Seit 2019 gibt es mehr Frauen im Parlament als je zuvor, doch was hat sich wirklich verändert?

2019 wurden so viele Frauen wie noch nie in den Nationalrat gewählt. Die Euphorie und die Anforderungen an die folgende Legislatur waren dementsprechend gross, doch was hat die Frauenwahl wirklich verändert? Eine Analyse der Geschäfte, die vor und nach der Wahl 2019 im Nationalrat eingereicht wurden.


Im Jahr 2019 wurden erstmals 42 % Frauen in den Nationalrat gewählt. Insgesamt sind das 84 Frauen, genau 20 Frauen mehr als vier Jahre früher. Damit rückt die Schweiz Ende 2019 im internationalen Ranking von Platz 38 auf Platz 17 vor. «Frauen stehen stärker für Ökologie und Nachhaltigkeit ein, legen grössere Priorität auf Gleichstellung und Schutz vor Diskriminierung und sind stärker sensibilisiert gegenüber Themen wie Waffengewalt», so wird die ehemalige Co-Chefin der Operation Libero, Flavia Kleiner, in der NZZ nach der Frauenwahl zitiert. Frauen setzen andere Akzente, so die Erwartung, doch was hat dieser Wandel wirklich bewirkt?

Expert*innen sind sich einig, die Frauenwahl hat Früchte getragen. Die Frauen in der jetzigen Legislatur sind oft fähig über Parteigrenzen hinweg in geschlechtsspezifischen Anliegen zusammenzuarbeiten. Die Individual-Besteuerung und die Umsetzung der Konvention gegen Gewalt an Frauen und Mädchen (Istanbul-Konvention) sind dabei oft genannte Beispiele. Diese verstärkte Zusammenarbeit ist ein grosser Erfolg für die Frauen und zeigt bereits, dass sich tatsächlich etwas verändert hat. Um jedoch das wahre Ausmasse der Wahl zu verstehen, muss ins Parlamentgeschehen eingetaucht werden. Eine Analyse der eingereichten Geschäft zwei Jahre vor und zwei Jahre nach der Wahl 2019 zeigt, dass Frauen im Parlament zunehmend keine „Stereotypenfrauen“ mehr sind.

Nationalrätinnen beteiligen sich überproportional

Wie präsent Frauen im Parlament sind, kann auf unterschiedliche Weise analysiert werden. Ein interessanter Ansatz ist die Analyse der eingereichten politischen Vorstösse. Parlamentarier*innen können ihre Anliegen über Motionen, Postulate oder Interpellationen ins Parlament einbringen. Während sich diese Vorstösse in der Höhe der Hürde, um das Geschäft im Parlament durchzubringen und in der Reichweite unterscheiden, haben sie alle gemeinsam, dass sie zu Diskussionen in den Kommissionen und im Parlament führen können. Je mehr politische Vorstösse somit von Frauen eingereicht werden, umso häufiger müssen sie ihre Vorstösse im Plenum verteidigen und umso präsenter sind sie damit im Parlament.

Im Nationalrat zeigt sich ein interessantes Bild: Frauen haben bereits vor der Wahl 2019 und klar auch nach der Wahl überproportional viele politische Vorstösse eingereicht. Das heisst, während sie vor der Frauenwahl 32 % im Parlament ausmachten, sind sie die Urheberinnen von mehr als 37 % der eingereichten Geschäfte. Nach der Wahl haben sich 42 % ausgemacht und waren verantwortlich für mehr als 46 % der Vorstösse. Sie reichen somit im Durchschnitt deutlich mehr politische Vorstösse ein als ihre männlichen Kollegen.

Linke Frauen besonders aktiv

Je nach Partei zeigen sich jedoch Unterschiede. Während die Wahl 2019 eine Frauenwahl war, war es zugleich auch eine Grüne und damit linke Wahl. In den linken Parteien, SP und die Grünen, machen Frauen mehr als 60 % der gewählten Parlamentarier*innen bei der Nationalratswahl 2019 aus. Zum Vergleich, in der FDP sind es 34.5 % Frauen, in der ehemaligen CVP 28 % und in der SVP nur 24.5 %.

Es ist daher nicht überraschend, dass mehr als 50 % der in den linken Parteien eingereichten Vorstösse von Frauen stammen. Gleichzeitig ist es doch interessant zu sehen, dass Frauen in linken Parteien pro Kopf viel mehr politische Vorstösse einreichen als ihre bürgerlichen Kolleginnen. Die SVP- und FDP-Nationalrätinnen reichen ähnlich viele Geschäfte ein wie der Durchschnitt der Nationalräte. Dies obwohl der starke Frauenzuwachs in der Grünen Partei bei der Wahl 2019, und der damit verbundenen grossen Anzahl an Bundesbern-Neuligen, einen Rückgang der Anzahl Geschäfte pro Frau verursacht hat.

Nationalrätinnen sind keine Stereotypenfrauen mehr

Frauen reichen hingegen nicht in allen Themenbereichen gleich viele Vorstösse ein. Nach der Wahl 2019 kommen in fast jedem Bereich mindestens 35 % der Geschäfte von Frauen. Interessant ist die Entwicklung vor und nach den Wahlen 2019.

In der Kernphysik gibt es den Begriff „Kritische Masse“, der sich auf die Menge bezieht, die erforderlich ist, um eine Kettenreaktion in eine unumkehrbare Situation auszulösen. In der Sozialwissenschaft wurde dieser Begriff übernommen, um die Entwicklung von Gruppendynamiken mit kleineren oder grösseren Minderheiten zu erklären. Die amerikanische Soziologin Rosabeth Moss Kanter hat die Gruppendynamik in einem amerikanischen Unternehmen in den 70er-Jahren untersucht und geschaut, wie sich die Minderheit an Frauen in der hauptsächlich männlichen Gruppe verhält. Die interessanteste Erkenntnis: Wenn eine Gruppe dominiert wird von Männern und es nur eine sehr kleine Minderheit von Frauen gibt, dann wird diese Minderheit nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Alibifrau. In dieser Situation herrschen vor allem Stereotypen vor, über was Frau ist und tut. Sobald die Frauen aber eine grössere Minderheit darstellen oder gleich stark vertreten sind wie die Männer, beginnen sie sich zunehmend als Individuum voneinander zu unterscheiden.

Diese Erkenntnis lässt sich auf die Entwicklung im Nationalrat übertragen. Im Nationalrat scheinen die Frauen den kritischen Wert überschritten zu haben. Sie haben insbesondere in jenen Bereichen stark zugelegt, wo sie vor der Wahl 2019 stark untervertreten waren. Haben die Frauen vor der Wahl insbesondere in den Themen „Soziale Frage“, „Gesundheit“ oder „Menschenrechte“ viele Vorstösse eingereicht – alles eher als mit dem weiblichen Geschlecht assozierte Themen – haben sie nach der Wahl 2019 in den Bereichen „Sicherheitspolitik“, „Steuern“ und „Verkehr“ stark zugelegt – alles eher männliche Themen.

Was hat sich denn nun verändert?

Die Wahl 2019 hat mehr Frauen als je zuvor in den Nationalrat gebracht. Während die Nationalrätinnen bereits vor der Wahl 2019 pro Kopf mehr politische Vorstösse eingereicht haben als die männlichen Parlamentarier, hat sich dieser Trend nach der Wahl 2019 fortgesetzt. Interessanterweise scheinen linke Frauen vor wie nach der Wahl 2019 viel aktiver zu sein als bürgerliche – sie reichen pro Kopf im Durchschnitt deutlich mehr politische Vorstösse ein. Was sich im Parlament jedoch wirklich verändert hat, ist die stärkere Beteiligung der Frauen in fast allen Themenbereichen. Die Analyse zeigt, Frauen haben nicht nur ein grosses Wissen und Interesse an „Frauenthemen“, sondern beteiligen sich auch gerne in „männlichen“ Themenbereichen. Frauen sind im Schweizer Parlament immer weniger Stereotypenfrauen.

Informationen zum Blogbeitrag

Verfasst von: Valeria Vuk, 17-728-031, valeria.vuk@uzh.ch
Titel des Blogbeitrags: Seit 2019 gibt es mehr Frauen im Parlament als je zuvor, doch was hat sich wirklich verändert?
Abgabedatum: 02.01.2022 (angepasst am 02.02.2022)
Anzahl Worte: 990

Modul: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus (HS21)
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Theresa Gessler, Alexandra Kohler

Selbständtigkeitserklärung

Daten, Methode und Validität

Für die Analyse dieses Blogbeitrags wurde die Webseite parlament.ch (https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=„ID“) gescrapt. Untersuchungszeitraum waren zwei Jahre vor und zwei Jahre nach der Wahl 2019. Von Interesse waren lediglich Motionen, Postulate und Interpellationen, währenddem Geschäfte des Parlaments, des Bundesrats oder Paralmentarische Initiativen nicht untersucht wurden. Dies aus dem Grund, da diese Geschäfte nicht als Vorstösse gelten und oft nicht von einzelnen Parlamentarier*innen eingereicht werden. Die Start- und End-ID (bzw. Geschäftsnummer) für das scrapen der Seite ist chronologisch geordnet. Sie reichen pro Jahr immer von 3000 bis etwas über 4000. Daher wurde für jedes Jahr der letzte eingereichte Vorstoss identifiziert und entpsrechend pro Jahr die Seite gescrapt (bspw. wurden für das Jahr 2018 alle Geschäfte zwischen der Start-ID 20184411 und der End-ID 20183000 gescrapt).

Die Analyse wurde zu Beginn sowohl für den National- wie auch Ständerat separat durchgeführt. Jedoch habe ich entschieden, mich nur auf den Nationalrat zu konzentrieren. Wenn der Ständerat ebenfalls untersucht worden wäre, hätte das immer eine Repetition der Analyse dargestellt und wäre nicht besonders bereichernd gewesen. Zwar wurden auch in den Ständerat mehr Frauen als je zuvor gewählt, jedoch ist ihr Anteil immer noch auf einem relativ tiefen Niveau und daher wäre eine Analyse des Ständerates weitaus weniger interessant. Für die Analyse wurde jeweils der Anteil der von Frauen eingereichten Geschäfte berechnet und für verschiedene Bereiche und auf unterschiedliche Weise visualisiert.

Da es sich bei dieser Untersuchung um eine rein deskriptive Analyse handelt, kann nicht viel über die Validität gesagt werden. Im Nationalrat wurden jedoch vor und nach der Wahl insgesamt 4668 Geschäfte eingereicht, was eine relativ hohe Zahl ist, um etwas über das Verhältnis zwischen Frauen und Männer aussagen zu können. Bei der Analyse der Themenbereiche sind es nach Themenbereich durchaus weniger Fälle. Daher sind die Ergebnisse der dumbbell mit Vorsicht zu geniessen. Es wäre empfehlenswert, die Analyse in einigen Jahren erneut durchzuführen, um dann auf einen noch grösseren Datensatz zurückgreifen zu können.

R-Code

Literaturverzeichnis

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