Trifft uns die Krise wirklich alle gleich? Eine Datenanalyse zeigt, wie unterschiedlich stark einzelne Branchen betroffen sind. Sichtbar wird der Druck aber nicht nur in den Finanzen, sondern auch in den Ängsten und Sorgen der Betroffenen.
«Wenn in so manchen politischen Verlautbarungen über die Zeit nach Corona die Worte Kunst und Kultur nicht einmal vorkommen, dann macht mir das grosse Sorgen: für die Gesellschaft, in der wir leben wollen, für uns alle.» So bringt der Münchner Klarinettist und Komponist Jörg Widmann seine Sorgen als Musiker gegenüber der NZZ zum Ausdruck. «Kunst und Kultur sind vielleicht nicht systemrelevant, aber sie sind lebensrelevant!» Damit bringt der ehemalige „Creative Chair“ und Dirigent der Zürcher Tonhalle den Frust und die Sorgen einer ganzen Branche auf den Punkt.
Dieser Frust ist auch der Unklarheit geschuldet. Der Bundesrat hat bei den Bestimmungen für Kulturveranstaltungen lange gezögert. Ohne schweizweit einheitliche Regelungen herrschte lange Unsicherheit bei vielen Kulturschaffenden. Laut dem St. Galler Tagblatt wandte sich Christoph Trummer von «Sonart», dem Schweizer Verband der Musikschaffenden, noch Ende Oktober mit Ratlosigkeit an seine Kollegen: «Wir können euch momentan keine Empfehlung geben, ob und wie ihr Erwerbsersatz beantragen sollt». Der Beschluss zum Veranstaltungsverbot und zur erweiterten Ausfallentschädigung hat nun endlich Klarheit geschaffen.
Die Krise trifft nicht alle gleich
Existenzielle Ängste gehören dabei nicht nur im Kultursektor seit Monaten zum ständigen Begleiter. Umfragen zeigen, wie gross die Unterschiede zwischen verschiedenen Berufen sein können. Die Covid-19 Pandemie trifft nicht alle gleich. Die folgende Grafik verdeutlicht, wie unterschiedlich sich die finanziellen Folgen der Krise manifestieren. Der Grossteil der erfassten Berufskategorien war bis November glücklicherweise nur mit minimalen oder zumindest temporären Lohneinbussen konfrontiert. Knapp ein Viertel der Berufsklassen bekam aber auch im November noch stark die Folgen der Krise zu spüren.
Diese Unterschiede werden nicht nur in den finanziellen Einbussen, sondern auch den persönlichen Ängsten und Sorgen sichtbar. Eine Auswertung der Umfragewerte zeigt, wie klar sich die Ängste innerhalb der schwer betroffenen Berufskategorien von den nur temporär oder kaum Betroffenen abheben. Dass dabei die Ängste der vergleichsweise weniger stark betroffenen Berufe beinahe identisch aussehen fällt besonders auf.
Offenbar schlagen die Lohneinbussen erst bei den Ängsten der schwer Betroffenen so richtig ins Gewicht. So fürchten sich die nur temporär und kaum betroffenen Berufsklassen scheinbar in gleichem Ausmass über finanzielle Einbussen, den Verlust des Arbeitsplatzes und eine mögliche Covid-19 Erkrankung. Der Verlust persönlicher Freiheiten steht bei beiden an oberster Stelle der Ängste. Bei den schwer betroffenen Berufen ist hingegen die Angst vor finanziellen Einbussen klar am stärksten präsent, und dies durchgehend durch alle Befragungen. Muss man sich die Angst vor Freiheitsverlusten leisten können? In der letzten Umfrage haben sich diese Sorgen der schwer Betroffenen zwar angenähert, die Angst vor finanziellen Verlusten ist aber weiterhin viel verbreiteter als bei den Angehörigen der temporär und nur kaum betroffenen Berufe. Auch die Angst um die Anstellung ist bei den schwer betroffenen Berufen markant grösser.
Insgesamt legt die Auswertung nahe, dass existenzielle Ängste weniger Raum für Sorgen um die Gesundheit und Freiheitsverlust lassen. So hat sich einzig die Gruppe der schwer betroffenen Berufe konstant mehr um finanzielle Einbussen als eine Covid-19 Erkrankung gesorgt. Ist es also ein Privileg, um die eigene Gesundheit besorgt zu sein?
Nicht alle können ins Homeoffice
Die Analyse zeigt, dass auch innerhalb der schwer betroffenen Berufskategorien Unterschiede bestehen, auch wenn diese eher klein sind. So ist die Angst vor einer Entlassung im Tourismus und Gastgewerbe markant grösser als in den Berufen zu Gestaltung und Kommunikation oder bei Kunst- und Kulturschaffenden.
Macht die Möglichkeit zum Homeoffice den Unterschied? Während Kunstschaffende auf innovative Kanäle wie Streamingplattformen ausweichen können, bleibt Beizern nur der Minimalbetrieb als Take-Away und Lieferservice. Erneut wird deutlich, wie ohne die Möglichkeit auf Homeoffice die Angst vor einer Covid-19 Erkrankung den existenziellen Ängsten Platz machen muss. Sowohl im Gastgewerbe als auch im Kultursektor sind gesundheitliche Sorgen auffällig wenig verbreitet. Wird also eine mögliche Ansteckung eher in Kauf genommen, wenn es im Beruf kaum Alternativen zum Menschenkontakt gibt?
Unsichere Aussichten für Schwerbetroffene
Wie berechtigt ist denn die Angst vor dem Jobverlust überhaupt? Für die Gastrobranche hat die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH tatsächlich beunruhigende Nachrichten. Laut einer Analyse weist das Gastgewerbe den tiefsten Beschäftigungsindikator aller Branchen aus. Dies weist darauf hin, dass Unternehmer der Gastrobranche in den kommenden Monaten am stärksten mit einem Stellenabbau rechnen. Die KOF bringt aber auch gute Nachrichten, denn bisher liegt die Anzahl der Konkurse im Gastgewerbe dank der Stützmassnahmen, trotz der starken Betroffenheit der Branche, nicht über dem Trend der letzten Jahre.
Im Kultursektor sorgt sich Jazzschlagzeuger und Bassist Florian Kolb vor allem um die Veranstalter und Orte, die Nischenprojekten und Experimenten eine Bühne geben. «Musikunterricht wird es auf die eine oder andere Art immer geben, aber die wenigen Orte des Jazzbereichs werden im neuen Jahr sicherlich noch weniger.» Davon lasse er sich aber nicht lähmen. «Man tut sich halt zusammen und beginnt selbst mit dem Planen. Damit das alles nicht komplett zum Stillstand kommt.»
Quellen
KOF Konjunkturforschungsstelle (2020): Konkurse im Kanton Zürich und der Nordwestschweiz nehmen stark zu. (https://kof.ethz.ch/news-und-veranstaltungen/medien/medienmitteilungen/2020/11/konkurse-im-kanton-zuerich-und-der-nordwestschweiz-nehmen-stark-zu.html [03.01.2020]).
Künzli, Stefan (2020): Verärgert, verwirrt, verunsichert: Schweizer Kulturschaffende bangen um ihre Existenz. (https://www.tagblatt.ch/newsticker/kultur/schweizer-kulturschaffende-schlagen-alarm-ld.1271661 [03.01.2021]).
Serrao, Marc-Felix & Lemcke, Anja (2020): «Kunst und Kultur sind vielleicht nicht systemrelevant, aber sie sind lebensrelevant» – Folge drei des Corona-Fragebogens der NZZ. (https://www.nzz.ch/panorama/corona-joerg-widmann-ueber-sein-leben-in-der-pandemie-ld.1556051 [03.01.2021]).
Die verarbeiteten Daten aus dem Corona-Monitor Datensatz wurden freundlicherweise von sotomo zur Verfügung gestellt.
Methodik
Die Analyse erfolgte in drei Schritten:
Zuerst wurden die Umfragedaten auf die relevanten Teilnehmer beschränkt. Deren Aussagen zu den erwarteten Lohneinbussen wurden pro Umfragewelle und Berufskategorie aggregiert und anschliessend visualisiert.
Anschliessend wurden die Berufskategorien auf Basis dieser Resultate in drei Kategorien eingeteilt: schwer betroffen, temporär betroffen und kaum betroffen. Diese Codierung erfolgte folgendermassen: Kaum betroffene Berufskategorien haben den Grenzwert von 90% erwartetem Lohn nie unterschritten. Temporär Betroffene haben den Grenzwert von 90% erwartetem Lohn zwar unterschritten, in der letzten Umfrage aber wieder überschritten. Schwer betroffene Berufskategorien unterschreiten den Grenzwert von 90% erwartetem Lohn in jeder Umfrage.
Anhand dieser Kategorisierung wurden die grössten Ängste pro Betroffenheitsgrad und Umfragewelle aggregiert und visualisiert.
Im dritten und letzten Schritt wurden die grössten Ängste für drei schwer betroffene Berufskategorien erneut aggregiert und dargestellt, um zwischen einzelnen schwer betroffenen Berufen Vergleiche anzustellen.
Die Daten aus dem Corona-Monitor von sotomo werden als verlässlich eingestuft. Für die grösstmögliche Validität der Analyse wurden die einzelnen Interviews nach den von sotomo berechneten Werten gewichtet. Da der Berufskategorie „Sport, Wellness“ vergleichsweise wenig Umfrageteilnehmer angehören, wurden für diese Kategorie nicht für weitere Vergleiche genutzt.
Der verwendete Code für diese Analyse kann hier eingesehen werden. Die Selbstständigkeitserklärung befindet sich hier.
Titelinformationen
Titel: Wer hat Angst vor Corona?
Name: Oliver Guggenbühl
E-Mail: oliver.guggenbuehl@uzh.ch
Matrikel-Nr: 11-722-980
Abgabedatum: 03.01.2021
Kurs: Vorbereitung zum Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus
Dozenten: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Bruno Wüest, Alexandra Kohler
Anzahl Worte: 775