Schaut die Schweiz zu wenig hin? Inwiefern der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Schweizer Parlament Raum einnimmt

Ist die Kritik an der passiven Rolle der Schweiz in Bezug auf den Krieg in der Ukraine berechtigt? Eine Analyse der parlamentarischen Vorstösse während des ersten Kriegsjahrs gibt Aufschluss darüber.

«Der Bundesrat behauptet, die Schweiz engagiere sich enorm – aber das ist schlicht gelogen». Mit diesem Zitat lässt sich Cedric Wermuth (SP) kürzlich in der Republik zitieren. Auch international sorgt die Schweizer Ukrainepolitik für Frustration: Le Monde beispielsweise spricht von einer Weigerung der Schweiz, in den Konflikt einzugreifen und von einem viel zu schwachen Sanktionsregime. Ein Blick auf die Aktivitäten des Schweizer Parlaments soll nun Klarheit schaffen.

Tatsächlich haben sich die Schweizer Parlamentarier:innen während dem ersten Kriegsjahrs ausgiebig mit den Folgen des russischen Angriffskriegs beschäftigt. Insgesamt wurden im Parlament 487 Vorstösse mit Bezug zur Ukraine eingereicht.

Gleich zu Beginn der russischen Invasion wurden besonders viele Vorstösse eingereicht. Auch in den darauffolgenden Sessionen wird viel über den Krieg und dessen Auswirkungen gesprochen. Ob die Schweiz sich damit besonders aktiv an der Friedensförderung beteiligt, ist allein an der Anzahl der Vorstösse jedoch nicht ersichtlich. Der Krieg in der Ukraine betrifft verschiedenste Themengebiete und dementsprechend vielfältig gestalten sich auch die getätigten Vorstösse.

Die Schweizer Politik ist in vielen Bereichen aktiv

Um herauszufinden, was den Parlamentarier:innen im letzten Jahr wirklich wichtig war, können die eingereichten Vorstösse mithilfe einer automatisierten Inhaltsanalyse in verschiedene Topics eingeteilt werden. Die Auswertung der Themengebiete zeigt, dass sich die verschiedenen Fraktionen in ihren Vorstössen unterschiedlich stark mit den Auswirkungen des Krieges beschäftigen und somit auch unterschiedliche Themengebiete bedienen. Als Top-Themen erweisen sich Sanktionen, der Umgang mit Flüchtenden sowie die Internationale Zusammenarbeit. Auch Inlandthemen wie die Treibstoffpreise, Ernährungssicherheit oder Mieter:innen & Strompreise finden im Parlament Anklang.

Die in absoluten Zahlen aufgezeigten Topics in den jeweiligen Vorstössen lassen bereits erste Schlüsse zu: Die SVP-Fraktion fokussiert beispielsweise auf Vorstösse mit Bezug auf Flüchtende und deren Schutzstatus sowie auch auf militärische geprägte Topics. Die Grüne sowie die Sozialdemokratische Fraktion fokussieren auf Sanktionen und soziale Themen. Die Mitte-Fraktion punktet mit Energiethemen und Kriegsmaterial. Um die liberalen Fraktionen ist es hingegen auffallend still.

Für die bürgerlichen Fraktionen sind Sanktionen kein Thema  

Die oben ausgewiesenen Zahlen zeigen die Häufigkeit der Themen auf. Aufgrund der Fraktionsgrösse kann dieser Blick jedoch auch irreführend sein – grössere Fraktionen können schliesslich auch einfacher mehr Vorstösse einreichen. In einem weiteren Schritt wenden wir uns den wichtigsten Topics zu, diesmal deshalb gewichtet nach Fraktionsgrösse. Mit Abstand am meisten Vorstösse wurden zum Thema Sanktionen gegen Russland eingereicht: Insgesamt 73-mal wurde das Topic in den untersuchten 487 Vorstössen erkannt.

Mit Unterstützung der Grünliberalen sowie auch der Sozialdemokratischen Fraktion reichte die Grüne Fraktion verhältnismässig am meisten Vorstösse in diesem Bereich ein. So fordert beispielsweise ein Vorstoss der gesamten Fraktion, den Rohstoffhandel stärker in die Pflicht zu nehmen, ein Vorstoss von Kilian Baumann (NR, Bern) hingegen fokussiert auf die Frage, wie mit Futtermittelimporten aus Russland umgegangen werden soll.

Die Fraktion der Schweizerischen Volkspartei, welche in diesem Bereich nur wenige Vorstösse eingereicht hat, fokussiert sich in erster Linie auf die Vereinbarkeit von Sanktionen und dem Einsitz im UNO-Sicherheitsrat mit Schutzmachtmandaten und der Neutralität. Auch die Mitte- und speziell die Liberale Fraktion befassen sich kaum mit dem Wirtschaftsthema.

In diesem Bereich hat die Fraktion der Schweizerischen Volkspartei klar die meisten Vorstösse eingereicht. Auch gewichtet nach Fraktionsgrösse ist die SVP-Fraktion noch Leaderin in der Diskussion. Die meisten dieser Vorstösse, wie einer von Jean-Luc Addor (NR, Wallis), fokussieren auf die eine restriktive Auslegung des Schutzstatus S. Für die Sozialdemokratische- sowie auch die Grüne Fraktion stehen die Gleichbehandlung der Flüchtenden (z.B. Fivaz, NR, Neuenburg) und ihre Integration im Vordergrund. Die Mitteparteien sind auch bei diesem Thema auffallend ruhig.

Die Sicherheitspolitik ist stramm in Bürgerlicher Hand

Ein weiteres vielbesprochenes Thema ist die Sicherheitspolitik inklusive der Wiederausfuhr von Kriegsmaterial. Nicht wie viele der anderen ausgemachten Themen befindet sich die Sicherheitspolitik grösstenteils in der Hand der bürgerlichen Fraktionen.

Der Fokus der Mittefraktion liegt dabei, zum Beispiel bei Charles Juillard (SR, Jura), auf der Modernisierung der Armee. Diese Position verwundert nicht, schliesslich steht die einzige Mitte Bundesrätin ja auch dem VBS vor. Auch die Vorstösse der Liberalen Fraktion drehen sich um die Landesverteidigung im Konfliktfall. Ein Grossteil der SVP-Fraktion fokussiert auf die Versorgungssicherheit bei sicherheitspolitischen Veränderungen wie beispielsweise einer weiteren Eskalation des Kriegsverlaufs. Die Ausfuhr von Kriegsmaterial steht bei keiner der Fraktionen im Zentrum.

Die linke Ratshälfte als Treiberin der Ukrainepolitik

Das Einreichen von Vorstössen ist nicht die einzige Möglichkeit, im Parlament aktiv zu sein. Bei jedem Vorstoss besteht die Möglichkeit, als mitunterzeichnende Person aufgelistet zu werden und somit einem Vorstoss mehr Nachdruck zu verleihen. Mithilfe einer Netzwerkanalyse kann aufgezeigt werden, welche Parlamentarier:innen sich besonders engagiert haben und welche Fraktionen zusammengearbeitet haben.

Die Analyse zeigt eindrücklich auf, dass die linke Ratshälfte im letzten Jahr viel enger zusammengearbeitet hat. Im Gegensatz dazu steht ein Grossteil der SVP-Fraktion eher abseits vom Geschehen. Insbesondere Exponent:innen der Sozialdemokratischen Fraktion haben eine grosse Anzahl an viel unterzeichneten Vorstössen getätigt. Als Beispiel wäre Fabian Molina (ZH) mit 11 Vorstössen und zahlreichen Mitunterzeichnenden zu nennen. Leicht abseits aber dennoch in der Fraktion und auch mit der linken Ratshälfte gut zusammenarbeitend zeigt sich die GLP-Fraktion. Spannend wird es, wenn man die Aufmerksamkeit der Mitte-Fraktion widmet: Die Fraktionsmitglieder verteilen sich überall im Raum, wobei Verbindungen zu beiden Ratshälften bestehen. Einzelne Exponent:innen wie Nick Gugger (ZH) und Marianne Streiff-Feller (BE) sind jedoch klar bei den linken Fraktionen positioniert, was wiederum eine gute Zusammenarbeit aufzeigt. Bei der wenig involvierten Fraktion der Liberalen zeichnet sich Doris Fiala (ZH) mit Unterschriften bei Vorstössen von Links wie auch von Rechts aus.

Um nun zu den Statements vom Beginn des Artikels zurückzukommen: Die Schweizer Parlamentarier:innen beschäftigen sich ohne Zweifel mit dem Krieg in der Ukraine und dessen Folgen. Diese Analyse zeigt auch auf, dass zwischen dem Engagement der verschiedenen Fraktionen grosse Unterschiede bestehen. Währenddem die Grüne und die Sozialdemokratische Fraktion in einem koordinierten Effort Politik machen, ist die Mitte-Fraktion gespalten, die Liberale Fraktion gar ausgesprochen passiv. Welcher Teil der Forderungen schliesslich in die Tat umgesetzt wird und inwiefern diese Vorstösse der Bewältigung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine dienlich sind, bleibt dahingestellt. Ein Grossteil der Vorstösse fokussiert auf die Auswirkungen im Inland, was bei der jetzigen Auslegung der Neutralität auch nicht verwundern mag. Vielleicht schauen Teile der Schweiz also wirklich zu wenig hin.

Informationen zum Blogbeitrag

Verfasser: Julian Ferber
Matrikel Nr.: 17-711-292
Kontakt: julian.ferber@uzh.ch

Abgabedatum: 18.06.2023
Anzahl Worte: 1000 (exkl. Titel & Lead)

Modul: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus (FS 2023)
Verantwortliche: Bruno Wüest, Alexandra Kohler, Valeria Vuk

Selbständigkeitserklärung

Daten
Alle für diesen Blogbeitrag verwendeten Daten wurden via dem R-package swissparl von der Website des Schweizer Parlaments parlament.ch heruntergeladen. Es wurden alle Vorstösse berücksichtigt, welche im Titel, Text, der Begründung oder in der Antwort des Bundesrats mindestens ein Mal das Wort „Ukrain*“ enthalten.

Validität
Die für diesen Blogbeitrag erstellten Topics wurden mithilfe von Topicmodels mit dem R-package stm erstellt. Bei der manuellen Kontrolle scheinen die Topics schlüssig zu sein, die Zuteilung ist jedoch nicht perfekt. Es kann also vorkommen, dass Vorstösse in Topics gelandet sind, zu denen sie nur wenig Bezug haben.

Für Interessierte: Hier noch der Code für die Auswertungen. Zudem können hier die Smart-Spiders für alle Topics angeschaut und verglichen werden.

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