Gründe für Brexit: Immigrationsskepsis von grosser Bedeutung

Seit dem Brexit-Entscheid in Grossbritannien wird über Gründe spekuliert, weshalb die Briten diese Wahl getroffen haben. Ein Blick in die Daten zeigt, dass klassische Erklärungsfaktoren für die EU-Skepsis tendenziell eher weniger Erklärungskraft haben in Grossbritannien im Vergleich zu anderen EU-Ländern. Dafür ist die Immigrationsskepsis von grosser Bedeutung.

Doch werfen wir zuerst einmal einen Blick auf die Vorzeichen: Anhand von Daten des European Social Surveys kann analysiert werden, wie wohlwollend oder eben auch ablehnend die Stimmung gegenüber der EU in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war. Das ESS ist eine Umfrage, bei der in ganz Europa Menschen zu verschiedensten Einstellungsfragen mit sozialwissenschaftlicher Relevanz befragt werden. Es beinhaltet beispielsweise Fragen zur Migration, zu wirtschaftlicher Zufriedenheit – und eben auch zur Einstellung gegenüber der EU. In der nachfolgenden gif-Animation wird im Zeitverlauf von 2004 bis 2014 gezeigt, wie positiv (10) oder negativ (0) die Stimmung gegenüber der EU in Grossbritannien verglichen mit anderen EU-Ländern war. Es wird ersichtlich, dass in Grossbritannien (UK) die Einstellung gegenüber der EU schon relativ früh negativer als in anderen EU-Ländern war. Dieser Umstand kann so interpretiert werden, dass die Entscheidung, aus der EU auszutreten, doch nicht ganz so überraschend zustande kam.

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Gründe für den Austritt

In der Fachliteratur und auch in Zeitungsartikeln wird immer wieder über verschiedenste Gründe spekuliert, weshalb der Brexit-Entscheid zustande kam.

Ein möglicher Grund wäre das Bildungsniveau der Wähler und Wählerinnen: Weniger gebildete konnten vielleicht die Tragweite eines solchen Entscheids nicht abschätzen und entschieden sich deshalb für den Austritt. Hier ergibt sich schon die erste Überraschung: Bildung und die Einstellung gegenüber der EU hängen absolut nicht zusammen. Und zwar sowohl im vereinigten Königreich als auch in der gesamten EU. Bildung kann also als Grund für den Brexit verworfen werden.

Ein anderer Grund, der oft Aufgeführt wird ist, dass Abstimmungen und Wahlen mit EU-Bezug oft eigentlich eine indirekte Abstrafung der nationalen Regierung sind. Es wird also gegen die EU gestimmt, um Unzufriedenheit gegenüber der nationalen Regierung auszudrücken. Dieses Phänomen hat der Harvard-Politikwissenschaftler Robert Putnam im Jahre 1988 erkannt und „two-level-game“ genannt.

Der Verlauf der Beziehung zwischen der wirtschaftlichen Zufriedenheit und der Einstellung gegenüber der EU sieht folgendermassen aus:

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Regressionskoeffizienten für die Beziehung zwischen der Zufriedenheit mit der nationalen Wirtschaft und den EU-Präferenzen

Diese Darstellung ist auf den ersten Blick etwas schwierig zu verstehen. Im Prinzip wird die Stärke der Beziehung zwischen den beiden Konstrukten „wirtschaftliche Zufriedenheit“ und „EU-Präferenzen“ im Zeitverlauf dargestellt. Auf der Horizontalen sind die Jahre abgebildet, die Vertikale zeigt die Stärke der Beziehung. Es gibt also für jedes Jahr rote (EU diverse) und blaue (UK) Punkte, die jeweils die Stärke der Beziehung zwischen den beiden Konstrukten im jeweiligen Jahr für die jeweiligen Länder anzeigen. So kann demonstriert werden, wie sich die Beziehung im Zeitverlauf im Vergleich zwischen den beiden Regionen (UK und EU diverse) verändert hat. Die gepunkteten vertikalen Linien zeigen das Konfidenzintervall, das heisst, den Bereich ausserhalb dessen ein Unterschied zwischen zwei Werten mit hoher Sicherheit nicht vom Zufall abhängig ist. Dies ist hier allerdings nur der Vollständigkeit halber dargestellt, prinzipiell sind v.a. die Punkte und die Linien, die sie verbinden, wichtig.

Es wird ersichtlich, dass sich die Beziehung zwischen der Zufriedenheit mit der nationalen Wirtschaft und der Einstellung gegenüber der EU bis etwa 2012 im UK und in der restlichen EU recht ähnlich entwickelt hat. Von 2012 bis 2014 hingegen ging der Zusammenhang in Grossbritannien genau in die umgekehrte Richtung als in der restlichen EU. Im vereinigten Königreich schwächte sich die Beziehung relativ stark ab, während sie in anderen EU-Ländern etwas stärker wurde. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die nationale wirtschaftliche Zufriedenheit im UK eher wenig Einfluss auf den Brexit hatte.

Der Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit der nationalen Regierung und der EU-Einstellung gestaltet sich folgendermassen:

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Regressionskoeffizienten für die Beziehung zwischen der Zufriedenheit mit der nationalen Regierung und den EU-Präferenzen

Hier ist der oben festgestellte Trend noch ausgeprägter: Während die Stärke der Beziehung in anderen EU-Ländern in etwa konstant oder sogar leicht ansteigend war, gab es im Vereinigten Königreich ab 2008 einen starken Abwärtstrend. Im Jahre 2014 ist die Beziehung zwischen der Zufriedenheit mit der nationalen Regierung und den EU-Präferenzen im UK einiges schwächer als in diversen anderen EU-Ländern.

Nichts desto trotz besteht in Grossbritannien für alle Jahre ein signifikanter aber schwacher Zusammenhang zwischen nationalen Faktoren und den EU-Präferenzen. Das heisst, das „two-level-game“ spielte wahrscheinlich einen Einfluss beim Brexit. Doch weil der Zusammenhang sich im Verlaufe der Zeit in Grossbritannien abschwächte ist er sicher kein Haupterklärungsfaktor für die Entscheidung zum EU-Ausstieg.

Die Angst vor der Immigration und Globalisierung kann auch ein Grund sein, weshalb Wähler und Wählerinnen gegen supranationale Vereinigungen wie die EU sind.

Im European Social Survey wurde auch die Frage gestellt, inwieweit Immigration schlecht (0) oder gut (10) für die nationale Wirtschaft sei. Der Verlauf des Zusammenhangs zwischen dieser Einstellung und der Einstellung gegenüber der EU sieht folgendermassen aus:

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Regressionskoeffizienten für die Beziehung zwischen der Einschätzung, ob Immigration schlecht oder gut für die nationale Wirtschaft sei und den EU-Präferenzen

Dieser Zusammenhang war im Jahre 2004 in der gesamten EU tendenziell etwas stärker als im vereinigten Königreich. Doch von 2012 bis 2014 nahm er in Grossbritannien relativ abrupt zu und wurde im Jahre 2014 sogar tendenziell etwas stärker als im Vergleich mit anderen EU-Ländern. Es wird auch klar ersichtlich, dass der Trend im UK auch in den vorherigen Jahren eher positiv ist, während er in den restlichen EU-Ländern eher in die entgegengesetzte Richtung geht. Diese Trends und die Grösse der Regressionskoeffizienten weisen darauf hin, dass immigrationsskeptische Tendenzen einen tendenziell grösseren Einfluss als klassische Erklärungsfaktoren für EU-Skepsis gespielt haben könnten bei der Entscheidung für den Brexit.

 

 

Methodische Anmerkungen:

Die Regressionskoeffizienten resultieren jeweils aus bivariaten Regressionen der jeweiligen Erklärungsfaktoren. Es wurden keine Kontrollvariablen einbezogen. Die Koeffizienten sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren und nicht als stichfeste Analyse der Zusammenhänge zu sehen.

Die Gruppe „EU Diverse“ setzt sich zusammen aus folgenden Ländern: Belgien, Deutschland, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Ungarn, Irland, Niederlande, Polen, Portugal, Schweden und Slowenien. Für diese Länder sind für denselben Zeitraum wie für Grossbritannien (2004, 2006, 2008, 2012, 2014) Daten zur EU-Einstellungsfrage im ESS-Datensatz vorhanden. Die Vergleiche im Sinne von UK vs. EU sind deshalb mit Vorsicht zu geniessen, da längstens nicht die gesamte EU in der Einschätzung der Rest-Daten vorhanden ist. Allerdings ist anzumerken, dass in diesen Ländern sowohl stark euroskeptische (Finnland oder Ungarn) als auch etwas Europhilere Länder wie z.B. Dänemark oder Deutschland vorhanden sind.

Die Daten wurden für alle Berechnungen jeweils wie auf der ESS-Website dokumentiert gewichtet, wobei für die Einzeldaten des UK jeweils die Post-Stratification-Weights benützt wurden. Für die Gewichtung der Gruppe „EU Diverse“ wurde die Kombination aus Post-Stratification-Weights und Population Size-Weights benützt.

Informationen zum Blogbeitrag:

Verfasser: David Krähenbühl, Matr. Nr: 12-709-135 | david.kraehenbuehl@uzh.ch

Abgabe am 18.12.2016 im Rahmen des Forschungsseminars Politischer Datenjournalismus (Herbstsemester 2016)

Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann, Dr. des. Bruno Wüest, Dr. Sarah Bütikofer

Wort-Anzahl: 837

Zitierte Quelle: Putnam, Robert D. (1988): Diplomacy and domestic politics: the logic of two-level games. International organization 42(03), 427-460.

R-Script: Rscript_blog1_davidkraehenbuehl

 

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