Kompliment oder Übergriff? Wie Erwerbstätige in der Schweiz diskriminierendes Verhalten am Arbeitsplatz beurteilen

Frauen bis und mit 30 erleben weniger diskriminierende Handlungen am Arbeitsplatz als ihre nächstälteren Kolleginnen. Eine Auswirkung der aktuellen #MeToo-Debatte? Nicht nur, wie Umfrageergebnisse zeigen: Auch die politische Orientierung spielt eine Rolle.

Ein tiefer Blick, eine flüchtige Berührung am Rücken oder ein Zwinkersmiley in einer Chat-Nachricht, das nicht zum Inhalt passt: Der Arbeitsplatz bietet Raum und Möglichkeiten für sexuelle Anspielungen. Im besten Fall – und wenn Konsens beider Parteien vorherrscht – kann daraus eine lange und glückliche Beziehung entstehen. Viel öfter aber löst ein anzüglicher Spruch im Arbeitskontext, der sich auf die Kleidung, das Äussere oder die sexuelle Orientierung bezieht, beim Gegenüber ein unangenehmes, beschämendes Gefühl aus.

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist nach wie vor weit verbreitet. Gemäss einer Studie des Bundes von 2008 erlebten über 54% der Frauen und 49% der Männer in der Schweiz mindestens einmal ein potenziell belästigendes Verhalten am Arbeitsplatz. Aktuelle Zahlen einer PwC-Studie aus Österreich bestätigen das Bild: Dort gaben 47% der Befragten an, Diskriminierung oder Belästigung im Berufsleben erlebt oder mitbekommen zu haben. Die Rückkehr ins Büro nach der Covid-19-Pandemie hat die Anzahl gemeldeter Vorfälle von sexueller Belästigung ansteigen lassen, ebenso wie die laufende Gleichstellungsdebatte: Gemäss 20min.ch wurden über das Schweizer Online-Portal belaestigt.ch im letzten Jahr 25% mehr Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gemeldet als im Jahr 2019.

Frauen zwischen 31 und 45 Jahren sind besonders oft mit diskriminierendem Verhalten konfrontiert

In allen Studien zeigt sich, dass Frauen in der Tendenz stärker von sexuell belästigendem Verhalten im Arbeitsumfeld betroffen sind. Damit sind nicht ausschliesslich gewalttätige Übergriffe gemeint. Viel häufiger handelt es sich um subtilere Formen der Belästigung und Diskriminierung, wie zum Beispiel kurze Berührungen, anzügliche Witze oder die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts. Dies zeigen aktuelle Resultate von zwei Stimmungsbefragungen der Forschungsstelle sotomo. Das Unternehmen hat in zwei separaten repräsentativen Umfragen für das Frauenmagazin «Annabelle» im Jahr 2021 über 6’000 Frauen und 1’300 Männer aus der deutschsprachigen Schweiz nach ihrer gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Zufriedenheit befragt. Die Daten liefern Einblicke in die Gefühlswelt, die Wünsche an Partner:innen und das Intimleben der Frauen und Männer in der Deutschschweiz – und über ihre Einstellungen zu Diskriminierung am Arbeitsplatz.

Gefragt nach ihren Erfahrungen im Zusammenhang mit diskriminierendem Verhalten, das sie in ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn am Arbeitsplatz erlebten, zeigt sich: Über 50% der befragten Frauen waren mindestens einmal Empfängerinnen von sexualisierten Sprüchen und Witzen am Arbeitsplatz. Über 30% von ihnen fühlten sich aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert und fast 30% der Frauen wurden an einem Vorstellungsgespräch auf ihre Familienplanung (z.B. Kinderwunsch oder Schwangerschaft) angesprochen.

Dabei fällt auf, dass insbesondere Frauen zwischen 31 und 45 Jahren von sexuell diskriminierendem Verhalten betroffen sind. Ihre jüngeren Kolleginnen, die der Generation Z angehören, haben im Vergleich bisher weniger Erfahrungen dieser Art gemacht.

Männer nehmen eigenes Verhalten nicht immer als diskriminierend wahr

Der Grat ist schmal zwischen einem ehrlich gemeinten Kompliment und einer diskriminierenden Aussage. Eine unüberlegte oder gar nett gemeinte Äusserung kann in einem unpassenden Kontext schnell sexuell beleidigend sein. Wie sehr sind Männer auf solche möglichen diskriminierenden Verhaltensweisen sensibilisiert? Gefragt nach Verhaltensweisen, die sie als «völlig in Ordnung» einstufen, gaben über 60% der befragten Männer an, dass ein Kompliment zum Äusseren völlig in Ordnung sei. Über 20% sahen überdies kein Problem bezüglich Flirtens im Büro.

Auch bei den Männern zeigen sich sichtbare Unterschiede zwischen den Altersgruppen: So scheinen jüngere Männer (bis und mit 30 Jahre) stärkere Vorbehalte gegenüber potenziell sexualisierten Verhaltensweisen zu haben als ihre älteren Kollegen zwischen 31 und 45 Jahren.

Politisch links-orientierte Frauen nehmen häufiger sexualisiertes Verhalten am Arbeitsplatz wahr

Die Umfrageergebnisse weisen darauf hin, dass neben dem Alter auch die politische Orientierung eine Rolle spielt, wie Frauen diskriminierende Handlungen am Arbeitsplatz wahrnehmen. Der Vergleich der Frauen der Generation Z (bis und mit 30 Jahre) mit ihren Kolleginnen zwischen 31 und 45 Jahren zeigt, dass Frauen beider Altersgruppen, die sich eher auf der politisch linken Seite einordnen, öfter Diskriminierendes am Arbeitsplatz erlebten als ihre Kolleginnen, die sich der politischen Mitte oder der Rechten zuordnen. Der Effekt ist besonders ausgeprägt, wenn es um sexualisierte Sprüche und Witze geht: Hier beträgt der Unterschied zwischen den politisch links und politisch rechts eingestellten gleichaltrigen Frauen über vier Prozentpunkte.

Befinden sich Frauen, die sich politisch links orientieren, also öfter in Situationen, in welchen sie sexualisiertem Verhalten ausgesetzt sind? Oder sind sie aufgrund ihrer politischen Einstellung stärker sensibilisiert und nehmen Handlungen und Aussagen, die potenziell sexuell belästigend sind, eher wahr? Falls dem so ist: Zeigt sich auch bei politisch links-orientierten Männern eine höhere Sensibilisierung für potenziell sexualisiertes Verhalten?

In den Daten von sotomo findet sich keine Bestätigung dieser Wahrnehmungsverzerrung aufgrund der politischen Gesinnung. Eher im Gegenteil: Interessanterweise befürworten politisch links orientierte Männer potenziell diskriminierendes Verhalten gleich (wenig) oder stärker als ihre Kollegen, die sich politisch der Mitte oder der Rechten zuordnen. Insbesondere bei Komplimenten zum Äusseren zeigen sich bei beiden Altersgruppen Unterschiede von fast fünf Prozentpunkten zwischen politisch links und politisch rechts orientierten gleichaltrigen Männern.

Generation Z weniger stark betroffen

Die Antworten beider Geschlechter zeigen: Insbesondere Frauen und Männer zwischen 31 und 45 Jahren sind von Diskriminierung betroffen beziehungsweise finden potenziell diskriminierendes Verhalten am Arbeitsplatz eher in Ordnung. Die Arbeitskräfte der Generation Z, die 30 Jahre alt oder jünger sind, scheinen dank gesellschaftlicher Entwicklungen wie der #MeToo-Bewegung oder der Gleichstellungsdebatte besser für das Thema sensibilisiert zu sein. Dazu haben sie, im Vergleich zu ihren älteren Kolleg:innen, einen natürlicheren Umgang mit Geschlechtervielfalt entwickelt und sind sich stärker bewusst, welche Handlungen als potenziell offensiv eingestuft werden. Gerade wenn es um Witze oder Satire geht, versteht die Generation Z keinen Spass, wie auch Barbara Wittmann, Chefin von LinkedIn für Deutschland, Österreich und die Schweiz, in einem Interview mit der Welt sagt: «Witze sind gefährlich, denn sie grenzen aus, und das mag Generation Z nicht. […] Deshalb finde ich es berechtigt, Witze am Arbeitsplatz wegzulassen, da die Wahrscheinlichkeit, dass man damit jemanden verletzt, einfach zu hoch ist.» Darüber hinaus legen insbesondere Frauen grossen Wert auf die Förderung von Vielfalt am Arbeitsplatz. Und der Erfolg scheint ihnen recht zu geben: Laut einer Studie der Berner Fachhochschule unterstützt eine offene und inklusive Unternehmenskultur nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen mit ihrer Arbeit, sondern wirkt sich positiv auf den wirtschaftlichen Erfolg und die Gewinnung von Fachkräften aus.

Quellen

20minuten: Mit der Rückkehr ins Büro haben Fälle von sexueller Belästigung zugenommen (08.12.2022). https://www.20min.ch/story/rueckkehr-ins-buero-faelle-von-sexueller-belaestigung-am-arbeitsplatz-gestiegen-321504480093 [Stand: 07.01.2023]

Berner Fachhochschule: Diversity and Inclusion Management in der Schweiz 2022: Eine empirische Studie unter spezieller Berücksichtigung der Dimension sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität und Variationen der Geschlechtsentwicklung (LGBTIQ+) (2022). https://www.bfh.ch/dam/jcr:fb6897b6-1148-405b-bad2-1ac381173c30/W_Brosch_Studie_Diversity_221019.pdf [Stand: 07.01.2023]

Neue Zürcher Zeitung: «Warum sind so viele Chefs Irre und Psychopathen?» – Wie Vorgesetzte ihre Mitarbeiter plagen (25.11.2022). https://www.nzz.ch/feuilleton/quiet-firing-mobbing-bossing-die-psychotricks-der-chefs-ld.1712534?reduced=true [Stand: 07.01.2023]

PwC Österreich: Diversität & Inklusion: 60 % der österreichischen Arbeitnehmer:innen wünschen sich mehr Vielfalt am Arbeitsplatz (14.12.2022). https://www.pwc.at/de/presse/2022/diversitaet-und-inklusion-60-prozent-wuenschen-sich-mehr-vielfalt-am-arbeitsplatz.html [Stand: 07.01.2023]

Strub, S. & Schär Moser, M: Risiko und Verbreitung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz: Eine repräsentative Erhebung in der Deutschschweiz und in der Romandie (2008). https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Publikationen_Dienstleistungen/Publikationen_und_Formulare/Arbeit/Arbeitsbedingungen/Studien_und_Berichte/risiko-und-verbreitung-sexueller-belaestigung-am-arbeitsplatz.html [Stand: 07.01.2023]

Welt: Was der Generation Z am Arbeitsplatz wichtig ist (29.11.2022). https://www.welt.de/vermischtes/plus242332983/Arbeitsplatz-Worin-sich-die-Generation-Z-von-ihren-aelteren-Kollegen-unterscheidet.html?notify=success_subscription [Stand: 07.01.2023]


Informationen zum Blog

Autorin: Stephanie Tabea Blum, stephanietabea.blum@uzh.ch
Titel: Kompliment oder Übergriff? Wie Erwerbstätige in der Schweiz diskriminierendes Verhalten am Arbeitsplatz beurteilen
Modul: Vorbereitung zum Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus (HS22)
Dozierende: Alexandra Kohler, Bruno Wüest, Fabrizio Gilardi
Abgabedatum: 08.01.2023
Anzahl Wörter: 990

Daten, Methoden und Validität

Daten und Methoden
Die für die Analyse verwendeten Daten stammen aus den beiden Umfragen «annajetzt» und «annabeau», die die Forschungsstelle sotomo im Jahr 2021 für die Schweizer Frauenzeitschrift «Annabelle» durchgeführt hat. «annajetzt» enthält 6’280 Datensätze von in der deutschsprachigen Schweiz wohnhaften Frauen, während «annabeau» 1’312 Datensätze von in der deutschsprachigen Schweiz wohnhaften Männern umfasst. Für die Analyse wurden die beiden Datensätze bereinigt. Um eine Repräsentativität des Samples zu erreichen, wurde ein statistisches Gewicht in den Analysen einbezogen. Die fünf Altersgruppen (16 bis 30, 31 bis 45, 46 bis 60, 61 bis 75 sowie 76 Jahre und älter) wurden anhand des angegebenen Alters der Frauen und Männer erstellt. Die Parteiorientierung erfolgte aufgrund der Eigeneinschätzung der Teilnehmer:innen und dem anschliessenden Links-Mitte-Rechts-Mapping gemäss der Kategorisierung der Schweizerischen Bundeskanzlei. Personen, die sich keiner politischen Partei zuordnen, wurden nicht berücksichtigt. Die Datenbereinigung, alle Analysen und die grafischen Darstellungen wurden mit dem Statistikprogramm R vorgenommen. Der Code ist hier einsehbar.

Validität
Da die beiden Datensätze eigenständig sind und somit nicht alle Teilnehmer:innen die exakt gleiche Frage bezüglich potenziell diskriminierendem Verhalten am Arbeitsplatz beantwortet haben, ist ein Vergleich zwischen den beiden Geschlechtern mit etwas Vorbehalt zu ziehen. Die Validität der Analyse würde steigen, wenn man evaluieren könnte, in welchen Altersgruppen Männer diskriminierendes Verhalten erleben und welches Verhalten für Frauen noch als völlig in Ordnung eingestuft wird. Die Analyse hat einen klar deskriptiven Fokus und liefert keine kausalen Zusammenhänge. Es lassen sich aber grobe Tendenzen erkennen, die als Basis für weitere Analysen dienen können und erste Aussagen zum Thema zulassen.

Eine weitere Einschränkung der Analyse entsteht aus der Tatsache, dass die Datensätze nur Antworten von Teilnehmer:innen aus der Deutschschweiz enthalten. Für ein gesamtschweizerisches Stimmungsbild wäre es spannend zu sehen, welche Erfahrungen Personen aus der Romandie oder aus der italienischsprachigen Schweiz im Berufsleben gemacht haben und ob diskriminierendes Verhalten in unterschiedlichen Regionen der Schweiz anders wahrgenommen wird.

Ganz allgemein betrachtet gäbe es noch viele weitere Faktoren, die einen potenziellen Einfluss auf das Erleben und Tolerieren von diskriminierendem Verhalten haben könnten, wie z.B. die Branche, in welcher Personen tätig sind oder die berufliche Position innerhalb des Unternehmens. Informationen dazu wurden in den vorliegenden Datensätzen ebenfalls nicht erhoben.

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