Kritische Stimmen auf Twitter

Auf Twitter aktive Politiker beurteilen den Zustand der Schweizer Demokratie kritischer als ihre Kolleginnen und Kollegen im Parlament. Dies zeigt eine Auswertung von Daten zur Twitter-Nutzung und Angaben der amtierenden National- und Ständeräte in der Schweizer Wahlstudie. 

In den letzten Jahren ist in der Schweiz die Zahl auf Twitter aktiver Politiker kontinuierlich gestiegen. Neue Twitter-Accounts wurden besonders fleissig im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2011 eröffnet. Der kontinuierliche Aufwärtstrend und bisherige Erfahrungen mit steigendem Politiker-Interesse an Twitter im Vorfeld von Wahlen lassen erwarten, dass Twitter in den kommenden Monaten für die Politik an Bedeutung gewinnen wird. Mit Blick auf die Eidgenössischen Wahlen im Oktober 2015 lohnt es sich daher diejenigen Politiker genauer unter die Lupe zu nehmen, die auf Twitter ihre Kommentare, Empfehlungen und Informationen mit der Öffentlichkeit teilen.

Twitter-Öffentlichkeit: Die These der „kritischen“ Twitterer 

So banal es klingen mag, die Kommunikation auf Twitter bietet kein präzises Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder realer politischen Kräfteverhältnisse. Für Twitter gilt wie für jede andere Form medial vermittelter Öffentlichkeit: nicht alle gesellschaftlichen Gruppen nehmen gleichermassen teil, einige Stimmen werden stärker gehört als andere.

Das „ungleiche Gezwitscher“ von Schweizer Parlamentariern war bereits Gegenstand daten-journalistischer Beiträge zum Thema Politiker-Kommunikation auf Twitter. Seither ist bekannt, dass junge, linke und urbane Politiker in der Schweiz auf Twitter – gemessen an ihrer Vertretung im Parlament – überproportional präsent sind, und deutlich aktiver als ältere Politiker und Mitglieder bürgerlicher Parteien. Zu den politischen Einstellungen der „twitternden“ Parlamentarier wissen wir allerdings noch wenig.

Haben Sie den Eindruck, dass ‚twitternde‘ Politiker eher die kritischen unter den Parlamentariern sind?“ – hatte ich einige auf Twitter aktive National – und Ständeräte per E-Mail gefragt. Die Frage beschäftigt mich seit mir aufgefallen ist, dass die Twitter-Nutzer unter den amtierenden Bundesparlamentariern anders auf eine Frage nach dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Schweizer Demokratie antworteten. Meine Anfrage war etwas kurzfristig, so dass nur einer von ihnen zurückschrieb:

„Ihre These kann ich nicht definitiv beurteilen. Aus dem Bauch heraus scheint es plausibel, dass sich kritische Menschen gerne mit ihrer Kritik zu Wort melden. Fürs Parlament belegen kann man das aber kaum methodisch vernünftig“ – Andrea Claudio Caroni, FDP-Nationalrat

Ich habe dennoch einen Blick auf die Daten geworfen. Genau genommen: auf einen umfassenden Datensatz zu Schweizer Politikern auf Twitter und Angaben der amtierenden National- und Ständeräte in der Schweizer Wahlstudie Selects. Teilgenommen haben an der Selects-Studie etwas weniger als die Hälfte aller Bundesparlamentarier: immerhin insgesamt 116 Parlamentarier, 100 der 200 gewählten Nationalräte und 19 der 46 gewählten Ständeräte aller im Parlament vertretenen Parteien. Gefragt wurde in der Studie unter anderem nach der Zustimmung zu folgender Aussage: „Unsere Demokratie ist dabei, das Vertrauen der Bürger zu verlieren“.

Vergleicht man die Antworten auf diese Frage, so ergibt sich ein interessantes Bild: Twitternde Parlamentarier beurteilen den Zustand der Schweizer Demokratie tendenziell kritischer als der Durchschnitts-Parlamentarier.

So war fast die Hälfte der Befragten mit aktivem Twitter-Account – also mit mindestens einem versandten Tweet – der Ansicht, dass das Demokratie-Vertrauen unter den Schweizerinnen und Schweizern zurückgeht. Unter twitternden Parlamentariern war die Antwort „ich stimme eher zu“ die am häufigsten genannte. Anders urteilten die „nicht-twitterenden“ Parlamentarier. National- und Ständeräte, die bis heute auf einen Twitter-Account verzichten, oder einen Twitter-Account besitzen, diesen jedoch noch nicht zum Twittern genutzt haben lehnten die Aussage mehrheitlich ab. Sie gaben am häufigsten die Antwort „stimme eher nicht zu“. 

Dass die befragten Twitter-Nutzer in der Tendenz kritischer geantwortet haben, zeigt bereits eine einfache grafische Übersicht.

demokratie-vertrauen-grafik

Reiner Zufall? Ich rechne mit den Daten ein statistisches Modell, in dem ich überprüfe, mit welcher Wahrscheinlichkeit meine Beobachtung dem Zufall geschuldet ist. Meine Berechnung ergibt, dass die statistische Wahrscheinlichkeit dafür gering ist (0.01 Prozent) – selbst wenn man im Model den Einfluss vom Alter, der links-rechts Positionierung und dem Geschlecht der befragten Parlamentarier berücksichtigt.

Obwohl meine Ergebnisse natürlich nicht unanfechtbar sind, kann ich mit einiger Sicherheit behaupten, dass ich auf ein interessantes Phänomen gestossen bin.

Parlamentarier, die sich auf Twitter engagieren, gehen eher von einem sinkenden Vertrauen in politische Institutionen aus.

Ist das Twitter-Engagement dieser Parlamentarier ein Versuch verloren geglaubtes Vertrauen zurückzugewinnen? – eine mögliche und naheliegende Erklärung für diese Tendenz. Sehen twitternde Politiker das soziale Netzwerk als Diskussionsforum und Kommunikationskanal, das ihnen einen direkteren Zugang zu ihren Wählerinnen und Wählern gibt? Ganz in diesem Sinne beschreibt die Grüne Partei Schweiz auf ihrer Website unter dem Stichwort „Netzpolitik“ das Internet als „Ort des Austausches, der auch für mehr demokratische Mitbestimmung und für eine nachhaltigere Gesellschaft genutzt werden kann und soll“.

Letztendlich ist es nicht möglich von Ansichten zum Demokratie-Vertrauen auf Motive der Twitter-Nutzung zu schliessen. Ausserdem ist auch davon auszugehen, dass mehrere unterschiedliche Motive und Überlegungen die Twitter-Nutzung einzelner Parlamentarier erklären. Erkenntnisfördernd ist es nicht desto trotz, dass auf Twitter aktive National- und Ständeräte das Vertrauen in politische Institutionen in der Schweiz kritischer bewerten als die „nicht-twitterenden“ Parlamentarier.

2 comments

  1. Hi Vanessa,

    das ist eine spannende Korrelation, die Du da ausgemacht hast. Danke für die Umriss! Ich habe letztes Jahr ebenfalls über Politiker auf Twitter geforscht und finde das deshalb sehr spannend.

    Allerdings hat mich Deine These etwas verwundert:

    „Je stärker Parlamentarier von einem sinkenden Vertrauen in politische Institutionen ausgehen, desto eher engagieren sie sich auf Twitter.“

    Woraus begründet sich diese Richtung des Effekts? Könnte es nicht auch sein, dass Politiker einen großen Vertrauensverlust in polit. Institutionen eben deshalb wahrnehmen, weil sie auf Twitter sind? Immerhin ist der Feedback-Channel von Twitter viel direkter, offener und womöglich auch radikaler als jener, den ein Politiker wahrnimmt, der nur auf Dorffesten und bei Wahlkampfständen mit der Bevölkerung unmittelbar in Kontakt kommt.

    Weiterhin hast Du erläutert, dass twitternde Politiker häufiger aus der Stadt stammen, jung und links gerichtet sind. Wäre es sehr unrealistisch, anzunehmen, dass sie als solche auch direkter einen Zweifel an der Demokratie wahrnehmen als alteingesessene, ländliche und konservative Politiker, die auch eher ein solches Klientel bedienen?

    Wenn man diese Möglichkeiten durch weitere Untersuchungen eingrenzen kann und somit einen ökologischen Fehlschluss ausschließen kann, wäre aber das von Dir beschriebene Phänomen durchaus extrem spannend! Vielleicht dockst Du ja an Deine bisherigen Untersuchungen an 😉

    • Hi Max

      danke für Deinen Kommentar.

      Ich halte Deinen Einwand, dass die Twitter-Nutzung einen Effekt auf das Demokratie-Verständnis haben könnte, für berechtigt. Deine Argumentation erscheint mir plausibel. In jedem Fall hätte ich die Richtung des Zusammenhangs überprüfen müssen. Da ich den Beitrag schon vor einer Weile verfasst habe, kann ich nicht mehr genau sagen, weshalb ich diesen Punkt nicht beachtet habe. Ich werde die Formulierung anpassen. Vielen Dank für den Hinweis!

      Was Deinen zweiten Kritikpunkt angeht: in meiner Regression habe ich, wie im Text beschrieben, für die Effekte dieser Variablen kontrolliert. Auch wenn man diese Faktoren berücksichtigt, hat das Demokratie-Verständnis immer noch einen signifikanten Einfluss.

      Ich möchte noch bemerken, dass ich keine wissenschaftliche Studie zu diesem Thema durchgeführt habe und dieser Beitrag auch eher einen explorativen Charakter hat.

      Hast Du einen Link zu Deiner eigenen Untersuchung oder anderen Studien zu diesem Thema?

      Liebe Grüsse
      Vanessa

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