Freizeit statt Politik: Gut Gebildete investieren weniger Zeit in ehrenamtliches Engagement

Eine neue Analyse zeigt, dass gut gebildete Schweizerinnen und Schweizer ihre Freizeit zunehmend für soziale Aktivitäten statt für politisches und ehrenamtliches Engagement nutzen. Welche Auswirkungen hat das auf die Politik?

Akademische Kreise, leere Parteisitze. Während politische Diskussionen in Bildungsinstitutionen florieren, finden sich erstaunlich wenige Hochgebildete in den Reihen der Parteimitglieder. Eine Analyse zeigt eine überraschende Diskrepanz: Obwohl das politische Interesse unter Gutgebildeten höher ist als unter Personen mit geringerem Bildungsstand, mündet dies nicht in stärkere aktive oder passive Parteimitgliedschaft. Diese Erkenntnis wirft Fragen zur Zukunft politischer Parteien auf.

Politische Teilnahme gilt als Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie. Dennoch zeigt das Wahlverhalten eine klare Tendenz. Weniger als die Hälfte der Schweizer Stimmbürgerschaft geht an die Urne [5]. Und die, die am eifrigsten wählen, sind ältere Männer mit hoher Bildung [3]. Aber auch Bildung unter jungen Erwachsenen hat einen starken Einfluss auf das politische Engagement, wie eine Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2021 nahelegt: Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gehen dreimal häufiger an die Urne als Berufsschülerinnen und -schüler [4].

Nun stellt eine aktuelle Auswertung des Swiss Household Panels (SHP), einer seit 1999 laufenden Langzeitstudie zur Untersuchung der Lebensbedingungen und Verhaltensweisen von Schweizer Haushalten, diese Annahmen in Bezug auf Bildung und politische Partizipation in Frage. Entgegen verbreiteter Meinung scheint das Bildungsniveau in der aktivsten Form der politischen Beteiligung, der Parteimitgliedschaft, keinen signifikanten Einfluss zu haben. Stattdessen ist die Intensität des ehrenamtlichen Engagements der entscheidende Faktor – die persönliche Bereitschaft, sich ohne finanzielle Entlohnung zu engagieren.

Neue Erkenntnisse zur politischen Partizipation

Bildung beeinflusst, wie sehr sich jemand für Politik interessiert: Das Interesse an Politik ist stärker unter Personen die mindestens einen Maturitätsabschluss haben. Und die Politikinteressierten sind eher Parteimitglieder als die Nicht-Politikinteressierten, wie die Daten des SHP zeigen.

Abbildung 1

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Schweiz einen bemerkenswerten Anstieg des Bildungsniveaus erlebt – fast eine Verdoppelung der Hochschulabschlüsse auf 32,6 % (Abbildung 1). [2]. Folglich sollte auch der Anteil der Personen, die aktiv oder passiv Mitglied einer Partei sind, angestiegen sein. Ein Blick in die Zahlen zeigt aber: Der Anteil der Parteimitglieder ist bei etwa gut 7% der Bevölkerung geblieben bzw. über die Jahre sogar etwas zurückgegangen [1]. Die Entwicklung ist für Personen mit mindestens einer Matura und Personen ohne Matura fast identisch. (Abbildung 2)

Abbildung 2

Dass Bildung nicht der entscheidende Faktor für die Partizipation in politischen Parteien ist, zeigen auch die Analysen auf kantonaler Ebene. Zwischen den Kantonen sind die Unterschiede im Bildungsniveau erheblich: Basel-Stadt führt mit 34,7 % den höchsten Anteil an Hochschulabsolventinnen und -absolventen, während Glarus mit nur 21,4 % am unteren Ende der Skala steht. [2] Die Unterschiede zeigen sich aber nicht gleichstark im Anteil der Parteimitglieder: Die Kantone haben einen ähnlich niedrigen Prozentsatz [1, 2].

Gemäss den Daten des SHP sind politisches Interesse und ehrenamtliches Engagement die Hauptfaktoren für die Parteimitgliedschaft in der Schweiz. Ehrenamtliches Engagement zeigt dabei den stärksten positiven Einfluss. Demographische Variablen wie Alter, Geschlecht und Bildungsgrad, etwa der Abschluss der Matura, haben hingegen keinen signifikanten Einfluss. [1]

Die Ergebnisse zeigen, dass Bildung je nach Art der politischen Beteiligung unterschiedlich wirkt: Während ein höherer Bildungsstand die Wahrscheinlichkeit erhöht, an Wahlen teilzunehmen [4], hat er keinen Einfluss darauf, ob sich jemand in einer politischen Partei engagiert. [1] Dies verdeutlicht, dass die Entscheidung für eine Parteimitgliedschaft stärker von der individuellen Bereitschaft, sich aktiv einzubringen, als von äusseren Merkmalen bestimmt wird.

Abbildung 3

Ebenso zeigt sich, dass ein höheres Bildungsniveau nicht zwangsläufig zu intensiverem ehrenamtlichen Engagement führt, sondern eher die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Personen überhaupt ein Ehrenamt ausüben. Im Jahr 2020 leisten Personen mit mindestens einem Maturitätsabschluss durchschnittlich drei Stunden weniger ehrenamtliche Arbeit pro Monat im Vergleich zum nationalen Durchschnitt von knapp elf Stunden. Auch in der Gesamtbevölkerung ist die Anzahl der Stunden geleisteter ehrenamtlicher Arbeit in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. (Abbildung 3), [1]

Die Entwicklung im ehrenamtlichen Bereich könnte für die Schweizer Politik, die stark auf dem Milizsystem fusst, erhebliche Folgen haben. Wer will sich zukünftig noch politisch in Parteien engagieren?

Prioritätenwandel bei Gutgebildeten

Die Daten des SHP deuten auf einen signifikanten Wandel in der Lebensgestaltung von gut gebildeten Bürgerinnen und Bürger hin. Personen mit Maturitätsabschluss verbringen heute zunehmend mehr Zeit mit persönlicher Erholung und sozialen Aktivitäten: Sie treffen sich durchschnittlich häufiger mit Freunden, gehen öfter in den Ausgang und treiben mehr Sport, als Menschen ohne Maturitätsabschluss. Dieser Trend hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verstärkt. [1]

Parallel dazu zeigt sich in der Gruppe der Gutgebildeten eine abnehmende Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren: diese Abnahme unter Gutgebildeten könnte erklären warum sie relativ gesehen weniger in Parteien engagiert sind. Ehrenamtliches Engagement ist nicht dasselbe wie Engagement in Parteien, aber es ist ein wichtiger Teil davon. Das politische System in der Schweiz erfordert, dass die Menschen bereit sind, sich freiwillig in Parteien zu engagieren. Diese Arbeit ist oft sehr zeitintensiv. Insbesondere gut gebildete Personen scheinen immer weniger gewillt, ihre Zeit dafür einzusetzen – es sei denn, es lässt sich mit beruflichen Verpflichtungen und Freizeitaktivitäten vereinbaren.

Eine Demokratie der wenigen Engagierten?

Eigentlich ist es positiv zu bewerten, wenn die Politik nicht von einer elitären, gut gebildeten Bürgergruppe dominiert wird. Doch wie geht es weiter, wenn immer mehr Menschen nach höherer Bildung streben? Mit steigendem Bildungsniveau scheinen sich die Prioritäten zu verschieben: mehr Arbeit, Karriere, bessere Berufsaussichten und zeitintensive Jobs. Und wenn Freizeit übrig bleibt, wird sie für Spass und Erholung genutzt. Diese Entwicklung zeigt auch eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft in der Schweiz.

Eine Demokratie wie die Schweiz lebt von ausserberuflicher Tätigkeit. Ein Teil der Schweizer DNA droht zu verschwinden. [6]  Braucht es eine grundlegende Erneuerung des Systems? Vielleicht die Entlohnung von Parteimitgliedern? Laut den Daten könnte eine Entlohnung Anreize schaffen, politische Ämter zu besetzen. Eine solche Zunahme von Berufspolitikern könnte jedoch dem derzeitigen Charakter der Schweizer Politik, die sich gegen elitäre Strukturen richtet, und dem Demokratiegedanken zuwiderlaufen.


Diskussion der Methode, Validität und Robustheit

Methodik

Diese Analyse untersucht den Zusammenhang zwischen Bildung und politischem Engagement sowie mögliche Gründe dafür, insbesondere durch ehrenamtliche Tätigkeiten und Freizeitverhalten. Dazu wurden Daten des Swiss Household Panel (SHP) und des Bundesamts für Statistik (BFS) verwendet und verschiedene Modelle spezifiziert.

Die Haushalts- und Personendaten des SHP von 1999 bis 2022 wurden aufbereitet, einschliesslich der Behandlung fehlender Werte. Logistische Regressionsmodelle wurden zur Erklärung der Parteimitgliedschaft eingesetzt, während lineare Regressionsmodelle das politische Interesse, die ehrenamtliche Tätigkeit und das Freizeitverhalten untersuchten. Modelle mit Interaktionseffekten analysierten die zeitlichen Effekte.

Altersbeschränkung und Bildungsvariablen

Die Altersbeschränkung auf 16 bis 40 Jahre sorgt für Kohärenz und konzentriert sich auf eine Lebensphase, in der Bildung einen stärkeren Effekt hat und die Personen entweder ins Berufsleben einsteigen oder sich dort bereits etabliert haben.

Personen in der Schweiz können ab 16 Jahren einer Partei beitreten.

Bildung wurde als Matura- oder Bachelorabschluss versus kein Matura- oder Bachelorabschluss kodiert, um ausreichend Beobachtungen und belastbare Ergebnisse zu gewährleisten.

Überlegungen zur Arbeitszeit und deren Einfluss auf das Engagement

Es wäre sinnvoll gewesen, zu untersuchen, ob gut Gebildete mehr arbeiten und daher weniger Stunden für ehrenamtliche Tätigkeiten zur Verfügung haben, und ob die Anzahl der Arbeitsstunden negativ mit der Parteimitgliedschaft zusammenhängt. Da im SHP keine Angaben zur Arbeitszeit vorliegen, wurde der Fokus auf das Freizeitverhalten gelegt. Untersucht wurde, wie sich dieses bei gut Gebildeten und weniger Gebildeten unterscheidet und wie viele Stunden für ehrenamtliche Tätigkeiten aufgewendet werden.

Validität

Die Validität der Modelle wurde durch Tests und Kennzahlen überprüft. Die Multikollinearität wurde mittels Varianzinflationsfaktoren (VIF) geprüft, alle Werte lagen unter 5. McFadden’s R-Squared für die logistischen Regressionsmodelle lag bei etwa 0,27, was als gut gilt. Die R-Squared-Werte der linearen Modelle waren niedriger (z.B. 0,097 für politisches Interesse), was auf die Notwendigkeit weiterer relevanter Variablen hinweist.

Die niedrigen R-Squared-Werte der linearen Modelle könnten darauf hinweisen, dass politisches Interesse und ehrenamtliche Tätigkeit komplexe Verhaltensweisen sind, die von vielen weiteren oder schwer quantifizierbaren Faktoren beeinflusst werden.

Ressourcen, Literatur und weitere Angaben

Erkenntnisse aus eigenen Analysen

[1] Daten: Swiss Household Panel, 1999-2022.

[2] Daten: Bundesamt für Statitik, 2022. Hochschulabschlussquoten.

[3] Daten: Selects, 1971-2019.

Weitere Quellen:

[4] Studie Universität Zürich, 2021. https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2021/07/politische-beteiligung-der-jungen-grosse-unterschiede-bezueglich-bildungstyp.html

[5] Artikel Republik, 2023. https://www.republik.ch/2023/07/24/wer-entscheidet-wahlen-vor-allem-alte-maenner-aber-junge-frauen-holen-auf

[6] Artikel SwissInfo, 2015. https://www.swissinfo.ch/ger/politik/radikalkur-fuer-schwaechelndes-freiwilligensystem-in-der-politik/41275398

Informationen

Autorin: Lena Kesseli
E-Mail: lena.kesseli@uzh.ch
Abgabedatum: 30.06.2024 (überarbeitete Version: 08.09.2024)
Wortanzahl: 836
Vorlesung: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus
Dozierende: Lucas Leemann , Karsten Donnay , Jacqueline Büchi , Reto Mitteregger