Im Deutschen hält die geschlechtergerechte Sprache nur langsam Einzug. Wie sieht es damit bei den National- und Ständeratskandidat*innen im Auftakt zu den Wahlen 2019 aus? Eine Twitter Sprachanalyse soll Aufschluss geben.
Die deutsche Sprache gehört zu derjenigen Sprachgruppe, die ein Genussystem verwendet. Das heisst, dass jegliche Substantive einem grammatischen Geschlecht zugeordnet werden. Diese geschlechtsspezifische Sprachgruppe, welche starke männliche und weibliche Bindungen aufbaut, ist die ungleichste was Geschlechtergleichheit angeht (Criado Perez 2019). Nehmen wir das Substantiv Kandidat als Beispiel: Aus sprachlicher Sicht kann ein Kandidat eine Frau oder ein Mann sein. Dabei denkt jedoch Studien zu Folge kaum jemand an eine Frau (Prewitt-Freilino, Caswell & Laakso 2012; Criado Perez 2019). Eine weitere Eigenheit dieser grammatikalischen Form ist der Vorzug des maskulinen Plurals: 99 Kandidatinnen werden zu 100 Kandidaten, sobald ein einziger Mann dazu stösst.
Die alltägliche Verwendung der deutschen Sprache sieht jedoch nicht nur grammatikalische, sondern auch hierarchische Gegensätze zwischen den Geschlechtern (Stahlberg, Sczesny & Braun 2001). Professionelle Sportlerinnen gehören nicht der Nationalmannschaft an, sondern der Frauen Nationalmannschaft. Die „normale“ Nationalmannschaft wird ganz klar als etwas männliches gesehen. Eine weibliche Nationalmannschaft ist die Abweichung dieser Norm. Dies kommt zwar von einer historisch bedingten sozialen Ungleichheit, jedoch bleibt diese Hierarchie von Norm und Abweichung in vielen Teilen der Sprache weiterhin bestehen (Criado Perez 2019).
Die geschlechtergerechte Sprache wird grundsätzlich in zwei Gruppen eingeteilt: die Neutralisierung und die Feminisierung. Neutralisierung heisst, das Geschlecht wird bei personenbezogenen Substantiven neutralisiert. Beispiele dafür sind das Personal anstelle von Arbeiter, oder die Studierenden anstelle von Studenten. Während die Neutralisierung versucht, das Geschlecht unsichtbar zu machen, sorgt die Feminisierung dafür, Frauen in der Sprache sichtbar zu machen (Stout, Dasgupta 2011; Sczensy, Formanowicz, & Moser 2016). Bestimmte Formen der Feminisierung werden bereits sehr regelmässig im Alltag gebraucht, zum Beispiel in Ansprachen; „liebe Kollegen und Kolleginnen“.
Doch auch die Feminisierung stösst an sprachliche Grenzen, denn das Geschlecht ist nicht nur auf Frauen und Männer begrenzt (Newman 2018). Um Personen, welche sich nicht als Frau oder Mann identifizieren zu inkludieren, sind in den letzten Jahren weitere Arten der geschlechtergerechten Sprache aufgegriffen worden. Diese sind in der obigen Tabelle als Genderinklusive bezeichnet.
Der Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht (Sex vs Gender)
Das englische Wort Sex für Geschlecht bezieht sich auf biologische und genetische Eigenschaften, wie zum Beispiel Geschlechtsteile oder Chromosomen. Häufig geht man in der breiten Bevölkerung hier von einer Dichotomie, Mann und Frau, aus. In der Wissenschaft geht man auch bei Sex von mehr als zwei Geschlechtern aus, zum Beispiel Intersex Menschen.
Das englische Wort Gender für Geschlecht dagegen, bezieht sich auf das sozial konstruierte Geschlecht. Dies ist unter anderem die kulturelle und persönliche Geschlechteridentität. Hierunter fallen cis-Männer und Frauen, Transmenschen sowie non-binäre Menschen. Non-binäre Menschen fühlen sich weder als Frau, noch als Mann und bevorzugen häufig mit Namen anstatt Pronomen angesprochen zu werden.
Weitere Informationen zu den Themem Sex und Gender, Transmenschen und non-binäre Menschen finden sie auf den verlinkten Seiten.
Um die Sprache der National- und Ständeratskandidat*innen während des Wahlkampfs zu untersuchen, wurden Daten des Digital Democracy Labs ausgewertet. Das DDL sammelte sämtliche Twitterdaten der Kandidierenden zwischen Januar und Oktober 2019. In Anbetracht der Daten stellt sich zuerst die Frage – wer twitterte denn überhaupt?
Fast zwei Drittel der twitternden Kandidierenden sind männlich. 40% der offiziellen Kandidat*innen der letztjährigen Wahlen waren jedoch weiblich; wir sehen hier eine leichte Übervertretung der Männer in der online Präsenz. Ebenfalls wird ersichtlich, dass Kandidaten weit häufiger twittern: 77.5% der analysierten Tweets stammen von Männern.
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Das Medianalter der twitternden Kandidat*innen ist 36 Jahre. Deswegen erstaunt es wenig, dass die unter 38-jährigen (Durchschnittsalter) hier in der Anzahl Onlinekandidat*innen und Anzahl Tweets leicht vorne liegen.
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Die Parteien mit den meisten twitternden Kandidat*innen sind die glp, gefolgt von der FDP und CVP. Am meisten Tweets verfassten die Kandidierenden der CVP, glp und der jungen glp. Die Mitteparteien waren demnach über den beobachteten Zeitraum die aktivsten auf Twitter.
Für die ersten beiden Analysen des Sprachgebrauchs wurde die Verwendung von spezifischen Wörtern getestet. Bei Wahlen geht es vor allem um zwei Akteure: die Kandidat*innen und die Wähler*innen (inklusive Bürger*innen). Die erste Analyse zeigt, wie oft die rein weibliche Form (z.B. Kandidatin) oder rein männliche Form (z.B. Bürger) der Wörter verwendet wurde.
Diese Häufigkeiten werden mit denen der Doppelnennung abgeglichen. Bei der Doppelnennung werden beide, die männliche und weibliche Wortform verwendet; zum Beispiel Wähler & Wählerinnen. Was hier relevant wird, ist die Reihenfolge der weiblichen und männlichen Form. Wer wird zuerst genannt, der Kandidat oder die Kandidatin?
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Die Doppelnennung wird weit weniger häufig verwendet als die rein männliche oder weibliche Wortform. Dies kann gut erklärt werden, da oft über nur eine Kandidatin oder ein Kandidat gesprochen wurde. Die rein männliche Wortform, wird mehr als zweimal so häufig verwendet, als die rein weibliche Form; es hatte bei diesen Wahlen jedoch weder doppelt so viele Kandidaten, Bürger oder Wähler. Entweder wurde einfach öfters über Männer gesprochen, oder das generische Maskulinum wurde auch zur Beschreibung von Frauen verwendet.
Männliche Twitternde benutzten die rein männliche Form doppelt so oft als ihre Kolleginnen. Während twitternde Kandidatinnen die rein weibliche Form ebenfalls doppelt so häufig verwenden als Kandidaten, benutzten die Frauen auch die Doppelnennung um ein zweifaches mehr. Interessant ist, dass die Reihenfolge Frau vor Mann, zum Beispiel Bürgerinnen und Bürger, viel regelmässiger benutzt wurde als die Reihenfolge Mann vor Frau. Diese Art der Sprache, in welcher die Feminisierung sichtbar wird, hat sich sichtlich in den alltäglichen Gebrauch eingenistet.
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Im Vergleich zwischen den alten und jungen Kandidat*innen auf Twitter sehen wir nicht ganz so starke unterschiede. Auch hier wurde die Doppelnennung im Vergleich zu den Einzelnennungen weit weniger häufig verwendet. Auch die Kombination weiblich vor männlich wurde regelmässiger verwendet, vor allem von den älteren Kandidat*innen. Die männliche Einzelform wurde von Alten und Jungen um ein mehrfaches öfters verwendet als die rein weibliche Form. Während die Jungen die nur männliche Form öfters verwendeten, waren es bei der weiblichen Form die Alten.
Die nächste Analyse befasste sich mit einer weiteren Form der geschlechtergerechten Sprache; dem Anpassen der Wortenden. In der obigen Tabelle sind alle möglichen Arten der Wortanpassung aufgelistet, auf diese wurde der gesamte Datensatz getestet.
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Die meist verwendeten Anpassungen der Wortenden waren das Binnen-I (z.B. KandidatInnen) und der Gendergap (z.B. Politiker_Innen). Die twitternden Kandidatinnen benutzen diese Form der geschlechtergerechten Sprache regelmässiger als ihre Kollegen. Ein weniger erstaunlich ist jedoch, dass die älteren Kandidat*innen diese Wortanpassung häufiger als ihre jüngere Konkurrenz.
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Nicht erstaunlich ist, dass die AL ZH diese Form der Sprache am häufigsten benutzt. Sie setzen sich stark für Gleichstellung, Emanzipation und das Aufsprengen der traditionellen Geschlechterrollen ein. Während die junge EVP auf dieser Ebene punktet, überrascht es, dass die JUSO nicht in der Liste der top 10 Parteien zu finden ist. Sie folgt auf Platz 15, geschlagen von den Jungparteien der EVP, glp, CVP und BDP.
Zuletzt folgt eine Analyse der individuellen Kandidat*innen. Der fleissigste Verwender der geschlechtergerechten Sprache ist Silvio A. Fareri (CVP). Der Jungpolitiker aus Basel-Landschaft sticht weder in den Medien, noch in seinem Smartvoteprofil als Vertreter von moderner Geschlechterpolitik hervor, twittert aber oft über Kandidatinnen und deren Erfolge. Marc Schinzel, ein freisinniger Basler Landrat mischt ebenfalls weit vorne mit. Auch dass erstaunt. Denn keiner der beiden Männer treibt an ihren politischen Posten die Geschlechterpolitik voran.
Was jedoch neun von zehn dieser Kandidat*innen gemeinsam haben, ist eine Tertiärausbildung. Die meisten davon haben an einer Universität studiert, einige an Fachhochschulen oder am Lehrerseminar. Wie jedoch die Benutzung der geschlechtergerechten Sprache mit der Bildung zusammenhängt müsste genauer untersucht werden. Während die linken Kandidat*innen die Geschlechtergerechtigkeit auf ihren Webseiten und im Wahlkampf vorstossen, scheint es bei den rechten eine persönliche, keine politische Entscheidung zu sein, die geschlechtergerechte Sprache zu benutzen.
Warum ist die Verwendung dieser Sprache nun so wichtig? Länder in welchen eine Sprache mit Genusssystem gesprochen wird, punkten signifikant schlechter im Global Gender Gap Report (Prewitt-Freilino, Caswell & Laakso 2012). Frauen fühlen sich durch das generische Maskulinum oft nicht angesprochen und bewerben sich zum Beispiel weit weniger häufig auf ausgeschriebene Stellen wenn das generische Maskulinum in der Ausschreibung verwendet wurde (Stout & Dasgupta 2011; Criado Perez 2019). Doch bereits Kinder können von der Verwendung der geschlechtergerechten Sprache profitieren: der Gebrauch der Doppelform (Ingenieur und Ingenieurinnen) veränderte die Vorstellung und das Interesse von Mädchen an sonst typischen Männerberufen positiv (Vervecken, Hannover & Wolter 2013).
Das generische Maskulinum war im Wahlkampf sehr präsent. Weit häufiger wird nur über den Kandidaten als über Kandidatinnen gesprochen – egal wer damit gemeint war. Im allgemeinen sind es auf Twitter vor allem die Links- und Mitte-Parteien sowie die Frauen die geschlechtergerechte Sprache benutzen. Doch die Wahl, geschlechtergerechte Sprache zu integrieren, scheint auch regelmässig aus persönlichen Gründen getroffen zu werden.
Daten, Methoden und Validität
Die hier verwendeten Daten wurden vom Digital Democracy Lab gesammelt und zur Verwendung im Forschungsseminar zur Verfügung gestellt. Der Datensatz wurde nach Stände- und Nationalratskandidat*innen gefiltert. Der gesamte Code kann hier eingesehen werden. Um die Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Grafiken zu ermöglichen wurde die relative Häufigkeit ermittelt, das heisst die Analysen wurden immer im Vergleich zu der Gesamtanzahl der Tweets der spezifischen Gruppe über den Beobachtungszeitraum gerechnet. Für die fleissigsten Verwender wurde die Häufigkeit der Doppelnennung sowie die Wortenden Analysen summiert. Von dieser Summe wurde die Differenz von Anzahl Einzelnennungen Männer und Frauen abgezogen.
Literaturverzeichnis
Criado Perez, C. (2019). Invisible Women. London: Chatto & Windus.
Gygax, P., Gabriel, U., Sarrasin, O., & Garnham, A. (2008). Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians and mechanics are all men. Language and cognitivee processes, 464-485.
Newman, T. (2018). Sex and gender: What is the difference? Abgerufen am 2020 von MedicalNewsToday: https://www.medicalnewstoday.com/articles/232363
Prewitt-Freilino, J., Caswell, A., & Laakso, E. (2012). The Gendering of Language: A Comparison of Gender Equality in Countries with Gendered, Natural Gender, and Genderless Languages. Sex Roles, 268-281.
Sczensy, S., Formanowicz, M., & Moser, F. (2016). Can Gender-Fair Language Reduce Gender Stereotyping and Discrimination? Frontiers in Psychology, 1-11.
Stahlberg, D., Sczesny, S., & Braun, F. (2001). NAME YOUR FAVORITE MUSICIAN Effects of Masculine Generics and of Their Alternatives in German. JOURNAL OF LANGUAGE AND SOCIAL PSYCHOLOGY , 464-469.
Stout, J., & Dasgupta, N. (2011). When He Doesn’t Mean You: Gender- Exclusive Language as Ostracism. Personality and Social Psychology Bulletin, 757-769.
Vervecken, D., Hannover, B., & Wolter, I. (2013). Changing (S)expectations: How gender fair job decriptions impact children’s perceptions and interest regarding traditionally male occupations. Journal of Vocational Behaviour, 208-220.
Walker, P. L., & Collins Cook, D. (1998). Brief communication: Gender and sex: Vive la difference. American Journal of Physical Anthropology, 255-259.
Informationen zum Blog
Autor: Anna Meisser, 16-702-243, anna.meisser@uzh.ch
Modul: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus
Dozenten: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Theresa Gessler, Alexandra Koller
Abgabedatum: 14.06.2020
Anzahl Worte: 1012
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