An Schweizer Gymnasien sind die Frauen seit einigen Jahren in der Überzahl. Führt das auch zu mehr weiblichem Interesse an Schulfächern, die traditionell von Männern belegt werden? Ein Blick auf die Lage im Kanton Zürich zeigt: nicht unbedingt.
In der Schweiz machen immer mehr junge Menschen eine Matura.[1] Während vor vierzig Jahren nur 10 Prozent der Jugendlichen das Gymnasium absolvierten, ist die Maturitätsquote seither deutlich angestiegen, zuletzt auf 22 Prozent schweizweit.[2] Dieser Zuwachs ist vor allem den Frauen zu verdanken. Schon Ende der Neunzigerjahre schlossen mehr Frauen als Männer das Gymi ab, und sie haben ihren Vorsprung immer weiter ausgebaut: 2019 besassen 26.3 Prozent der unter 25-jährigen Frauen eine gymnasiale Maturität, bei den Männern waren es 18 Prozent.
In der föderalistischen Schweiz variiert die Gymiquote aber stark zwischen den Kantonen. Der folgende Beitrag untersucht anhand von Daten der kantonalen Bildungsstatistik, wie sich die weibliche Maturitätsquote in Zürich, dem bevölkerungsreichsten Schweizer Kanton, im letzten Jahrzehnt entwickelt hat. Auf dem ersten Blick muss man/frau konstatieren: Es hat sich nicht viel getan. Seit 2011 erwerben Frauen knapp 60 Prozent aller Zürcher Maturitätsabschlüsse, der Anteil ist fast konstant geblieben. Auch bei der Wahl des Schwerpunktfachs haben sich bestehende Muster eher verfestigt – das Geschlecht beeinflusst die Profilwahl nach wie vor stark.
Männer wählen eher naturwissenschaftliche Schwerpunkte, Frauen setzen auf Sprachen oder Kunst
Wer in Zürich eine Matura an einem öffentlichen Gymnasium macht, muss sich in der Regel[3] zwischen fünf Spezialisierungen entscheiden: Alte Sprachen (Latein und/oder Griechisch), Moderne Sprachen, Mathematik/Naturwissenschaften, Musik/Bildnerisches Gestalten oder Wirtschaft und Recht. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Profil lässt sich weiter in die Schwerpunktfächer Biologie/Chemie und Physik/Anwendungen der Mathematik unterteilen, das musische Profil in die Schwerpunkte Musik und Bildnerisches Gestalten.
In den letzten Jahren berichteten Medien immer wieder über den sogenannten MINT-Fachkräftemangel. «MINT» steht für die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, in welchen der Wirtschaft der Nachwuchs fehlt. Insbesondere die Frauen würden sich (zu) wenig für diese Wissenschaften interessieren, sei es in der Berufsbildung oder bei der Studienwahl. Auch der Kanton Zürich befasst sich mit dieser bildungspolitischen Knacknuss: Seit 2010 gibt es den Massnahmenkatalog NaTech, welcher unter anderem darauf abzielt, junge Frauen für naturwissenschaftliche und technische Fächer zu begeistern.
Ein Blick auf die Geschlechterverteilung der Schwerpunktfächer an Zürcher Gymnasien zeigt aber: Die Männer bleiben im MINT-Bereich in der Mehrzahl. Im betrachteten Zeitraum machten Maturandinnen nur 45 Prozent aller Abschlüsse in Bio und Chemie; beim Schwerpunkt Physik/Anwendungen der Mathematik beträgt der Frauenanteil knapp ein Viertel. Auch im Bereich Wirtschaft und Recht dominieren die Männer. In allen anderen Profilen hingegen liegen die Frauen vorne: bei den alten Sprachen (58 Prozent), den neuen Sprachen (69 Prozent), und insbesondere im musischen Profil – 84 Prozent der Abschlüsse mit Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten gehen an Frauen. Die Daten belegen also, wie hartnäckig sich diese klischeehaften Vorlieben unter den Zürcher Gymnasiastinnen halten. Und: Trotz Initiativen wie NaTech zeichnet sich seit 2011 keine Trendwende ab.
Innerhalb der Profile variiert die Frauenquote je nach Gymnasium
Allerdings betreibt Zürich kantonsweit 21 öffentliche Gymnasien. Es stellt sich die Frage, ob es für die Geschlechteranteile in den einzelnen Schwerpunktfächern einen Unterschied macht, welche Mittelschule man/frau besucht.
Auf den Grafiken unten wird ersichtlich, dass sich die Frauenanteile je nach Mittelschule bedeutend unterscheiden können. Die grösste Diskrepanz lässt sich beim neusprachlichen Profil feststellen: An der Kantonsschule Birch[4] waren 93 Prozent der Maturand:innen weiblich, am Realgymnasium Rämibühl im Schnitt nur 54 Prozent. Auch beim Schwerpunkt Musik sind die Unterschiede teilweise sehr gross. Zwischen der Kantonsschule Limmattal (88 Prozent Frauen) und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium Rämibühl[5] (54 Prozent) liegen ganze 34 Prozentpunkte.
Einige Mittelschulen stechen bei der Gegenüberstellung heraus. Die Winterthurer Kantonsschule Im Lee zeigt eine sehr stereotypische Geschlechterverteilung: Bei den Schwerpunkten Alte Sprachen (71 Prozent) und Bildnerisches Gestalten (94 Prozent) erreicht sie den kantonsweit höchsten Frauenanteil, beim neusprachlichen Profil den zweithöchsten (81 Prozent). Im MINT-Schwerpunkt Biologie und Chemie (37 Prozent) zählt die KS Im Lee hingegen zu den Schlusslichtern. Beim Profil Physik/Anwendungen der Mathematik liegt sie im Schnitt (22 Prozent). Rektor Arno Germann zeigt sich überrascht über die Zahlen, die er sich nicht wirklich erklären könne. Auf Anfrage meint er allerdings, dass die Unterscheidung zwischen Lang- und Kurzzeitgymnasien im Winterthurer Kontext möglicherweise weiterhelfe: «Wer ins MN-Profil will aus dem Untergymnasium, muss die Schule wechseln. Vielleicht ist dieser Wunsch bei den Jungs ausgeprägter vorhanden, während Mädchen in diesem Alter lieber die vertraute Schule behalten, auch wenn das Profil nicht ganz passt.» Nach dieser Interpretation würde das Kurzzeitgymi Im Lee besonders viele naturwissenschaftlich interessierte Jungs vom benachbarten Langzeitgymnasium Rychenberg anziehen, welches dieses Profil nicht anbietet.
Auch Christina Gnos, stellvertretende Leiterin der Abteilung Mittelschulen des Mittelschul- und Berufsbildungsamts des Kantons Zürich, sieht hierin einen potenziellen Erklärungsfaktor. Es sei schwierig, reine Langzeitgymnasien mit spezialisierten Kurzzeitgymnasien zu vergleichen, da andere Mechanismen hinter der Schwerpunktfachwahl liegen würden. Dies zeige sich bei den Langzeitgymnasien: «In diesem Alter ist vor allem die räumliche Nähe zentral. Wenn ich als Schüler:in aber ein Schwerpunktfach wähle, das nicht an der ursprünglichen Schule angeboten wird, dann muss ich die Schule wechseln. […] Doch die Hürde ist wegen des sozialen Umfelds recht hoch.» Darum sehe man zum Beispiel beim altsprachlichen Profil, dass fast alle Schulen mit eher tiefen Frauenanteilen reine Langzeitgymnasien sind. Deren Schüler:innen müssten sich also weniger aktiv für ein bestimmtes Profil entscheiden, sondern wenn schon gegen das bestehende Angebot. Bei den Kurzgymnasien spielten die spezifischen fachlichen Vorlieben hingegen eine grössere Rolle. Forschungsergebnisse zeigten, dass laufbahnbezogene Entscheidungen genderstereotypischer ausfallen, je später sie getroffen werden müssen. Dies könne sich auch in den Frauenanteilen an den verschiedenen Gymnasien widerspiegeln.
Dagegen sprechen allerdings die auffallend hohen Frauenquoten in den MINT-Fächern an der Kantonalen Mittelschule für Erwachsene (KME). Sie bietet Maturitätslehrgänge für bereits volljährige Schülerinnen und Schüler an. Im Schwerpunkt Physik/Anwendungen der Mathematik geht dort jeder dritte Abschluss an eine Frau (kantonaler Durchschnitt: 23 Prozent). Die KME ist die einzige Mittelschule, an der Frauen im Profil Biologie/Chemie in der Mehrheit sind (55 Prozent). Und im eher männlich geprägten Profil Wirtschaft und Recht erreicht die KME zusammen mit der KS Limmattal den höchsten Frauenanteil im Kanton (47 Prozent). Diese vergleichsweise hohen Zahlen könnten darauf hindeuten, dass sich weiterbildungswillige erwachsene Frauen eher von Geschlechterklischees lösen als Frauen im Teenageralter – belegen lässt sich das mit den vorliegenden Daten aber nicht.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Obwohl sie mittlerweile seit vielen Jahren in der Mehrzahl sind, überlassen Zürcher Gymnasiastinnen die naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Schwerpunkte weiterhin den Männern. Doch je nach Schule können die Geschlechteranteile deutlich schwanken – neben der Unterscheidung zwischen Kurz- und Langgymnasien spielen hier wohl weitere Rahmenbedingungen eine Rolle, die sich allerdings nur schwer messen lassen.
[1] Im Beitrag ist mit «Matura», «Maturitätsabschluss» immer die gymnasiale Maturität gemeint. Fach- und Berufsmaturitäten wurden in der Analyse nicht berücksichtigt.
[2] Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Berechnungsmethode 2015 geändert wurde. Neu wird die mittlere Nettoquote über drei Jahre ausgewiesen.
[3] Eine Ausnahme bildet das zweisprachige International Baccalaureate (IB), das an den Real- und Literargymnasien Rämibühl angeboten wird. Hier liegt der Schwerpunkt auf den Erwerb der englischen Sprache sowie ausgeprägter Sozialkompetenzen.
[4] Die KZB gibt es heute nicht mehr. Sie wurde 2012 mit der Kantonsschule Oerlikon, die sich am gleichen Standort befand, zur Kantonsschule Zürich Nord (KZN) fusioniert.
[5] Hier ist es wichtig zu betonen, dass es sich um Klassen des assoziierten Kunst- und Sportgymnasiums handelt, die dem MNG Rämibühl zugerechnet werden.
Informationen zum Blogbeitrag
Verfasserin: Jenny Roberts
E-Mail: jennifer.meredith.roberts@gmail.com
Lehrveranstaltung: Vorbereitung zum Forschungsseminar «Politischer Datenjournalismus» (HS 2021)
Dozierende: Dr. Theresa Gessler, Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Alexandra Kohler
Abgabedatum: 02. Januar 2022
Anzahl Wörter (exkl. Lead, Anhang und Fussnoten): 1037
Daten, Validität und Methoden
Die Daten für die Analyse wurden von der Bildungsstatistik des Kantons Zürich zur Verfügung gestellt. Analysiert wurde die Anzahl gymnasialer Maturitätsabschlüsse an öffentlichen Schulen im Zeitraum 2011-2020. Maturitätsabschlüsse an Fach-, Handels- oder Berufsmittelschulen waren nicht Teil der Analyse.
Hier geht’s zum Code der gezeigten Grafiken.
Beim Vergleich der Frauenanteile an den unterschiedlichen Gymnasien gilt es, einige Vorbehalte zu beachten:
Neben des Frauenanteils innerhalb eines bestimmten Schwerpunktfachs müsste streng genommen auch der Frauenanteil insgesamt an jeder Schule betrachtet werden, da dieser ebenfalls variiert (zwischen rund 38 Prozent [KS Hottingen] und 80 Prozent [Liceo Artistico]) und von weiteren Faktoren abhängig sein könnte. Als Anschaubeispiele eignen sich die beiden Wirtschaftsgymnasien Büelrain (Winterthur) und Hottingen (Zürich): Beide Kurzgymnasien bieten einzig den Schwerpunkt Wirtschaft und Recht an, die Kantonsschule Büelrain weist aber einen deutlich höheren Frauenanteil auf.
Was als Erklärungsfaktor für die Differenz herhalten könnte, ist die geografische Lage eines Gymnasiums bzw. das Einzugsgebiet der Schülerinnen und Schüler, das sich bei diesem Beispiel offensichtlich unterscheidet. Allerdings ist es im Allgemeinen nicht möglich, eine klare Zuordnung der Wohnorte der Schülerschaft zu den einzelnen Gymnasien vorzunehmen. In die Stadt Zürich etwa, die viele Mittelschulen zählt, pendeln Gymnasiast:innen aus ganz verschiedenen Teilen des Kantons. Einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Einzugsgebiet einer Schule und deren Frauenanteil aufzuzeigen ist somit kaum möglich – obwohl die Variable vermutlich relevant ist.
Nochmals allgemeiner betrachtet gibt es neben dem Schultyp und der räumlichen Lage wohl weitere Unbekannte, die für die Erklärung der Diskrepanzen zwischen den Schulen eine Rolle spielen. Aufgrund der unvollständigen Datenlage und der hohen Komplexität des Themas ist es jedoch schwierig festzustellen, welche zusätzlichen Rahmenbedingungen in welchem Mass einen Einfluss auf die Frauenanteile haben könnten. Die durchgeführte deskriptive Analyse kann diese Fragestellung also nicht abschliessend beantworten, sondern nur erste Anhaltspunkte liefern.
Literaturverzeichnis
Bundesamt für Statistik: Bildungsindikatoren: Maturitätsquote – Daten des Indikators (2021).
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/themen/bildungserfolg/maturitaetsquote.assetdetail.19305671.html [Stand: 02.01.2022].
SRF: Steigende Maturitätsquoten – Student oder Büezer? Das hängt auch vom Wohnort ab (24.05.2018).
https://www.srf.ch/news/schweiz/steigende-maturitaetsquoten-student-oder-bueezer-das-haengt-auch-vom-wohnort-ab [Stand: 02.01.2022].
Schweizer Monat: MINT-Mangel, Mädchen und Mittelschulen.
https://schweizermonat.ch/mint-mangel-maedchen-und-mittelschulen/ [Stand: 02.01.2022].
SRF: Frauenmangel in MINT-Fächern – Physikerin werden ist schwieriger als Physiker (16.09.2018). https://www.srf.ch/wissen/mensch/frauenmangel-in-mint-faechern-physikerin-werden-ist-schwieriger-als-physiker [Stand: 02.01.2022].
Kanton Zürich: Projekte Maturitätsschulen – NaTech.
https://www.zh.ch/de/bildung/schulen/maturitaetsschule/projekte-maturitaetsschulen.html#-392558350 [Stand: 02.01.2022].