Frauen wählen linker als Männer. Dies behauptet zumindest eine Studie von 2018. Doch kann man wirklich alle Schweizerinnen, jung und alt, in einen Topf werfen? Eine Analyse der Schweizer Wahlstudie zeigt ein anderes Bild auf.
Frauen wählen stärker links, weil sie sozial-, umwelt- und gesellschaftspolitisch progressiver denken als Männer. Dies zeigt eine international angelegte Studie von 2018. Eine Analyse der Schweizer Wahlstudie (Selects) aus 2021 zeigt ein ähnliches Bild auf: Frauen bevorzugen linke Parteien und wählen überdurchschnittlich oft für die SP und die Grünen, während die Männer häufiger für die SVP und FDP wählen. Doch sind die Schweizer Frauen tatsächlich linker und grüner als die Männer, oder ist dies eine zu starke Verallgemeinerung?
Der traditionelle Gender Gap wird von einem ‚modern gender gap‘ abgelöst
Es sei eine zu starke Vereinfachung davon auszugehen, dass Frauen grundsätzlich linker sind als Männer. Zwischen den jungen Frauen und Männern herrsche ein anderer gender gap als zwischen den älteren Generationen. Dies argumentiert Sozialwissenschaftlerin Dr. Rosalind Shorrocks. Während in Westeuropa früher Frauen noch rechter gewählt haben als die Männer, wählen die jungen Frauen heute linker als ihre männlichen Altersgenossen. Diesen modern gender gap begründet Shorrocks mit dem Nachlassen von Religiosität. Generationen an jungen Frauen mit gesellschaftlich progressiven Einstellungen lösen die älteren Generationen mit sozialkonservativen Werten ab. Der traditionelle gender gap wird zunehmend von dem modern gender gap abgelöst.
Der modern gender gap lässt sich auch in der Schweiz beobachten
Der Theorie von Dr. Rosalind Shorrocks folgend würden wir erwarten den modern gender gap auch in der Schweiz zu beobachten. Sind die jungen Schweizerinnen tatsächlich linker als ihre männlichen Altersgenossen? Und unterscheiden sich in ältere Generationen die Frauen und Männer tatsächlich nicht mehr?
Antworten auf diese Fragen liefert uns eine Analyse der Schweizer Wahlstudie, die das Wahlverhalten der Schweizer*innen seit 1971 untersucht. Die folgende Abbildung zeigt die Links- Rechts Selbstpositionierung der Schweizer*innen nach Alter für das Jahr 2018 auf.
Man erkennt, dass die jungen Frauen tatsächlich linker wählen als die jungen Männer in ihrem Alter. Dieser deutliche gender gap schliesst sich jedoch ab einem Alter von 50 Jahren. Danach unterschieden sich Frauen und Männer im gleichen Alter nicht mehr gross in ihrer Selbstpositionierung auf der Links- Rechts Skala.
Der modern gender gap ist eine moderne Erscheinung
Die Schweizer Wahlstudie von 2018 spricht dafür, dass sich jungen Frauen stärker von ihren männlichen Altersgenossen abgrenzen als die Frauen älterer Generationen. Doch ist dies ein neues Phänomen oder war das schon immer so? Ein Blick auf die Schweizer Wahlstudie von 1971 wird uns hier weiterhelfen. Die folgende Abbildung zeigt die Links- Rechts Selbstpositionierung der Schweizer*innen nach Alter für das Jahr 1971 auf.
Und tatsächlich handelt es sich bei dem modern gender gap um ein neues Phänomen, das 1971 noch nicht zu beobachten ist. Im Gegenteil: Nicht nur gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen den jungen Frauen und Männern in ihrer Selbstpositionierung, sondern scheinen sich zusätzlich die älteren Generationen über 67 stark zu unterscheiden. Die älteren Frauen wählen durchschnittlich konservativer als die älteren Männer, wie wir es bei einem traditionellen gender gap erwarten würden.
Der moderne gender gap findet sich auch in der Umweltthematik
In der Links- Rechts Selbstpositionierung liess sich der modern gender gap beobachten. Dasselbe würden wir auch für Fragen im Umweltschutz erwarten: Junge Schweizerinnen mit progressiven Einstellungen legen einen höheren Wert auf den Umweltschutz als die jungen Schweizer. Prüfen können wir diese These mittels den Selects Daten.
Die folgende Abbildung zeigt die Einstellung der Schweizer*innen bezüglich dem Umweltschutz nach Alter im Jahr 2018. Die Teilnehmer*innen der Studie wurden gefragt, wie sie sich in einem Konkurrenzverhältnis zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum positionieren würden.
Die Grafik bestätigt die These: Auch in Umweltfragen lässt sich der modern gender gap beobachten. Von einem Alter von circa 24 bis 44 Jahren legen Frauen mehr Wert auf den Umweltschutz als gleichaltrige Männer. Dieser signifikante Unterschied ist zwischen den Geschlechtern in einem höheren Alter jedoch nicht mehr zu beobachten.
Junge Frauen sehen Immigration und Asylfragen, sowie Gesundheit als wichtigere Probleme als Frauen über 50 Jahren
Es stellt sich heraus, dass junge Schweizerinnen sowohl linker als auch grüner sind als ihre männlichen Altersgenossen. Ältere Frauen hingegen grenzen sich weniger von den gleichaltrigen Männern ab. Was unterscheidet diese beiden Generationen an Frauen? Für die Schweizer Wahlstudie von 2018 wurden Schweizer*innen gefragt, was sie als wichtigstes Problem sehen in der gegenwärtigen Politik. Die folgenden beiden Grafiken zeigen auf, welche sechs Themen von Frauen bis 50 Jahren und Frauen über 50 Jahren am meisten genannt wurden.
Beide Altersgruppen nennen die gleichen 6 Thematiken am häufigsten. Doch stehen die Themen der Gesundheit und Immigration bei der jüngeren Altersgruppe an höherer Stelle als bei den Frauen über 50 Jahren. Auffällig ist auch, dass die ältere Altersgruppe deutlich mehr Gewicht legt auf die Europäische Integration, während die jungen Schweizerinnen die Umweltthematik öfter als wichtigstes Problem nennen.
Es zeigt sich, dass es signifikante Unterschiede gibt zwischen den jungen Frauen und Männern, die bei älteren Generationen nicht zu beobachten sind. Zu sagen, dass Frauen linker und grüner sind als Männer, zeigt sich als eine zu starke Verallgemeinerung. Dies gilt insbesondere in der Schweiz, in der der modern Gender Gap den traditionellen gender gap abzulösen scheint.
Daten und Methoden:
Die für die Analyse verwendeten Daten kommen aus der Schweizer Wahlstudie (Selects). Genutzt wurde der kumulative Datensatz von 1971 bis 2019. Die statistischen Berechnungen und die Visualisierungen wurden mithilfe des Statistikprogramms R erstellt. Für die Analyse wurden die Daten aus dem Jahr 1971 und 2018 bereinigt und danach zur Erstellung der Grafiken genutzt. Für die letzen beiden Grafiken wurden die 6 meist genannten Thematiken von insgesamt 18 zur Analyse ausgewählt. Eine Übersicht über alle 18 und ihre Häufigkeiten findet sich im R-Code.
Referenzen:
Claude Longchamp (2018), Wieso Frauen heute linker wählen als Männer. (https://www.swissinfo.ch/ger/direktedemokratie/demokratieforschung_wieso-frauen-heute-linker-waehlen-als-maenner/44153476 [02.01.2022]).
Rosalind Shorrocks (2015), Explaining the Modern Gender Gap in Western Europe: The Role of Generational Replacement. (https://ecpr.eu/Events/Event/PaperDetails/22734 [02.01.2022]).
Laurent Bernhard, Nathalie Eggenberg, Anke Tresch und Lukas Lauener (2021), Wählen Frauen anders als Männer?(https://www.defacto.expert/2021/02/08/waehlen-frauen-anders-als-maenner/ [02.01.2022]).
Informationen zum Blogbeitrag
Autorin: Céline Strüby, celine.strueby@uzh.ch
Titel: Der moderne Gender Gap – Wie sich die jungen Schweizerinnen von den Männern abgrenzen
Modul: Vorbereitung Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus
Dozierende: Theresa Gessler, Fabrizio Gilardi, Alexandra Kohler
Abgabedatum: 02.01.2022
Anzahl Worte: 801