Im Jahre 2014 arbeiteten durchschnittlich über 280’000 Grenzgänger in der Schweiz: Das ist eine Verdopplung gegenüber dem Jahre 2000. In Genf ist es gar eine Zunahme von über 140 Prozent. Die Wirtschaft spricht von benötigten qualifizierten Arbeitskräften, die politische Rechte von Rosinenpickern. Aber wer sind diese Grenzgänger? Woher kommen, wohin gehen und was arbeiten sie? – Der Versuch, einen Überblick zu schaffen.
In Basel fährt das «Trämli» gleich bis an die Grenze (Bildquelle: Marco Büsch).
Seit dem Jahre 2000 hat die Anzahl der Grenzgänger (Definition des Begriffes am Ende des Textes) in vielen Gemeinden drastisch zugenommen. Wenig überraschend arbeitet die Mehrheit in den Grenzregionen der Schweiz, mit Abstand am Meisten in den Städten Basel und Genf (siehe Tabelle 1). Schon im Jahre 2000 gehörten diese Gemeinden zu den Spitzenreitern bei der durchschnittlichen Anzahl Grenzgänger, nichtsdestotrotz stieg gerade in Genf die Anzahl der Grenzgänger sehr viel stärker an als im Schweizer Durchschnitt (Genf: +140.47%, Schweiz: +100.20%). Für einige Bürger wohl zu stark, wie die Wahlerfolge des rechtspopulistischen «Mouvement citoyens genevois (MCG)» eindrücklich belegen, welche die «Grenzgängerproblematik» ganz oben auf ihrer Agenda haben: Bei den nationalen Wahlen 2011 erhielten sie 9.8 Prozent der Stimmen aus dem Kanton Genf und der Politologe Daniel Bochsler prognostiziert ihnen für die nationalen Wahlen 2015 einen Stimmengewinn von bis zu drei Prozent (siehe NZZ am Sonntag vom 26.04.2015). Dabei ist die schiere Anzahl der Grenzgänger in anderen Gemeinden wohl deutlich spürbarer.
Grafik 1: Durchschnittliche Anzahl Grenzgänger in den Schweizer Gemeinden (Layer für 2000, 2005, 2010 und 2014)
Tabelle 1: Die 10 Gemeinden mit der durchschnittlich höchsten Anzahl Grenzgänger 2014
Rang | Gemeindename | Durchschnittliche Anzahl Grenzgänger 2014 | prozentuale Veränderung zu 2000 | Verhältnis erwerbsfähige Bevölkerung/durchschnittliche Anzahl Grenzgänger |
1 | Basel (BS) | 35’167.75 | 27.84 | 0.32 |
2 | Genf (GE) | 28’451.40 | 140.47 | 0.23 |
3 | Lugano (TI) | 12’600.66 | 163.72 | 0.33 |
4 | Meyrin (GE) | 9’076.48 | 226.98 | 0.68 |
5 | Mendrisio (TI) | 8’601.68 | 81.4 | 0.98 |
6 | Carouge (GE) | 8’056.33 | 131.5 | 0.6 |
7 | Chiasso (TI) | 4’853.73 | 265.12 | 1.02 |
8 | Plan-les-Ouates (GE) | 4’779.83 | 263.11 | 0.79 |
9 | Lausanne (VD) | 4’463.80 | 358.61 | 0.05 |
10 | La Chaux-de-Fonds (NE) | 4’081.03 | 171.28 | 0.18 |
Schweizer Durchschnitt | 243.85 | 100.2 | 0.04 |
Ins Verhältnis gesetzt mit der einheimischen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter kommen im bevölkerungsreichen Genf auf einen Grenzgänger 4.35 erwerbsfähige Einheimische (oder auf einen erwerbsfähigen Einheimischen 0.23 Grenzgänger, wie in Tabelle 1). Die absolute Zahl der Grenzgänger verteilt sich in den dicht bevölkerten Gemeinden besser als in den bevölkerungsarmen, wie zum Beispiel Chiasso oder Mendrisio, in welchen das Verhältnis der erwerbsfähigen Einheimischen zu den Grenzgängern mittlerweile bei 1:1 liegt. Dies drückt sich auch in den Wahlergebnissen aus: Bei den kantonalen Wahlen 2015 hat die rechte «Lega del ticinesi», welche den Grenzgängern mehr als skeptisch gegenüber steht, zwar über zwei Prozent an Wählerstimmen verloren, aber gerade in Gemeinden wie Mendrisio und Chiasso stieg der Wähleranteil stark an oder blieb zumindest auf überdurchschnittlich hohem Niveau bestehen (Mendrisio: 25.70%, +4%; Chiasso: 31.26%, -0.66%). Bochsler prognostiziert wiederum für die nationalen Wahlen 2015 über den ganzen Kanton Tessin hinweg einen Stimmengewinn von bis zu einem Prozent für die Lega.
Grafik 2: Veränderung der durchschnittlichen Anzahl Grenzgänger 2000 bis 2014
Die Thematik der Grenzgänger wird wohl so schnell nicht von der Agenda der Grenzkantone verschwinden, denn in den preisgünstigeren ausländischen Grenzregionen zu wohnen und in den Schweizer Grenzkantonen mit den höheren Lohnniveaus zu arbeiten, scheint eine ungebrochene Attraktivität auszustrahlen. Die Einführung der Personenfreizügigkeit am 1. Juni 2007, mit welchem Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten das Recht erhielten, Arbeitsplatz beziehungsweise Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen, verstärkte den Anstieg der Anzahl Grenzgänger zusätzlich. Interessanterweise nehmen die Grenzgänger dabei innerhalb der Schweiz immer weitere Wege auf sich, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen: So arbeiteten die Grenzgänger in den letzten Jahren vermehrt auch in Binnenkantonen (siehe Grafik 2). Die Zahlen dazu bewegen sich jedoch auf einem überschaubaren Niveau: Am stärksten hat die Anzahl der Grenzgänger in Städten wie Bern (von 0.45 im Jahre 2000 auf 346.33 in 2014) oder Biel (0.225 auf 184.58) zugenommen. Die Wege, welche Grenzgänger innerhalb der Schweiz zurücklegen sind aber vielfach kein Vergleich mit den Wegen, welche sie von ihren Heimatorten im Ausland bis zur Schweizer Grenze pendeln.
Mehr französische Grenzgänger in Basel als in Neuenburg
Das Bundesamt für Statistik (BfS) bietet zwar keinen vollständigen Überblick darüber, woher die Grenzgänger kommen, jedoch zeigen die vorhandenen Zahlen, dass mit der Personenfreizügigkeit der Begriff der «Grenzregion» viel weiter gefasst wird als noch vor 15 Jahren: Dänische Grenzgänger arbeiten im Kanton Zürich, Ungaren im Kanton Bern und Luzern. Die Zahl der Grenzgänger, welche nicht aus Nachbarstaaten der Schweiz stammen ist aber sehr beschränkt: Die meisten Grenzgänger kommen immer noch aus Frankreich, Italien, Deutschland oder Österreich.
Grafik 3: Wohn- und Arbeitsorte der Grenzgänger 2014
Es fällt auf, dass mit Abstand am meisten Grenzgänger aus Frankreich stammen, von wo aus sie sich grösstenteils auf die Westschweizer Kantone verteilen. Es bleibt jedoch anzumerken, dass fast ebenso viele Grenzgänger im Kanton Basel-Land arbeiten wie zum Beispiel im Kanton Neuenburg; in Basel-Stadt gar über ein Drittel mehr. Aus Deutschschweizer Wahrnehmung ist dabei interessant zu beobachten, dass im Kanton Basel-Stadt gar ein bisschen mehr Grenzgänger aus Frankreich arbeiten als aus Deutschland. Es wird wohl daran liegen, dass viele Franzosen, welche im Grossraum Basel arbeiten, aus dem französischen, aber deutschsprachigen Elsass stammen. Grenzgänger aus Italien und Deutschland bleiben im Gegensatz dazu fast ausschliesslich in «ihren» Sprachregionen: Die Italiener im Tessin und teilweise im Graubünden; die Deutschen ungefähr gleichmässig über alle Deutschschweizer Kantone verteilt.
Techniker und Handwerker mittleren Alters sind gefragt
Betrachtet man die Verteilung aller Grenzgänger auf die Berufsgruppen, so fällt auf, dass die Berufsgruppen mit eher höheren und eher niedrigeren Lohnniveaus unterdurchschnittlich vertreten sind, sprich: Die Anzahl der Grenzgänger in den Kategorien «Führungskräfte und Akademiker» und «Hilfsarbeitskräfte» sind deutlich niedriger als bei anderen Kategorien. Die meisten Grenzgänger sind zwischen 35 und 49 Jahre alt und gehören der Berufshauptgruppe der Techniker und Handwerker an. Zumindest im Bezug auf die Grenzgänger scheinen die Diskussionen über den «deutschen Filz an den Universitäten» (O-Ton SVP) und die «osteuropäischen Hilfskräfte in der Landwirtschaft» (NZZ vom 31.07.2011) am Ziel vorbei zu schiessen: Druck auf den Arbeitsmarkt machen die Grenzgänger höchstens in den Berufsgruppen, welche den mittleren Lohnsegmenten angehören. Eine allfällige Kontingentierung, wie sie bei einer strikten Durchsetzung der Masseneinwanderungsinitiative der Fall wäre, würde diese Grenzgängergruppen wohl am härtesten treffen.
Grafik 4: Die durchschnittliche Anzahl Grenzgänger 2014, in Alters- und Berufshauptgruppe eingeteilt
Die Zahl der Grenzgänger steigt – die der Skeptischen auch
Gerade in den letzten 15 Jahren hat sich die Anzahl der Grenzgänger verdoppelt, in manchen Gemeinden gar vertausendfacht. In vielen Grenzgemeinden tragen sie einen essenziellen Teil zur Wirtschaftsleistung bei und prägen das Gemeindebild. Dabei arbeiten immer mehr Grenzgänger nicht mehr nur in den Randregionen der Schweiz sondern auch in den Binnenkantonen, insbesondere in der Innerschweiz um den Vierwaldstättersee. Es bleibt abzuwarten, wie die mehr oder weniger strikte Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative diesen Trend beeinflussen wird. Und welchen (zumindest indirekten) Einfluss die Grenzgänger auf die nationalen Wahlergebnisse in den Grenzkantonen haben werden, denn wie die Anzahl der Grenzgänger scheint auch die Anzahl der Grenzgängerskeptischen stetig zu steigen.
Autor: Marco Büsch | 09-728-213 | marco.buesch@uzh.ch
Für: Seminar Policy-Analyse: Politischer Datenjournalismus (FS 2015)
Dozenten: Dr. Sarah Bütikofer, Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann und Dr. des. Bruno Wueest.
Abgabedatum: 17.05.2015
Wörter: 1011