Wikipedia – auch ein Wahlbarometer?

Informationen sind unerlässlich für den individuellen Meinungsbildungsprozess. Das Informationsverhalten der Gesellschaft spiegelt sich im Zeitalter des Webs besonders in den Daten zur Internetnutzung wider. Gerade Angebote wie Wikipedia werden oft genutzt um sich ein Bild einer Sache zu machen und anschliessend einen Entschluss zu fassen. Darauf beruhen denn auch die Bestrebungen, durch Veränderungen der Nutzungszahlen einzelner Wikipedia-Beiträge die Bewegrichtung von Aktienkursen oder die Höhe der Einnahmen von Kinofilmen vorherzusagen. Auch vor politischen Wahlen spielt der individuelle Informationsprozess eine wesentliche Rolle. Was kann aus ‚Big data‘, in Form von im Zeitraum vor Wahlen entstandenen Nutzungsdaten, gefolgert werden? Können gewisse Trends aus diesen Daten herausgelesen werden? Oder eignen sie sich sogar um traditionelle Umfragen zu ergänzen? Die Präsidentschaftswahl in der Slowakei, die kürzlich stattgefunden haben, sowie die letztjährige Wahl in der Tschechischen Republik, bieten sich an um auf diese Fragen einzugehen.

Wusste Wikipedia schon vorher wer die Wahl in der Slowakei gewinnt?

Die Volkswahl des slowakischen Staatspräsidenten im März brachte Andrej Kiska als Sieger hervor. Der politunerfahrene Millionär und Philantrop konnte sich gegen den Sozialdemokraten Robert Fico, den amtierenden Premierminister, durchsetzen. Was gemäss Experten eigentlich wie ein ‚Spaziergang‚ für Robert Fico hätte verlaufen sollen, endete somit mit einer gehörigen Abreibung für den Politprofi.

Andrejkiska

Robert Fico blieb schon im ersten Wahlgang – trotz dem höchsten Stimmenanteil- deutlich hinter den Erwartungen (Umfrage des Instituts ‚Polis‚: 37.8% – Wahlresultat 28 %). Die Aufrufe Kiskas Wikipediaseite zeigen, dass das Interesse an Kiska schon Monate vor den Wahlen beträchtlich war. Er weist mit Abstand den meistgelesenen Wikipediaeintrag auf.

Wenn wir die Umfragewerte mit dem Anteil der Wikipedia-Aufrufe im Wahlmonat vergleichen, zeigt sich ein spannendes Bild. In einigen Fällen liegt der Aufrufanteil sogar näher am tatsächlichen Wahlresultat als die Umfragewerte. Gerade der junge Anwalt Radoslav Prochazka schnitt im ersten Wahlgang viel besser ab, als dass es die Umfragewerte erwarten liessen. Der ‚Wikipediaindikator‘ kommt seinem Wahlergebnis um einiges näher.

In zwei Fällen sind jedoch sehr starke Abweichungen ersichtlich. Robert Fico weist einen eher tiefen Anteil des ‚Wikipedia-traffic‘ auf, obwohl er im ersten Wahlgang die meisten Stimmen holte. Dies ist wahrscheinlich auf seinen bereits sehr hohen Bekanntheitsgrad zurückzuführen. Hingegen wurde der Beitrag von Helena Mezenskà im Vergleich mit ihrem Wahlresultat relativ rege gelesen. Abgesehen davon, dass sie die einzige weibliche Kandidatin war, könnte hier auch die medienwirksame Aktion mit der sie es in letzter Minute noch schaffte die nötigen 15‘000 Unterschriften für eine Kandidatur zusammenzubringen, eine Rolle gespielt haben.

Vor der Stichwahl verzeichnete Kiska weiterhin überproportional viele Zugriffe. In den Umfragen hatte sich herauskristallisiert, dass Kiska die Stichwahl gewinnen könnte, falls es ihm gelingen sollte die Wähler der ausgeschiedenen Kandidaten für sich zu gewinnen. Das grosse Interesse gegenüber seiner Person auf Wikipedia zeigt, dass sich viele Wähler vermutlich sehr rege mit seiner Person auseinandergesetzt haben, während wenige sich mit Fico befasst zu haben scheinen.

Dies ist jedoch teilweise auch Robert Fico zuzuschreiben, denn er hat versucht Kiska u.A. als Scientologen und Wucherer abzustempeln.Die häufigsten Suchbegriffe auf Google zeigen, dass dies die Neugier der Webuser gegenüber Kiska noch zusätzlich verstärkt hat. Am Ende dieses Beitrags ist die dementsprechende Google Trends Statistik ersichtlich, welche die meist gesuchten Schlagworte in Verbindung mit Kiska aufzeigt.

Im Falle der slowakischen Präsidentschaftswahl scheint der Indikator ‚Wikipediatraffic‘ einige Entwicklungen gut abzubilden. Das Interesse an Robert Fico nimmt im Zeitraum von Januar bis zum ersten Wahlgang anteilsmässig ab, während das Interesse an Kiska stets überdurchschnittlich ist. Abgesehen von den zwei angesprochenen abweichenden Fällen scheint der Ansatz allgemein einen ‚guten Job‘ zu machen. Die Frage ist aber, ob sich diese Erkenntnis auch auf vergleichbare Wahlen übertragen lässt…

Die Präsidentschaftswahl in Tschechien 2013

Die Präsidentschaftswahl in Tschechien im letzten Jahr bietet sich an, um dies zu prüfen. In die Stichwahl schafften es der ehemalige Premierminister Miloš Zeman und Karel Schwarzenberg, der bis 2013 noch amtierender Aussenminister war. Zeman wurde in der Stichwahl mit 53.9% gewählt. Die Zugriffstatistiken von Wikipedia scheinen in diesem Fall weniger aufschlussreich zu sein.

Auch im verkürzten Zeitraum kurz vor dem ersten Wahlgang ergibt sich kein Bild welches auf den Wahlausgang schliessen lässt.

Miloš Zeman verzeichnete vor dem ersten Wahlgang gerade mal am drittmeisten Aufrufe, was wie im Falle Robert Ficos in der Slowakei wahrscheinlich damit zu erklären ist, dass er bereits äusserst populär ist. Jan Fischer ist ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt, auch er war schon mal Premierminister, seine Zugriffsrate ist folglich ebenfalls um einiges tiefer als das erreichte Wahlresultat. Dieses Muster scheint systematisch: Wikipedia-Beiträge über Politiker mit sehr hohem Bekanntheitsgrad, welche auch schon an der Regierungsspitze standen, werden auch wenn diese eine grosse potentielle Wählerschaft im Rücken haben, vergleichsweise weniger oft konsultiert. Das Gegenteil ist bei Kandidaten wie Vladimír Franz der Fall. Der Beitrag des unabhängigen Politikers scheint äusserst beliebt gewesen zu sein. In der Wahl schnitt er hingegen schlecht ab. Schlechter noch, als es die Umfragen erwarten liessen. Einer der Gründe für das hohe Interesse an seiner Person ist sicherlich das Erscheinungsbild des ganzkörpertätowierten Kunstprofessors. Seine Tätowierungen haben Aufsehen erregt (siehe Google Search Trends weiter unten). Auch ausländische Medien schenkten ihm einige Aufmerksamkeit, obwohl er sich gemäss Expertenmeinungen programmatisch nicht sehr stark von der Konkurrenz abzuheben vermochte.

Vladimir Franz by Vladimir Franz prezidentem

Karel Schwarzenberg, Vorsitzender der noch jungen ‚TOP 09‘ Partei, erreichte in den Umfragen keine hohen Werte. Experten trauten ihm maximal zu, den dritten Platz zu erreichen und räumten ihm daher auch keine grossen Chancen ein, es bis in die Stichwahl zu schaffen. Gemäss Zugriffsstatistik war sein Beitrag im Wahlmonat hingegen der weitaus beliebteste. Das grosse Interesse am ‚Fürst zu Schwarzenberg‘, wie er aufgrund seiner adligen Herkunft in den Tschechischen Medien auch genannt wird, widerspiegelt sich klar in der Zugriffsstatistik. Dieser ‚Lichtblick‘ ändert jedoch nichts daran, dass die Zugriffsstatistik im Falle der Wahl in Tschechien keine grosse Hilfe ist.

Wikipedia – doch (k)ein Wahlbarometer…

Was lässt sich im Endeffekt aus der Analyse ableiten? In beiden Fällen nimmt das Interesse an den Kandidaten im Internet mit näher rückendem Wahltermin stark zu. Doch nur im Falle der Slowakei scheint die Häufigkeit der Wikipedia-aufrufe sich auch in den Wähleranteilen widerzuspiegeln.
Die Zugriffsstatistik eignet sich daher nicht, um tatsächliche Wähleranteile konsistent vorherzusagen. Das Beispiel der Wahl in Tschechien lässt die Frage der Reproduzierbarkeit ähnlicher Resultate nämlich offen. Eine Ursache dieses Befundes ist darin zu sehen, dass neben politischem Interesse unzählige weitere Faktoren das Informationsbedürfnis von Individuen beeinflussen. Persönlichkeiten welche schon äusserst bekannt bzw. populär sind erwecken bei den Bürgern logischerweise weniger Informationsbedarf als auffälligere tätowierte Kandidaten oder self-made Millionäre von denen behauptet wird, dass sie Scientology angehören. Die Zugriffszahlen zeigen uns schliesslich nur, wie oft die Beiträge aufgerufen werden. Sich über die Kandidaten schlau zu machen bedeutet nicht zwingend, diese auch politisch unterstützen zu wollen. Trotzdem scheint es möglich, den Daten gewisse Trends entnehmen zu können. Der Kandidat mit dem grössten Anteil an Zugriffen im Wahlmonat hat es in beiden Fällen – mindestens – in die Stichwahl geschafft. Um Nutzungsdaten wie die von Wikipedia noch besser nutzen zu können wäre es jedoch notwendig, das Informationsverhalten der Internetnutzer (besser) zu verstehen und die Faktoren zu identifizieren, welche es am stärksten beeinflussen. Es ist anzunehmen, dass beispielsweise ein überblickbares Kandidatenfeld sowie ein ähnlicher Bekanntheitsgrad der Kandidierenden die Aussagekraft des Indikators ‚Wikipedia-traffic‘ begünstigen. Im Kontrast dazu scheinen besonders ‚spektakuläre‘ Exponenten, im Gegensatz zu ihren ‚langweiligeren‘ Kontrahenten, schnell mal die ‚Kräfteverhältnisse‘ in der Zugriffstatistik zu verzerren.

Zum Schluss präsentiere ich hier noch die Google Trends Rangliste der meist gesuchten Begriffe im Zusammenhang mit Andrej Kiska und Vladimir Franz, um zu zeigen wie sich Aufälligkeiten oder Anschuldigungen auf das Informationsverhalten auswirken. Unter den Top-Suchbegriffen sind u.A.: „Kiska Scientolog“ (DE: Kiska Scientologe) / oder „Franz bez tetovànì“ (DE: Vladimir Franz ohne Tätowierungen).


Zum Vergleich zeige ich auch noch das Interesse über die Zeit gemessen an der Häufigkeit der Googlesuchbegriffe. Die Entwicklung entspricht weitgehend der Wikipediazugriffsstatistik.

Blogbeitrag von Thomas Lo Russo

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Die verwendeten Bilder sind Creative-Common lizenziert. Urheber: Fusstsball (Bild von Kiska), Vladimir Franz (Bild von Franz)

Die Daten können hier heruntergeladen werden.

Quellen:

Wikipedia-Seitenzugriffe

Wahlresultat in der Slowakei

Wahlresultat in der Tschechischen Republik

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