Differenzen Partei und Basis
Um die weiteren Differenzen zwischen der Basis und Parlamentarier/innen zu sehen, wählen Sie das gewünschte Thema aus.
*In der ersten Version des Artikels vom 17. Februar 2020 wurde Bezug auf die Eintrittsabstimmung zur Beschaffung von Kampfflugzeugen genommen. Die Angaben wurden nun in Bezug zu der Schlussabstimmung vom 20. Dezember 2019 angepasst.
Informationen zum Blogbeitrag
Name: Virginia Wenger
Matrikelnummer: 15-102-239
E-Mail: virginia.wenger@uzh.ch
Seminar: Politischer Datenjournalismus (HS 2019)
Leitung: Theresa Gessler, Fabrizio Gilardi, Alexandra Kohler
Abgabedatum: 20. Dezember 2019
Anzahl Wörter: 945
Quellen
Für die Antworten der Kandidierenden wurden Daten von der Online Wahlhilfe smartvote verwendet. Daten zur Zustimmung der Wählerinnen und Wähler stammen aus der sotomo-Wahltagsbefragung (18.-21.10.2019, N = 17’392; +/- 1.2 Prozentpunkte). Für die Zustimmung der Wählerinnen zu der Organspende-Initative wurden Daten vom gfs Bern verwendet (Umfrage für siwsstransplant; 19. August – 02. September 2019; N = 1’205; +/- 2.9 Prozentpunkte).
Analyse
Die Antwortmöglichkeiten im smartvote-Fragebogen bestehen aus vier Kategorien: ‘Ja’, ‘eher Ja’, ‘eher Nein’ und ‘Nein’. Für die Analyse wurden diese in die Kategorien ‘Ja’ (Ja und eher Ja) und ‘Nein’ (Nein und eher Nein) umcodiert. Die Gewichtung der Wählerdaten wurde direkt von sotomo vorgenommen. Nach der Umcodierung und dem Zusammenführen der Datensätze wurde die Zustimmung pro Partei für die 6 grössten Parteien im Nationalrat berechnet. Parlamentarier/innen der ALG und BastA! wurden den Grünen zugeteilt, die Mitglieder der LDP der FDP, Mitlgieder der EVP wurden der CVP und der EDU und Lega der SVP zugeordnet. Die angegebenen Differenzen setzen sich aus der Zustimmung der Wähler/innen minus der Zustimmung der Parlamentarier/innen zusammen.
Den Code zur Analyse und den Grafiken finden Sie hier.
Bemerkungen bezüglich der Fragen
Die Frage zur Erhöhung des Rentenalter, der Begrenzung der Einwanderung, Steuersenkungen, der Einführung gleicher Rechte für gleichgeschlechtliche Paare sowie die Frage zur Beschaffung von Kampfflugzeugen wurde den Wähler/innen und Parlamentarier/innen im gleichen Wortlaut vorgelegt. Bei den anderen drei Fragen gab es leichte differenzen:
Wähler/innen:
- Sind Sie dafür, dass die Krankenkassenprämien auch für mittlere Einkommen mit Steuergeldern verbilligt werden?
- Befürworten Sie Massnahmen zum Klimaschutz in der Schweiz mit Kostenfolgen, die im Alltag deutlich spürbar sind (Treibstoffabgabe, Gebäudevorschriften, Road-Pricing usw.)?
- Befürworten Sie die Organspende-Initiative?
Parlamentarier/innen:
- Eine Initiative fordert, dass die Prämienverbilligung so ausgestaltet wird, dass niemand mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für die Krankenkassenprämien aufwenden muss. Befürworten Sie dies?
- Bislang wird auf fossile Brennstoffe (z.B. Heizöl oder Erdgas) eine CO2-Abgabe erhoben. Soll diese Abgabe auch auf Treibstoffe (z.B. Benzin und Diesel) ausgeweitet werden?
- Würden Sie die Einführung der Widerspruchslösung bei der Organspende befürworten?
Aufgrund dieser Unterschiede sind die Differenzen bei diesen Fragen mit Vorsicht zu interpretieren.
smartvote Daten
Ein oft eingebrachter Einwand für die Nutzung von smartvote-Daten ist, dass sich das Stimmverhalten der Parlamentarier und Parlamentarierinnen von den Angaben bei smartvote unterscheidet. Untersuchungen zeigten, dass dies in rund 80% der Fälle nicht der Fall ist. Obwohl es natürlich Unterschiede zwischen den einzelnen Parlamentariern gibt, eignen sich die Antworten der smartvote-Befragung daher für die Analyse.