Wo die Parteien um Stimmen werben sollten

Eine Auswertung der Gemeindeergebnisse von 52 eidgenössischen Abstimmungen seit 2008 fördert Interessantes zutage: Eine überwältigende Mehrheit der Gemeinden wird durch die CVP am besten repräsentiert. Erstmals kann für alle Gemeinden gezeigt werden, wie nahe ihnen die Parteien in Sachfragen auf Bundesebene stehen. Beim Vergleich mit Resultaten der letzten nationalen Wahlen fällt auf, dass in vielen Gemeinden insbesondere für die politische Mitte riesiges Potenzial schlummert.

Dass die Romandie linker wählt als die Deutschschweiz, Graubünden rechter als Baselstadt und die Stammlande der CVP eher im Wallis als in Zürich zu finden sind, ist allseits bekannt. Gemeinhin wird die Nähe zwischen Gemeinden und Parteien mit dem Begriff Wählerhochburg umschrieben. Wählerhochburgen werden Orte genannt, wo Parteien hohe Stimmenanteile erzielen. Ein Blick in den politischen Atlas der Schweiz genügt, um diese auf eidgenössischer Ebene zu identifizieren. So gibt es durchaus Gegenden, in denen eine einzige Partei praktisch alle Stimmen auf sich vereint. Bei den jüngsten Nationalratswahlen im Oktober 2011 votierten im Walliser Lötschental beispielsweise über 85% für die CVP. Die FDP verbuchte in Uri und Appenzell Ausserrhoden die grössten Wähleranteile, während die SP in Schaffhausen und im Jura am meisten punkten konnte. Über 50% der Wählenden des Berner Bezirks Obersimmental-Saanen legten ihren Stimmzettel zugunsten der SVP in die Urne.

Abstimmungen als geeigneter Indikator der Nähe von Gemeinden zu Parteien

Die alle vier Jahre stattfindenden eidgenössischen Parlamentswahlen stellen eine (z.T. kurzfristige) Momentaufnahme des politischen Befindens der Bürgerinnen und Bürger dar. Weitaus häufiger hat das Schweizer Stimmvolk über spezifische Sachvorlagen zu befinden, wodurch die politischen Einstellungen in den Gemeinden akkurater abgebildet werden können. Die meisten – zumindest national organisierten und bedeutenden – Parteien fassen an Mitgliederversammlungen regelmässig Parolen zu bevorstehenden Abstimmungen. Es liegt denn auch in ihrem Interesse, dass sich Parteisympathisanten an ihren Argumenten und Entscheidungsvorschlägen orientieren können. Als Vermittler zwischen Staat und Zivilgesellschaft wird den Parteien in Abstimmungskämpfen grosse Mobilisierungskraft zugesprochen.

Da sich nationale Volksabstimmungen besser eignen als Wahlen, um ideologische Distanzen zwischen Gemeinden und Parteien darzustellen, wurden Abstimmungsausgänge in allen Gemeinden auf Übereinstimmung mit Parteiparolen verglichen (vgl. Anhang: Methodische Umsetzung). Untersucht wurden 52 Vorlagen seit 2008 bis und mit der Februar-Abstimmung dieses Jahres. Begonnen mit der Volksinitiative „Gegen Kampfjetlärm in Tourismusgebieten“, über die Minarettinitiative, die Vorlagen zu sechs Wochen Ferien und Begrenzung des Zweitwohnungsbaus, bis hin zur SVP-Masseneinwanderungsinitiative decken die Abstimmungen ein breites Themenfeld ab. Die Karte stellt aus Sicht jeder Gemeinde dar, welche Partei am nächsten bei ihrer Stimmbevölkerung politisiert und wie gross die prozentualen Übereinstimmungen mit den Parteien sind.

Die Abstimmungsempfehlungen der CVP kommen weitaus am besten an. Eine überwältigende Mehrheit bestehend aus 2279 der 2584 untersuchten Gemeinden (Gemeindestand per Ende 2010) weist in Sachfragen auf Bundesebene mit der CVP die grösste Übereinstimmung aus. 250 überwiegend ländliche Gemeinden stimmen am häufigsten nach Parolen der SVP ab, während die SP 55 Gemeinden, hauptsächlich der Kantone Jura, Waadt und Genf, ideologisch am nächsten steht. Auffallend: Keine einzige Gemeinde weist mit einer der übrigen nationalen Parteien eine sachpolitisch grösste Übereinstimmung auf. Offensichtlich nimmt die CVP stets Positionen ein, die näher an der Mitte sind als diejenigen der FDP, BDP, GLP oder EVP. So ist sie auch die häufigste Abstimmungssiegerin auf nationaler Ebene. Die wenigen wirklich linken und rechten Gemeinden situieren sich am nächsten zu den beiden Polparteien SP respektive SVP. Die Positionen kleinerer Parteien des linken (Grüne Partei, Partei der Arbeit) und des rechten Randes (Lega, Schweizer Demokraten, EDU), die oftmals extremer sind, vermögen in keiner Gemeinde die Mehrheit der Stimmbürgerschaft zu überzeugen.

Wo befinden sich die Abstimmungshochburgen der Parteien?

Die folgende Grafik zeigt für jede Partei, wo ihre treusten Anhänger zuhause sind. Aufgelistet werden jeweils die zehn Gemeinden, welche die grössten Übereinstimmungswerte mit den Parteien aufweisen. Darunter finden sich aus Sicht der Parteien deren „unfolgsamsten“ Gemeinden.


Die SVP-treuste Gemeinde ist das 500-Seelen-Dorf Eriz (BE). Zu 75% stimmen die Erizer in eidgenössischen Abstimmungen mit der Schweizerischen Volkspartei überein. Eindeutig linkster Ort ist die Stadt Lausanne: So folgt deren Stimmbevölkerung zu 71% den SP-Parolen und ist auch bei den Grünen und der Partei der Arbeit ganz weit oben vertreten. Abstimmungshochburgen der FDP und CVP sind in den Bündner Bergdörfern Hinterrhein, Mathon, Mulegns, Tschappina und Urmein auszumachen, wo die Übereinstimmung mit diesen Parteien über 70% beträgt.

Grosses Wählerpotenzial für Mitteparteien

Mit Blick auf die Parlamentswahlen im Oktober 2015 interessiert die Parteien vor allem eines: Wo sollen sie auf Stimmenfang gehen? Der Vergleich zwischen den errechneten Übereinstimmungswerten und den 2011 erzielten Wahlresultaten auf Gemeindeebene liefert wertvolle Antworten (vgl. Anhang: Methodische Umsetzung). Er zeigt nämlich aus Sicht der Parteien, wo deren Wählerpotenziale schlummern beziehungsweise wo es keinen Sinn macht, Geld in den Wahlkampf zu investieren (negatives Potenzial). Durch Anklicken der weissen Pfeile kann zwischen den Potenzialkarten der verschiedenen Parteien, die sich überdies als Vollbild darstellen lassen, gewechselt werden.

Bezogen auf die Anzahl Gemeinden verfügen die Mitteparteien über die grössten Potenziale. Bei der BDP sind die Differenzen zwischen Übereinstimmung und Wähleranteil in der Romandie, insbesondere in den Kantonen Waadt und Genf, am grössten. Wenn es die dortigen noch jungen BDP-Sektionen schaffen geeignete Kandidaten zu rekrutieren, dürfte sich die Partei auf steigende Stimmenanteile freuen. Die Grünliberalen haben im ganzen Land grosses Potenzial, wobei die grössten Werte in Gemeinden der Kantone Neuenburg und Graubünden auszumachen sind. Die Stadt Neuchâtel wäre angesichts ihrer Übereinstimmung mit GLP-Positionen von 63% äusserst grünliberal, hat aber aufgrund der 2011 noch fehlenden kantonalen Sektion und Kandidaten der Partei nicht für selbige votiert. Als den meisten Gemeinden am nächsten stehende Partei hat die CVP den grössten Mobilisierungsbedarf. In zahlreichen Westschweizer Gemeinden – darunter praktisch sämtliche der Kantone Waadt und Neuenburg – stimmen die Leute zwar nach Meinung der CVP ab, wählen sie aber nicht bzw. nur unterdurchschnittlich oft. Die CVP sollte ihren Wahlkampf des Weiteren auf Glarus, Nidwalden und Obwalden, wo alle Gemeinden in die Kategorie der grössten Potenzialwerte fallen, sowie Zürich, Bern und Graubünden fokussieren. Die FDP ihrerseits holt im Kanton Uri gemessen an den gemeindlichen Übereinstimmungen mit ihr bereits (zu) viele Stimmen, was anhand des „weissen Lochs“ deutlich wird. In umliegenden Gebieten der Kantone Glarus und Graubünden, in Obwalden, Appenzell Innerrhoden und Teilen des Oberwallis sind die grössten FDP-Potenziale vorhanden. Auch die Grünen verfügen über eine beträchtliche Anzahl Gemeinden mit grossem Potenzial für eine grüne Stimmabgabe. Die höchsten Grünen-Potenzialwerte sind in den Gemeinden Blitzingen (VS), Selma (GR), Fontenais (JU) und Chésopelloz (FR) zu finden. In Trogen (AR) und Monible (BE) sollten dagegen die Sozialdemokraten auf Stimmenfang gehen; dort befinden sich ihre grössten unausgeschöpften Potenziale. Als wählerstärkste Partei kann aber auch die SVP ideologisch Gleichgesinnte nicht überall zu einer Stimmabgabe für sie animieren. So wählten 2011 die Stimmbürger von Urner, Glarner und Appenzell Innerrhodener Gemeinden trotz weitgehender inhaltlicher Übereinstimmungen nicht die SVP.

Fazit

Um möglichst viele neue Wählerstimmen zu gewinnen, sind die Parteien nicht schlecht beraten, ihre Ressourcen auf diejenigen Gebiete zu konzentrieren, wo ihr grösstes Potenzial brach liegt. Da sich die grossen Potenziale verschiedener Parteien örtlich oftmals überschneiden, dürfte das Wahljahr 2015 auch dann ein spannendes werden, wenn alle Parteistrategen dieses Instrument der Allokation unausgeschöpfter Wählerpotenziale anwenden.

Anhang: Methodische Umsetzung

Zur Übereinstimmung:
Um die Übereinstimmung zwischen den Gemeinden und Parteien in Zahlen festzuhalten, wurde ein Übereinstimmungsindex erstellt, welcher Werte zwischen 0 und 100 annimmt. Diese Werte sind als prozentuale Übereinstimmung einer Gemeinde mit einer spezifischen Partei interpretierbar. Für jede Abstimmung wurde zunächst die absolute Differenz zwischen dem JA-Anteil in Gemeinde X und der Parole der Partei Y errechnet. Die Parteiparolen sind wiederum selbst indexiert, wobei Werte von 0 bis 1 möglich sind. Die Parolenwerte basieren auf der Parole der nationalen Mutterpartei (0 für „nein“, 1 für „ja“) und der davon abweichenden Kantonalsektionen. Dabei ist jeder Kanton gewichtet nach seinem Anteil an der nationalen Summe aller Wähler und Wählerinnen der entsprechenden Partei. Über alle 52 Abstimmungen lässt sich so pro Gemeinde die durchschnittliche Abweichung der Parteiparolen zu den Gemeindenergebnissen in Prozentpunkten ausrechnen. Subtrahiert man diese von 100, was totale Übereinstimmung bedeutet, erhält man den prozentualen Wert der Übereinstimmung zwischen Gemeinde X und Partei Y. Je höher der Wert dieses Übereinstimmungsindexes ist, desto öfter wurden Parolen der entsprechenden Partei durch die lokale Stimmbevölkerung umgesetzt.

Zum Potenzial:
Das Potenzial der Partei Y in Gemeinde X ergibt sich rechnerisch aus der Differenz zwischen ihrem Übereinstimmungswert und dem Wähleranteil von Partei Y in ebendieser Gemeinde. Ein Beispiel: Das Stimmvolk von Bassersdorf (ZH) weist eine Übereinstimmung von hohen 67% mit der CVP aus. 2011 gaben dort aber lediglich 5% Vertretern der Christlichen Volkspartei ihre Stimmen. In diesem Fall resultiert für die CVP ein sehr grosses Potenzial von 62 Prozentpunkten. Es sind aber auch Negativpotenziale möglich. In St. Martin (GR) beispielsweise beträgt der Übereinstimmungswert mit SVP-Positionen 55%, trotzdem wählten 100% die SVP. Das daraus errechnete Potenzial von -45 Prozentpunkten lässt sich folgendermassen interpretieren: Da hier die SVP bereits überdurchschnittlich stark ist, die Übereinstimmung der Gemeinde mit der Partei aber vergleichsweise tief ausfällt, macht es für die SVP wenig Sinn, in St. Martin Geld in den Wahlkampf zu investieren. Die Kategorisierung der Potenziale (p) für die geografischen Karten wurde wie folgt vorgenommen:

  • p < 0 → „negativ“
  • 0 ≤ p < 15 → „sehr gering“
  • 15 ≤ p < 30 →  „gering“
  • 30 ≤ p < 45 → „mittel“
  • 45 ≤ p < 60 → „gross“
  • 60 ≤ p → „sehr gross“

Autor: Lukas Lauener | 11-708-120 | lukas.lauener@uzh.ch
Veranstaltung: Seminar Policy-Analyse: Politischer Datenjournalismus (Herbstsemester 2014)
Dozierende: Dr. Sarah Bütikofer, Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann und Dr. des. Bruno Wüest.
Abgabedatum: 07.12.2014
Wörter: 1082 (exkl. Lead und Anhang)

7 comments

  1. So einleuchtend Laueners Untersuchung für einen oberflächlichen Leser zunächst erscheinen mag (siehe NZZ vom 6.2.2015), so fehlerhaft erweist sie sich nach kurzem Nachdenken.
    «Äpfel und Birnen zusammenzählen» nennt der Volksmund eine unzulässige arithmetische Operation: Man darf bekanntlich nur gleichartige Grössen addieren und voneinander subtrahieren. Gegen dieses Gesetz verstösst das Lauenersche Wählerpotential (besser: «unausgeschöpftes Wählerpotential»), weil es zwei Grössen voneinander subtrahiert, die verschiedenartig sind – auch wenn man beide in Prozenten ausdrückt:
    • Der Wähleranteil einer Partei in einer Gemeinde (bzw. in einem Kanton oder in der Schweiz) ist der Anteil der Wähler, die ihre Stimme dieser Partei gaben (Anzahl Wähler einer Partei / Gesamtanzahl Wähler).
    • Die von Lauener benutzte Übereinstimmung der Stimmbürger einer Gemeinde (bzw. eines Kantons oder der Schweiz) mit den Parolen einer Partei ist der Anteil der eidgenössischen Abstimmungen, bei denen eine (mehr oder weniger grosse, vermutlich immer wieder anders zusammengestellte) Mehrheit der Stimmbürger so entschieden hat, wie es die Partei vorgeschlagen hatte (Anzahl parteikonforme Abstimmungen / Gesamtanzahl Abstimmungen).
    Möglicherweise ist allerdings Lauener der Meinung, er dürfe die zwei Zahlen voneinander subtrahieren, weil er meint, wenn eine Gemeinde eine Übereinstimmung von zum Beispiel 70% mit einer bestimmte Partei aufweist, dass 70% der Stimmbürger jeweils so abgestimmt haben, wie es diese Partei empfohlen hatte. Dies ist aber klar falsch und wäre eine schlimme Begriffsverwirrung.
    So oder so kann aus seiner Analyse kein haltbarer Schluss gezogen werden. Wie unsinnig sich Laueners Empfehlungen in der Praxis auswirken würden, sei am Beispiel der BDP und der CVP dargestellt. Anhand seiner Karten sollte die BDP im Wahlkampf die Kantone Glarus, Graubünden und Bern (ihre Stammlande) vernachlässigen und die Ressourcen zum Beispiel auf Appenzell Innerrhoden, Ob- und Nidwalden sowie das Unterwallis konzentrieren. Dies sind aber CVP-Stammlande, aus denen sich diese Partei während des Wahlkampfes zurückhalten würde, um die Ressourcen in Glarus, Graubünden und Bern einzusetzen – wobei diese Ressourcenverlagerungen zwischen zwei Parteien geschähen, die ein sehr ähnliches politisches Profil aufweisen. Die dortigen Stimmbürger würden zu Recht die Welt nicht mehr verstehen.
    Auf solchen Unfug kann man kommen, wenn man mit Zahlen jongliert, die man nicht versteht, oder sie vergewaltigt.

  2. Sehr geehrter Herr Nägeli

    Herzlichen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Anregungen auf meinen Blogbeitrag. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, darauf zu antworten. Tatsächlich lässt sich über das „unausgeschöpfte Potenzial“ diskutieren, insbesondere auch darüber, ob es regionsabhängig überhaupt als solches bezeichnet werden kann/soll.

    Lassen sie mich aber zunächst auf Ihren Hauptkritikpunkt der von Ihnen fälschlicherweise angeprangerten Nichtvergleichbarkeit der errechneten Werte eingehen:
    Die Übereinstimmung einer Gemeinde mit einer Partei habe ich eben gerade nicht, wie von Ihnen beschrieben, anhand der Anzahl parteikonformer Abstimmungen / Gesamtanzahl Abstimmungen berechnet, sondern die JA-Anteile in den Gemeinden mit den jeweiligen Parteiparolen verglichen (was dem Anteil der „parteikonformen“ Stimmbürger an der Gesamtzahl Abstimmungsteilnehmer in besagter Gemeinde entspricht). Nachzulesen ist dies im Anhang zur Methodik. Damit lassen sich die Zahlen sehr wohl voneinander subtrahieren und zeigen zumindest ein „theoretisches Wählerpotenzial“ in den Gemeinden bzw. die Differenz zwischen „parteikonformen“ Anhängern einer spezifischer Partei in einer lokalen Stimmbürgerschaft und dem Wähleranteil dieser Partei in diesem Ort.

    An den Hauptaussagen meines Blogbeitrages zur Übereinstimmung der Gemeinden mit den Parteipositionen ändert sich daher nichts, und auch an der Richtigkeit der errechneten „theoretischen Wählerpotenziale“ nicht. Vielmehr muss festgehalten werden, dass die über eine solch grosse Anzahl Abstimmungen errechneten Werte ganz klare Tendenzen in den Übereinstimmungen aufzeigen, auch wenn sich die Zusammensetzung der Mehrheiten jeweils ändert.

    Zurecht kann erwähnt werden, dass während sich die Wähleranteile in den Gemeinden logischerweise auf 100 % addieren, dies bei den Anteilen „parteikonformer“ Stimmbürger pro Partei in einer Gemeinde nicht der Fall ist, sondern der Wert weitaus grösser ist. Dies ist deshalb der Fall, weil sich viele Parteipositionen bei Abstimmungen überschneiden und deshalb – insbesondere bei Mitteparteien – fast immer ähnlich hohe Übereinstimmungswerte (z.B. 71% CVP-konforme und 70% FDP-konforme Stimmbürger in Gemeinde X) resultieren.

    Da für eine Wahl aber nicht nur politische Inhalte (hier über eidgenössische Sachabstimmungen ermittelt) zählen, sondern eine Vielzahl anderer Faktoren wie die Art der Kampagnen, die sich zur Wahl stellenden Persönlichkeiten, traditionelle Parteibindungen, die Amtsführung der Bisherigen oder historische Gegebenheiten genauso wichtig sind, muss das von mir errechnete „unausgeschöpfte“ Wählerpotenzial ganz klar relativiert werden. Sie haben absolut Recht, dass diesen Aspekten in meinem Beitrag zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. An dieser Stelle sei auf die neuesten Ergebnisse der Schweizerischen Wahlforschung verwiesen (vgl. Lutz 2012:63-67). Anhand von Individualdaten der SELECTS-Wahlnachbefragung zur Frage, ob man sich vorstellen könne, bestimmten Parteien seine Stimme zu geben, können Wählerpotenziale akurater berechnet werden (Anteil Personen, die sich vorstellen können, Partei X zu wählen, minus Wähleranteil dieser Partei bei Nationalratswahlen). Der Lausanner Politikwissenschaftler Georg Lutz unterscheidet dabei zwei verschiedene Kategorien, nämlich diejenige des „verlässlichen“ und diejenige des „maximalen“ Potenzials einer Partei. Für die Nationalratswahlen verfügte die SP mit 30 % über das grösste „verlässliche“ Potenzial, während die BDP mit 15 % das geringste auswies. Bei der Ausschöpfung war die SVP absolute Spitzenreiterin, die 81 % ihres „verlässlichen“ Potenzials ausschöpfen konnte; demgegenüber gaben nur 24 % derjenigen Leute, die sich sehr gut vorstellen konnten GLP zu wählen, selbiger Partei auch tatsächlich ihre Stimme.

    Ihr Beispiel mit den Potenzialen der BDP und CVP zeigt überdeutlich auf, dass die beiden Parteien die gleichen Stimmbürgerschaften ansprechen, warum sollten sie sich also nicht um Wählerstimmen konkurrieren dürfen? Natürlich ist es für keine Partei ratsam, ein Gebiet vollständig zu vernachlässigen. Wenn Partei X aber weiss, dass es Gegenden gibt, in denen die Stimmbürger sehr ähnlich ticken wie sie, wäre es sicher nicht falsch den Wahlkampf dort zu intensivieren bzw., sofern es in besagten Gebieten noch keine Lokal-/Kantonalsektion gibt, die Gründung einer selbigen mittel- bis längerfristig ins Auge zu fassen. Mein Blogbeitrag soll in dieser Hinsicht auch ein Weckruf an die Parteien sein und zu neuen Ideen anregen! Die Schweizer Parteienlandschaft hat sich trotz historischen Eigenheiten stets verändert und soll dies auch in Zukunft tun (dürfen). Ansonsten sähen wir uns wahrhaftig einem langweiligen Wahlkampf ausgesetzt.

    Freundliche Grüsse,
    Lukas Lauener

    Literaturnachweis:
    Lutz, Georg (2012): Eidgenössische Wahlen 2011, Wahlteilnahme und Wahlentscheid. Lausanne: Selects – FORS.

  3. Lieber Herr Lauener

    Ich gebe gerne zu, dass ich Ihren Blog-Beitrag, insbesondere die Methodik, insofern oberflächlich las, als ich
    Ihr Mass der Übereinstimmung falsch verstanden habe: Zu sehr irritierten mich die grossen Zügen Ihrer
    Überlegungen und die Schlüsse, die Sie daraus ziehen – zumal sogar ein Redaktor einer meist seriösen Zeitung
    darauf hereinfiel.

    Allerdings gilt meine Argumentation mutatis mutandis auch für Ihr tatsächlich vorgeschlagenes Mass. Um jegliche
    Theorie zu umgehen, habe ich ein kleines Beispiel zusammengestellt, das dies illustriert (siehe Abstimmungen in Seldwyla). Es stellt
    eine Gemeinde mit 27 Stimmbürgern dar, die an 7 eidgenössischen Abstimmungen teilnahmen. Das Beispiel ist eine
    Karikatur einer möglichen Situation: Die Gemeinde besteht aus einer knappen Mehrheit von strammen SP-Anhängern
    und einer knappen Minderheit von ebenso strammen SVP-Anhängern; CVP-Anhänger
    oder Anhänger anderer Parteien gibt es hier keine. Die Polparteien haben für diese Abstimmungen eindeutige und
    gegensätzliche Parolen ausgegeben, die CVP für die Abstimmungen 1 bis 3 dieselbe Parole wie die SP, für die
    Abstimmungen 4 bis 7 dieselbe wie die SVP, wobei es bei der CVP in ein paar Kantonen Abweichungen gab, was sich
    in den «Parteiparolenwerten» spiegelt.

    Gemäss Ihren Berechnungen weist diese Gemeinde die stärkste «Übereinstimmung» mit der CVP (55%) auf; die
    «Übereinstimmung» mit der SP beträgt nur 52%, jene mit der SVP nur 48%. Noch unsinniger sind die Werte des
    «unausgeschöpten Potentials»: Wohl beträgt es richtigerweise für die SP und die SVP je 0%, für die CVP kommt man
    aber auf irrwitzige 55%-0% = 55% – in einer Gemeinde, die offensichtlich extrem polarisiert ist; auf jeden Fall
    bedauere ich den armen CVP-Wahlkämpfer der den Auftrag erhielte, das von Ihnen ausgemachte grosse «Potential» auszuschöpfen.

    Dieses Beispiel illustriert auch, wieso Ihre Karten der Schweiz fast durchwegs orange gefärbt sind, also eine
    allgemeine, sehr grosse Übereinstimmung der meisten Schweizer Stimmbürger mit den CVP-Parolen vorgaukeln. Ein
    dermassen überraschendes Resultat hätten Sie hinterfragen müssen, anstatt sich mit Empfehlungen an die
    Parteistrategen auf die Äste hinauszulassen.

    Wie schon gesagt, besteht Ihre methodische Todsünde darin, dass Sie den Wähleranteil einer Partei in einer
    Gemeinde von der «Übereinstimmung der Stimmbürger einer Gemeinde mit den Parolen» dieser Partei subtrahieren.
    Sie tun es, weil Sie die Bedeutung Ihrer Prozentzahlen nicht richtig erfasst haben:
    Sie rechtfertigen diese Subtraktion mit der Aussage, sie hätten «die JA-Anteile in den Gemeinden mit den
    jeweiligen Parteiparolen verglichen (was dem Anteil der „parteikonformen“ Stimmbürger an der Gesamtzahl
    Abstimmungsteilnehmer in besagter Gemeinde entspricht)». Mit diesem Satz meinen Sie offensichtlich, dass Ihr
    Übereinstimmungsmass und der Anteil der parteikonformen Wähler gleich sind – dies ist eindeutig falsch, wie mein
    Beispiel (sowie ein gesundes Gefühl und etwas Überlegung) zeigt.

    Im Grunde genommen begehen Sie gar keinen statistischen, sondern einen Interpretationsfehler: Beim «Wähleranteil

    einer Partei» zählt man die Wähler (die in ersten Näherung mit den Stimmbürgern gleichgesetzt
    werden), beim «Übereinstimmungsmass» die Stimmen. Wegen des Wahlgeheimnisses lässt sich der einzelne
    Stimmbürger nicht über mehrere Abstimmungen verfolgen. Deshalb ist es praktisch aussichtslos zu versuchen, aus
    einer wie auch immer definierten Übereinstimmung der Abstimmungsresultate in einer Gemeinde mit den Parolen
    einer Partei (einem aggregierten Mass) und dem Wähleranteil dieser Partei (einem anders aggregierten Mass) ein
    Wählerpotential dieser Partei abzuleiten.

    Mit freundlichen Grüssen,

    Hans-Heinrich Nägeli

    P. S. Vor bald fünfzig Jahren stand ich ungefähr dort, wo Sie jetzt stehen. Zufällig entdeckte ich damals ein kleines
    Buch, das ich mit grossem Vergnügen und noch mehr Nutzen las: Darrell Huff, „How to Lie with Statistics“,
    London, 1954
    . Es hat mich gegen etliche geistige Fieberschübe geimpft. Ich kann es Ihnen nur empfehlen; NEBIS zeigt es an 9 Standorten an.

    • Lieber Herr Nägeli

      Der „Redaktor einer meist seriösen Zeitung“ war ich. Ich habe während den Semesterferien ein fünf wöchiges Praktikum bei NZZ Data gemacht. Das von ihnen angesprochenen Problem haben wir in der Redaktion besprochen, sind aber zum Entschluss gekommen, dass es trotzdem eine interessante Analyse darstellt. Und klar ist auch, dass es bei einer Gemeinde mit 27 Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich kaum einen Sinn macht, theoretische Wählerpotentiale zu berechnen. Diese jedoch einfach auf der Karte leer zu lassen, ist auch nicht gerade eine gute Alternative. Und das Wählerpotential haben wir absichtlich theoretisch genannt, da das effektive Wählerpotential häufig stark davon abweicht. Das mit den SVP vs. SP hätte ich vielleicht noch in den Artikel hineinnehmen sollen, da gebe ich Ihnen recht.

      Ob die Parteien bei den Gemeinden mit hohem theoretischen Wählerpotential wirklich mehr Wahlkampf machen sollten, wie ich es geschrieben haben, darüber kann mach sich sicherlich streiten. Da es ein Beitrag im Vorfeld der Zürcher Kantonsratswahlen war, habe ich es jedoch trotzdem hinein genommen. Die Parteien werden sicherlich genug weise sein und den Wahlkampf nicht alleine auf diesen Beitrag ausrichten.

      Beste Grüsse,
      Benjamin Schlegel

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