Schweizer Queers wählen linker – aber nicht unbedingt auf Kosten der SVP

Wählen Queers anders als Heterosexuelle? Die gängige Vorstellung ist, dass queere Personen linker wählen als Heterosexuelle. Eine Analyse der Parteisympathie von Schweizer Befragten bestätigt dies – offenbart aber auch Überraschendes.

Die Schweiz und ihr steiniger Weg zur „Ehe für alle“

Noch bis Mitte 2022 zählte die Schweiz neben Italien zu den zwei einzigen westeuropäischen Staaten, welche die gleichgeschlechtliche Eheschliessung nicht kannten. Der Weg zu deren gesetzlicher Verankerung am 1. Juli 2022 war steinig. Nachdem die eidgenössischen Räte einer Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zustimmten, wurde von drei Komitees erfolgreich das Referendum ergriffen und die Vorlage daher der Stimmbevölkerung unterbreitet.

Die Gegnerschaft der «Ehe für alle», zu derer neben der Mehrheit der SVP auch ein beträchtlicher Teil der Mitte-Partei (früher CVP) gehörte, sah in der Vorlage insbesondere für das Kindeswohl eine grosse Gefahr. Da die «Ehe für alle» homosexuellen Paaren den Zugang zur Adoption (bzw. lesbischen Paaren auch zur Samenspende) ermöglicht, entstünden laut gegnerischen Kreisen Konstellationen, die für die Identitätsbildung von Kindern schädlich seien. Ein Kind brauche Vorbilder von beiden Geschlechtern, was ihnen jedoch durch die Samenspende für lesbische Paare verwehrt würde. Überdies befürchteten die Referendumskomitees, dass die geplante Gesetzesänderung Forderungen nach der Eizellenspende und Leihmutterschaft nach sich ziehen könnte.

Nach einem Abstimmungskampf, der vor allem durch die bunten Aktionen der Befürwortenden mediale Aufmerksamkeit erreichte, sprach sich die Schweizer Stimmbevölkerung am 26.09.2021 mit einem Ja-Stimmenanteil von 64.1% für die Vorlage aus. Dieser Tag stellt wohl einen Meilenstein in der Gleichstellung von queeren Personen in der Schweiz dar.

Vor dem Hintergrund dieser Abstimmung würde man einen deutlichen Unterschied in den Parteipräferenzen queerer und heterosexueller Personen erwarten. Insbesondere Parteien wie die SVP oder die Mitte dürften bei Queers einen schweren Stand haben. Dagegen würde man vermuten, dass linke Parteien, welche sich traditionell für die Rechte von Minderheiten einsetzen, in dieser Wählergruppe punkten dürften. Doch ist dies tatsächlich so einfach?

Queers sind im Durchschnitt linker als Heterosexuelle

Ein Blick auf untenstehende Grafik zeigt die durchschnittliche Selbsteinstufung auf einer Links-Rechts-Skala (von 1 bis 7) nach Geschlecht und sexueller Orientierung. Queere Frauen schätzen sich im Durchschnitt 0.42 Punkte weiter links ein als heterosexuelle Frauen. Auch queere Männer schätzen sich linker ein als heterosexuelle – der Effekt ist jedoch mit einem Unterschied von durchschnittlich 0.24 Punkten etwas geringer.

Dies deckt sich mit den Erkenntnissen einer aktuellen Studie zum Einfluss der sexuellen Orientierung auf das Wahlverhalten in Westeuropa. Diese kommt unter anderem zum Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass LGB-Personen Linksparteien unterstützen, im Durchschnitt um rund 7 Prozentpunkte höher ist als bei Heterosexuellen. Zeigt sich dieser Effekt auch in der Schweiz?

Die SVP verliert nicht bei allen Queers Wähleranteile

Die folgende Abbildung veranschaulicht die Parteisympathie von queeren Personen im Vergleich zu Heterosexuellen. Wird eine Partei von queeren Personen eher unterstützt als von heterosexuellen, ist dies blau dargestellt, während der umgekehrte Fall rot gekennzeichnet ist.

Insgesamt kann man sagen, dass Queers tatsächlich leicht linker wählen als Heterosexuelle. Es gibt jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Während die SVP bei queeren Männern starke Sympathieeinbussen verzeichnet, wird diese von queeren Frauen sogar ein wenig mehr unterstützt wie von heterosexuellen. Dies ist überraschend – war doch die SVP die einzige der sechs grössten Schweizer Parteien, welche die Nein-Parole zur «Ehe für alle» beschloss und sich mit einer Vielzahl an prominenten Vertretern vehement gegen die Vorlage stellte.

Weitere Unterschiede finden sich in der Unterstützung von Mitte-Parteien. Während diese bei queeren Männern Anklang finden, verlieren sie bei queeren Frauen vor allem auf Kosten der beiden Linksparteien Anteile. Ein gemeinsamer Nenner ist hingegen das gute Abschneiden der SP, die bei beiden Wählergruppen punkten kann.

Queere Männer sind Frauenquoten gegenüber skeptisch

Warum finden sich überhaupt Unterschiede zwischen queeren und heterosexuellen Personen im Wahlverhalten?

In der erwähnten Studie werden zwei theoretische Argumente hervorgehoben: Einerseits führt die von Queers erlebte soziale und institutionelle Diskriminierung dazu, dass sie sich den Problemen anderer Minoritäten mehr bewusst sind. Andererseits haben queere Personen als eigene soziale Gruppierung gemeinsame politische Forderungen wie die zivilrechtliche Gleichstellung oder Massnahmen zum Schutz vor Hass und Diskriminierung. Dies macht linke Parteien für Queers besonders interessant, da sie sowohl die Probleme von Minoritäten generell, als auch die spezifischen Forderungen von LGB-Personen adressieren. Betrachtet man die Unterschiede in der Zustimmung zu ausgewählten Politikmassnahmen, wird jedoch klar, dass marginalisierte Gruppen nicht zwingend Verständnis für Forderungen anderer Gruppen haben, die ebenfalls Diskriminierung erfahren.

Die niedrigste Zustimmungsrate für Frauenquoten lässt sich ausgerechnet bei queeren Männern beobachten. Dies obwohl Frauenquoten eine klassische Forderung linker Parteien sind, welche bei queeren Männern besser ankommen als bei heterosexuellen. Auch Massnahmen zur Schliessung der Lohnlücke zwischen Männern und Frauen oder eine staatliche Finanzierung der Kinderbetreuung stösst bei queeren Männern im Vergleich zu den anderen Gruppen stärker auf Skepsis. Hingegen befürworten Queers unabhängig vom Geschlecht deutlich stärker die Einführung eines zusätzlichen Eintrags in amtlichen Dokumenten für Personen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren als dies Heterosexuelle tun. Dies scheint darauf zu beruhen, dass sich die Gleichstellung von transidenten und nicht-binären Personen als eine kollektive Forderung der LGB-Bewegung etabliert hat.

Wenig Forschung zum Effekt der sexuellen Orientierung in Europa

Die Daten zeigen es deutlich – Queers wählen anders wie Heterosexuelle. Dass sie jedoch zwingend linke Forderungen stärker unterstützen und durchweg weniger Sympathie für rechtskonservative Parteien haben als Heterosexuelle, kann so nicht gesagt werden. Leider gibt es vor allem im europäischen Kontext nur wenig Forschung zum Effekt der sexuellen Orientierung auf die Parteiwahl. Dies liegt zu einem grossen Teil an einem Mangel an Daten. Während die sexuelle Orientierung in der American National Election Study (ANES) seit den späten 1990ern abgefragt wird, ist eine Frage dazu in keiner auf einer Zufallsstichprobe basierten Wahlumfrage in den EU-Mitgliedsstaaten enthalten. Auch in der aktuellen Schweizer Wahlstudie SELECTS findet sich leider keine Frage dazu. Um die Auswirkungen der sexuellen Orientierung auf das Wahlverhalten in Europa besser zu verstehen, braucht es mehr Daten, sowie ein Bewusstsein für die Existenz und Komplexität dieses Effektes, wozu dieser Artikel hoffentlich beitragen konnte.


Die Begriffe „queer“, „Queers“ oder „LGB“ beziehen sich im Beitrag ausschliesslich auf die sexuelle Orientierung. Damit sind Personen gemeint, die sich nicht als heterosexuell bezeichnen. Dies umfasst lesbische, schwule, bi-, pan-, und asexuelle, nicht aber transidente Personen.

Informationen zum Beitrag

Titel: Schweizer Queers wählen linker – aber nicht unbedingt auf Kosten der SVP
Verfasser: Lionel Saxer
Email: lionelroman.saxer@uzh.ch
Abgabedatum: 8. Januar 2023
Lehrveranstaltung: Vorbereitung zum Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Alexandra Kohler, Valeria Vuk, Dr. Bruno Wüest
Anzahl Worte (excl. Lead, Anhänge und Literaturverzeichnis): 954

Daten, Methodik und Validität

Die verwendeten Daten entstammen der Studie „geschlechtergerechter“ der Forschungsstelle Sotomo. Die Umfrage fand online zwischen dem 29. September und dem 1. November 2021 statt. Die realisierte Stichprobe beträgt n = 2690 Personen. Die in der Analyse verwendeten Gewichte wurden mittels IPF-Verfahren (auch Raking) ermittelt, wobei Geschlecht, Alter, Ausbildungsstand und politische Positionierung zu den Gewichtungskriterien gehörten. Der Stichprobenfehler auf dem 95%-Konfidenzniveau für den 50%-Anteil beträgt +/- 2.2 Prozentpunkte.

Die im Beitrag als „queer“, „Queers“ oder „LGB“ bezeichneten Personen umfassen alle Befragten, die sich nicht als heterosexuell bezeichnet hatten (also lesbisch, schwul, bi-, pan-, asexuell, oder anderes). Ihr ungewichteter Anteil in der Stichprobe beträgt ca. 10.6%.

Für die Parteisympathie wurden einfachheitshalber nur die sechs grössten Schweizer Parteien, also FDP, GLP, GPS, Mitte, SP und SVP betrachtet. Um eine Vergleichbarkeit zwischen der zweiten und dritten Abbildung herzustellen, wurden daher für die dritte Abbildung nur Befragte betrachtet, welche für die Parteisympathie eine der sechs grössten Parteien angegeben hatten.

Um den Anteil der Unterstützung für ausgewählte Politikmassnahmen darzustellen, wurden folgende Fragen ausgewählt:

(1) „Sind Sie für eine (temporäre) Einführung von Quoten, wenn sich ohne diese bei Führungspositionen kein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis einstellt?“

(2) „Gemäss der Lohnstrukturerhebung 2018 verdienen Frauen im Durchschnitt knapp 20 Prozent weniger als Männer. Die Lohndifferenz, die sich nicht erklären lässt, liegt bei über 8 Prozent. Sind Sie der Ansicht, dass es Massnahmen braucht, um diese Lohnlücke zu schliessen?“

(3) „Soll die Betreuung der Kinder durch die Eltern von der Allgemeinheit finanziell entlöhnt werden?“

(4) „Soll es bei amtlichen Dokumenten die Möglichkeit für einen zusätzlichen Eintrag geben für Personen, die sich weder als Frau noch als Mann verstehen?“

Dabei wurden alle Personen berücksichtigt, die diese Fragen entweder mit „Ja“ oder „Eher ja“ beantwortet hatten.

Die im Beitrag beschriebenen Zusammenhänge sind rein deskriptiv und erlauben keine kausalen Aussagen. Das Wahlverhalten bzw. die Parteisympathie sind Phänomene, die von vielen verschiedenen Faktoren abhängen, welche nicht berücksichtigt werden konnten. Gerade im Bildungsniveau und im Einkommen unterscheiden sich queere und heterosexuelle Personen im Durchschnitt. Nichtsdestotrotz kann der Beitrag Anhaltspunkte im Zusammenhang mit der behandelten Fragestellung liefern.

Für die Analyse der Daten wurde die statistische Programmiersprache R GNU in der Rstudio IDE verwendet.


Literaturverzeichnis

Rebekka Affolter (2021): «Ehe für alle»: In diesen europäischen Ländern ist sie noch verboten. https://www.nau.ch/news/europa/ehe-fur-alle-in-diesen-europaischen-landern-ist-sie-noch-verboten-66011053 [Stand: 08.01.2023].

Strasser, Matthias (2022): Flächendeckendes Ja zur Ehe für alle. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen
Volksabstimmungen
. https://swissvotes.ch/attachments/231daa2646fbddc28669e4c1fb8a31f73d7be5b1dbd086c6a2cdc17a4acb64c5 [Stand: 08.01.2023].

Ebd.

Stuart J. Turnbull-Dugarte (2020): The European lavender vote: Sexuality, ideology and vote choice in Western Europe. European Journal of Political Research 59: 517-537. https://ejpr.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1475-6765.12366 [Stand: 08.01.2023].

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