Aktuelle Trends zeigen, dass mit steigender Prämienlast Schweizer Haushalte mehr zur höchsten Franchise wechseln. Und dabei riskieren sie im Krankheitsfall tief in die eigene Tasche greifen zu müssen.
Steigende Gesundheitskosten sind eine zunehmende Belastung und ein Sorgenthema für Schweizer*innen, wie auch die kürzlich zur Abstimmung gekommene Prämienentlastungsinitiative zeigt. Es gibt wenig individuelle Möglichkeiten, diese Kosten zu verringern, denn auch für kerngesunde Menschen gilt: Die Prämien der Grundversicherung sind für alle obligatorisch.
Ersparnisse sind durch ein anderes Modell und eine höhere Franchise möglich. Das heisst: Wer sich einschränkt bei der Wahl der Ärzt*in oder selbst einen höheren Anteil an Kosten übernimmt, spart monatliche Prämienkosten.
Ein Lotto der Gesundheit
Doch sind diese Einsparungen nicht ohne Konsequenzen. Die Franchise kann von minimalen 300 Franken auf bis zu maximal 2500 Franken pro Jahr erhöht werden. Dazu kommt ein zusätzlicher Selbstbehalt von maximal 700 Franken pro Versicherungsjahr. Schweizer*innen mit der höchsten Franchise könnten also im Ernstfall mit bis zu 3200 Franken konfrontiert werden – Kosten, die aus eigener Tasche bezahlt werden müssen. Gesundheitskosten sind in der Schweiz wie ein Glücksspiel: Wer gesund bleibt, spart mit hoher Franchise Geld, im Krankheitsfall sitzen Schweizer Haushalte plötzlich auf hohen Kosten. Gerade für Geringverdienende kann sich das rächen.
Wer hat welche Franchise?
Ein Wandel ist erkennbar. Immer mehr Schweizer Haushalte wählen höhere Franchisenbeiträge, um von einem Prämienrabatt zu profitieren. Besonders die mittleren Franchisen werden weniger gewählt, bei der tiefsten Franchise sehen wir keine aussagestarken Veränderungen.
Daten aus dem Schweizer Haushaltpanel zeigen, dass der Anteil an Personen mit der höchsten Franchise stieg jedoch seit 2017 signifikant ansteigt. Diese Veränderungen sieht man in allen Einkommensklassen. 2022 haben über 30% der tiefsten Einkommenklasse die höchste Franchise gewählt, während es 5 Jahre zuvor ein Fünftel waren. In der Mittelschicht ist im ähnlichen Zeitraum ein Anstieg von 30 auf über 35 Prozent sichtbar.
Coronaeffekte sind laut den vorliegenden Daten keine sichtbar und der stetige Anstieg über die Jahre scheint ein konstanter Trend zu sein.
Die Lücke schliesst sich
Wenn man den Zusammenhang von durchschnittlichem Einkommen und Franchisewahl genauer anschaut, zeigt sich, dass sich die Einkommensmittelwerte in den Gruppen «Franchise hoch» und «Franchise tief» in den Grossregionen über die letzten Jahre unterschiedlich entwickelt haben. 2022 verdienen Zürcher*innen mit höchster Franchise rund 14’000 Franken mehr als ihr Pendant mit 300-Franken-Franchise. 6 Jahre vorher lag dieser Unterschied sogar bei 28’000 Franken. Eine mögliche Interpretation könnte sein, dass gerade Geringverdienende in den letzten Jahren den steigenden Kosten entgegenzuwirken und das erhöhte Risiko einer hohen Franchise für reduzierte Prämienbeiträge in Kauf nehmen. Die Grossregion Zürich sieht den stärksten Rückgang der durchschnittlichen Einkommen für die höchste Franchise.
Anders als in der Deutschschweiz, verhalten sich Versicherungsnehmende in der Westschweiz: In der Genferseeregion verdienen Personen 2017 mit höchster Franchise rund 19’000 Franken mehr als jene mit tiefster Franchise. 6 Jahre danach liegt der Unterschied bei rund 23’500 Franken. Das zeigt, dass in der Genferseeregion vor allem die Mittel- bis Gutverdienenden die höchste Franchise wählen. Geringverdiende scheinen hier trotz der höheren Prämienlast die tieferen Franchisebeträge beizubehalten und das Risiko für mögliche unerwartete Kosten weniger einzugehen.
Aussagen für Zentralschweiz, Mittelland und das Tessin sind aufgrund geringer Daten weniger aussagekräftig.
Region | ø-Einkommen der 300CHF Franchisebezüger*innen (2017) | ø-Einkommen der 2500CHF Franchisebezüger*innen (2017) | ø-Einkommen der 300CHF Franchisebezüger*innen (2022) | ø-Einkommen der 2500CHF Franchisebezüger*innen (2022) |
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Espace Mittelland | 53475.70 | 65599.59 | 57547.01 | 67813.42 |
Genferseeregion | 55311.27 | 74221.19 | 60895.87 | 84391.48 |
Nordwestschweiz | 51446.06 | 69376.34 | 59948.78 | 76720.94 |
Ostschweiz | 48954.62 | 62790.54 | 52916.18 | 69950.53 |
Ticino | 49369.05 | 74227.50 | 56264.15 | 61292.96 |
Zentralschweiz | 48476.39 | 70594.81 | 56214.40 | 71584.52 |
Zürich | 55437.84 | 83778.74 | 66003.10 | 79231.37 |
Franchise beeinflusst Anzahl Besuche in einer Gesundheitseinrichtung
Die Zusammensetzung der Franchisen zeigen einen zunehmenden Wechsel zu höheren Franchisen. Auch das persönliche Verhalten hängt mit der Franchisen-Gruppe zusammen. Neben dem Einfluss von Alter und Geschlecht und dem Gesundheitsstatus selbst, hat besonders die Franchisewahl einen starken Einfluss auf die Anzahl Besuche bei ärztlichen Fachpersonen: Je höher die Franchise, desto weniger gehen Personen zum Arzt. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit ähnlichen Untersuchungen in Genf (Sondoval et al. 2021) über den Zeitraum 2007 bis 2019: Die höchste Franchise hängt mit einem Verzicht auf Gesundheitsfürsorge zusammen.
Alternative Krankenkassenmodelle, wie Telmed oder hausärztliche Modelle scheinen keinen Einfluss auf den Bezug von Leistungen zu haben. Auch die durchschnittlichen Prämienverbilligungen pro Kanton zeigen keinen Einfluss auf die Anzahl medizinischer Untersuchungen in den Analysen. Jedoch ist dabei zu erwähnen, dass die individuelle Prämienverbilligung aktuell nicht im Schweizer Haushaltpanel erhoben wird. Die Studie aus Genf, welche diese Information bei ihrer Analyse zur Verfügung hatte, zeigte einen Zusammenhang von Erhalt der Prämienverbilligung und tieferen Franchisen (Sondoval et al. 2021).
Schweizer Haushalte sind unzufrieden
Die Schweiz wird unzufriedener, was ihre Gesundheit angeht. Die Zufriedenheit sinkt in allen Kantonen zwischen 2017 bis 2022. Am zufriedensten sind Personen in Uri, gefolgt von Obwalden und Glarus. Mit durchschnittlich 5.6 von 10 Punkten (2017) respektive 5.35 Punkten (2022) sind städtische Basler*innen am wenigsten zufrieden mit ihrer Gesundheit. Die besonders hohe Prämienbelastung im Stadtkanton könnte ein guter Grund dafür sein.
(Un)zufriedenheit mit der Gesundheit zeigt sich auch in der individuellen Gesundheitsplanung. Personen mit höheren Franchisen sind durchschnittlich zufriedener. Dieser Zusammenhang lässt sich intuitiv leicht erklären: Wem es gut geht, der muss nicht zur Ärzt*in und möchte deshalb möglichst wenig zahlen.
Bei der Modellwahl sind es jene versicherten Personen, die das HMO-Modell wählen und zu einer Sammelpraxis gehen. Auch das lässt sich durch den Prämienrabatt gut erklären.
Die Analysen zeigen auch, dass Schweizer*innen in den oberen Schichten tiefere Zufriedenheit mit ihrer Gesundheit haben. Mögliche Gründe dafür könnten höhere Erwartungen an die subjektiv wahrgenommene Gesundheit sein.
Komplexität erschwert Lottospiel
Fakt ist: Nicht jeder Entscheid zum Wechsel der Franchise ist ein rationaler. Es hängt am Individuum, zu entscheiden und sich zu informieren, welches Risiko beim jährlichen Krankenkassen-Lotto eingegangen wird. Das komplexe Gesundheitssystem der Schweiz und die Vielzahl Variablen bei der individuellen Gesundheitsplanung ist nicht für alle Alltagswissen. Dieses Wissen stärker in den Schulunterricht zu integrieren, könnten diese Abwägungen für junge Erwachsene in Zukunft vereinfachen.
Quellen
Sandoval, J. L., Petrovic, D., Guessous, I., & Stringhini, S. (2021). Health insurance deductibles and health care–seeking behaviors in a consumer-driven health care system with universal coverage. JAMA network open, 4(7), e2115722-e2115722.
SHP Group. (2024). Living in Switzerland Waves 1-24 (including a long file) + Covid 19 data (Version 7.0.0) [Data set]. FORS data service. https://doi.org/10.48573/58nw-6a50
Validität
Die Daten des SHP sind ein ein jährliches Panel und sind auf verschiedenen Zufallsstichproben basiert. Das ermöglicht Aussagen für die gesamte Schweiz zu machen. Die Methoden beziehen regionale Unterschiede auf Kantonsebene ein: Es wurden Clustered-Standarfehler benutzt und mit OLS-Regressionen berechnet. Eine mögliche unbeobachtete Variable ist die individuele Prämienverbilligung, welche in der Analyse nur durch kantonale Durchschnitte approximiert wird. Ausserdem führen die SHP-Wellen erst seit 2017 (Welle 19) Informationen zu den Franchisen- und Modellwahl bei der Krankenversicherung durch. Das heisst längerfristige Trends sind nicht verfügbar.
Wichtig ist auch: Mit dieser Analyse können keine Kausalaussagen gemacht werden. Im Artikel wird deshalb lediglich auf Zusammenhänge hingewiesen, eine Aussage über die Kausalität ist nicht möglich.
Informationen:
Autor: Marc Eggenberger
Email: marc.eggenberger@uzh.ch
Datum: 30. Juni 2024 (überarbeitete Version: 09.09.2024)
Dozierende: Lucas Leemann, Karsten Donnay, Jacqueline Büchi, Reto Mitteregger
Worte: 875