Drei Sprachen, ein Kanton – Die Suche nach dem Bündnergraben

Politische Gräben gibt es in der Schweiz viele. Neben den grossen nationalen Gräben wird vermehrt auch von kantonalen Gräben gesprochen. Dieser Artikel befasst sich nun genauer mit dem Kanton Graubünden, betrachtet die Ungleichheiten zwischen den drei Sprachregionen und prüft, ob die Mehrsprachigkeit auch hier zu  unterschiedlichen Abstimmungsentscheidungen führen kann.  Die Ergebnisse zeigen, dass die Sprachregionen häufig nahe beieinander liegen und dass der grösste Unterschied zwischen den deutschsprachigen und italienischsprachigen Gemeinden liegt.

Graubünden ist aus politikwissenschaftlicher Sicht ein sehr spannender Kanton, besonders wegen seiner sozioökonomischen Vielfältigkeit. Im Graubünden gibt es grössere Städte und kleine Bergdörfer, Ferienparadiese und Industrieareale, Autobahnen und Bergstrassen. Dieser Artikel beschäftigt sich aber mit einem anderen Aspekt des Kantons, nämlich mit der Mehrsprachigkeit. Wie eine kleine Version der Schweiz ist die Bevölkerung in verschiedene Sprachen geteilt: Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch. Die Mehrsprachigkeit ist eines der zentralen Merkmale des Kantons, immer wieder gibt es Vorstösse und Diskussionen um diese zu fördern und zu erhalten. Doch unterscheidet sich die Bevölkerung nur anhand der Muttersprache oder gibt es zwischen den drei Sprachgruppen auch politische Differenzen?

In zwei Schritten soll diese Frage beantworten werden. Als erstes werden die Gemeinden des Kantons betrachtet und geprüft, wie die Zusammensetzung aussieht und inwiefern sich die Gemeinden unterscheiden. In einem zweiten Schritt werden vergangene Abstimmungen betrachtet, um zu sehen, ob die Sprachgruppen unterschiedlich stimmten. Beide Teile werden anhand von Abstimmungsergebnissen auf Gemeindeebene bearbeitet.

Die Gemeinden im Kanton Graubünden

Graubünden ist der grösste Kanton der Schweiz und hat dadurch auch viele Gemeinden, obwohl die Bevölkerungsdichte vergleichsweise tief ist. Ganze 180 Gemeinden zählt der Datensatz, mit dem hier gearbeitet wird. Die Verteilung der Gemeinden und Stimmberechtigten sah im Jahr 2014 bei der FABI-Abstimmung folgendermassen aus:

In der oberen Grafik wird ersichtlich, dass Deutsch die am meisten gesprochene Sprache Graubündens ist. Die deutschen Gemeinden machen 56,67 % aller Bündner Gemeinden aus. Hinzu kommt, dass die grössten Gemeinden Graubündens Deutsch sind. Alleine Chur hatte Anfangs 2014 24’231 Stimmberechtigte, also mehr als alle rätoromanischen Gemeinden und über doppelt so viel wie die italienischsprachigen Gemeinden zusammen. Die italienischsprachigen Gemeinden liegen bei den Gemeinden und bei den Stimmberechtigten hinten, nur bei der durchschnittlichen Anzahl Stimmberechtigte pro Gemeinde sind sie vor den rätoromanischen Gemeinden. Sollte es also zu einer Abstimmungen kommen, in der die verschiedenen Gemeinden anderer Meinung sind, würden die italienischen und rätoromanischen Gemeinden deutlich den Kürzeren ziehen. Hier müssen aber mehrere Punkte beachtet werden. Der verwendete Datensatz enthält über alle Jahre hinweg 180 Bündner Gemeinden. Graubünden hat in den letzten Jahren einige Gemeindefusion miterlebt, die Anzahl ist heute deutlich kleiner. Da der Datensatz trotz Fusionen nur Daten dieser festgelegten 180 Gemeinden enthält, wird auch hier damit gearbeitet, damit ein Vergleich über die Jahre möglich ist.  Ausserdem muss man natürlich beachten, dass beispielsweise eine rätoromanische Gemeinde nicht unbedingt nur Einwohner hat, die Rätoromanisch als Muttersprache sprechen.

Als nächster Schritt wird die Zusammensetzung der Gemeinden genauer betrachtet, um zu sehen, wie sich die Sprachregionen unterscheiden. Als Erstes wird die Religion der Gemeinden betrachtet:

Nur bei den deutschsprachigen Gemeinden sind die protestantischen Gemeinden in der Mehrheit, bei den anderen zwei Sprachen überwiegen die katholischen Gemeinden. Bei den italienischsprachigen Gemeinden geht es sogar so weit, dass nur eine Gemeinde, also 5%, protestantisch ist. Im Vergleich dazu sind die rätoromanischen Gemeinden vielfältiger.

Wenn man die Gemeinden nach der Gemeindetypologie betrachtet, sind die deutschsprachigen Gemeinden eindeutig am vielfältigsten. Vier verschiedene Typen sind dort auffindbar, die meisten sind aber gemischte Gemeinden. Auffällig ist hier, dass es nur bei den deutschsprachigen Gemeinden Kleinstädte (Chur und Davos) und Kleinagglomerationen gibt. Unterscheide gibt es auch zwischen den italienischsprachigen und rätoromanischen Gemeinden: Bei den rätoromanischen Gemeinden gibt es am meisten agrarische Gemeinden, bei den Italienischsprachigen überwiegen knapp die gemischten Gemeinden.

Als Fazit für den ersten Teil kann man sagen, dass die deutschsprachigen Gemeinden deutlich in der Mehrheit sind und das nicht nur bei der Anzahl der Gemeinden, sondern auch bei den Stimmberechtigten. Die deutschsprachigen Gemeinden sind eher protestantisch und lassen sich in vier verschiedene Gemeindetypen einordnen. Die rätoromanischen und italienischsprachigen Gemeinden sind eher katholisch und gehören zu den gemischten und agrarischen Gemeinden.

Abstimmungen 2000 bis 2014

Im zweiten Schritt werden nun Abstimmungen betrachtet, um zu sehen, ob die Bürger der Bündner Gemeinden unterschiedliche Entscheidungen fällten. Betrachtet werden hier die Jahre 2000 bis 2014. Von jedem Jahr wurde die erste Abstimmung des Datensatzes untersucht. Insgesamt wurde also mit Daten von 15 unterschiedlichen Abstimmungen gearbeitet.

Die Daten liefern auf den ersten Blick einen ernüchternden Eindruck: die Abstimmungsergebnisse liegen häufig nahe beieinander. Dies geht so weit, dass die Sprachregionen in 13 von 15 Fällen die Abstimmungen gemeinsam annahmen oder ablehnten. Nur in zwei Fällen war die Mehrheit unterschiedlich. Bei der Abstimmung über die Weiterführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2009 lehnten die italienischsprachigen Gemeinden mit 36,137% Ja-Anteil eindeutig ab, während die deutschsprachigen (61,314%) und die rätoromanischen Gemeinden (62,741%) die eidgenössische Abstimmung klar annahmen. Knapper sah es im Jahr 2013 aus, als die italienischsprachigen Gemeinden den Familienartikel mit 54,689% annahmen, während die rätoromanischen Gemeinden (48,116%) und die deutschsprachigen Gemeinden (48,372%) den Artikel ablehnten. Weitere interessante Unterschiede gab es 2002 und 2005, beides Abstimmung im Bereich der internationalen Öffnung, also ähnlich wie bei der Abstimmung zur Personenfreizügigkeit. Dies ist ein Hinweis darauf, dass ein Graben existieren könnte, aber stark themenspezifisch ist.

Interessant ist auch die Nähe der Abstimmungsergebnisse. In sieben Fällen lagen die die rätoromanischen und die deutschsprachigen Gemeinden am nächsten beeinander und in sechs Fällen die Italienischsprachigen und Rätoromanischen. Nur in zwei Fällen lagen die deutschsprachigen und rätoromanischen Gemeinden am nächsten beeinander, nämlich im Jahr 2008 und 2014. Noch deutlicher wird diese Zahl, wenn man beachtet, dass genau diese Abstimmung besonders knapp waren und die Sprachregionen alle sehr nah beieiander lagen.

Fazit

Von einem Bündnergraben kann nicht in jedem Fall gesprochen werden, zu häufig sind sich die drei Sprachen sehr einig. Zwar gibt es in einigen Abstimmungen deutliche Unterschiede, die sind mit grosser Wahrscheinlichkeit aber themenspezifisch und müssten deshalb auch in diesem Rahmen weiter untersucht werden. Ein klares Fazit kann man aber aus der Nähe der Abstimmungsergebnisse ziehen. Die deutschsprachigen Gemeinden sind selten am nächsten bei italienischen Gemeinden, während die rätoromanischen Gemeinden zwischen den beiden anderen Sprachregionen hin und her springen. Der deutlichste Graben liegt also zwischen den 102 deutschsprachigen und den 20 italienischsprachigen Gemeinden.


 

Autor: Mario Egloff | 09-722-869 | egloff.mario@gmail.com
Für: Seminar Policy-Analyse: Politischer Datenjournalismus (Herbstsemester 2014)
Dozenten: Dr. Sarah Bütikofer, Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann und Dr. des. Bruno Wueest.
Abgabedatum: 06.12.2014
Wörter: 947 (exkl. Lead)

1 comment

  1. Guten Abend

    Wahrscheinlich haben Sie schlicht nicht die relevante Konfliktlinie erfasst. Offensichtlich gibt es starke konfessionelle Gegensätze zwischen den Regionen. Auch die Spannungen zwischen Zentrum/Peripherie könnte eine relevante Unterscheidungsdeterminante darstellen. Trotzdem ist der Beitrag spannend, da gezeigt wurde, dass in einem politischen Kleinraum sprachliche Gegensätze offensichtlich keinen signifikanten Einfluss auf das politische Verhalten haben (sofern diese Hypothese dann auch tatsächlich für andere mehrsprachige Kantone zutrifft) oder zumindest nicht im selben Ausmass, wie wir es von eidgenössischen Abstimmungen kennen.

    Freundliche Grüsse,

    Sandro Lüscher

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .