Genfer mit offener Grenze zunehmend unzufrieden

Neueste Berechnungen zeigen ein ungewohntes Bild der sonst so europafreundlichen Westschweizer. Zum ersten Mal scheint die Identifikation mit Europa in der Romandie spürbar nachzulassen. Beispielhaft sichtbar wird diese Entwicklung in der Grossstadt Genf.

In Europafragen kommt Bewegung in den Röstigraben. Mittlerweile geht man nicht mehr bedingungslos von einer pro-europäischen Haltung der Westschweizer und einer europakritischen Position der Deutschschweizer aus. In welcher der beiden grossen Sprachregionen sehen sich die Menschen heute am ehesten noch als Europäer? Eine ganz besondere Entwicklung zeigt aktuell die Region Genf.

Genf wird seinem Ruf als weltoffene Grossstadt nicht immer gerecht.

Genf wird seinem Ruf als weltoffene Grossstadt nicht immer gerecht.

 

Aufstieg des Mouvement citoyens genevois

Seit jeher lebt Genf von der Arbeitskraft und Wertschöpfung seiner über 60.000, mehrheitlich französischen Grenzgänger. Deren Präsenz auf dem kantonalen Arbeitsmarkt bildet bei einer relativ hohen Arbeitslosigkeit von 5,5% (BFS 2015) ein beachtenswertes Konfliktpotential. Dieses wird insbesondere vom, in den letzten Jahren immer erfolgreicheren, Mouvement citoyens genevois (MCG) zum Stimmenfang genutzt. Mit Kampagnen wie: «Réservons les emplois aux Genevois, Frontaliers assez ! Le 11 octobre, votez MCG« macht die Lokalpartei auf die ihrer Meinung nach zu hohe Zahl an Personen aufmerksam, die täglich zum Arbeiten in die Rhône-Stadt kommen. Die Lokalpartei fordert, die Schengen-Regelungen mit dem Ziel weniger Grenzgänger neu auszulegen. Damit richtet sie sich gegen den europäischen Gedanken der Reisefreiheit und Zusammenarbeit. Diese Neuerungen waren aber erst durch die Bilateralen Verträge und Schengen erleichtert worden. Vorlagen also, die in der Westschweiz seinerzeit eine grosse Zustimmung erhalten hatten. Genf wollte von den Vorteilen der neuen Kooperation profitieren, scheint aber die Nebenwirkungen zu verdrängen. Dies lässt darauf schliessen, dass die Genfer Schengen zwar mit 62,2% zustimmten, vom Druck auf ihren Arbeitsmarkt aber überrascht wurden und nun anderweitig versuchen die Grenze ein Stück weit wieder zu schliessen.

Da ist es keine Überraschung, wenn durch hohe Arbeitslosenzahlen MCG Appelle auf fruchtbaren Boden fallen. Jedoch macht die Partei nicht nur Stimmung gegen die französischen Nachbarn. Auch für die innerhalb der Stadt gestiegene Kriminalität, welche im Landesvergleich mit 12,8% aller in der Schweiz begangenen Straftaten (BFS 2015) ausgesprochen hoch ist, werden die offenen Grenzen Europas und neue Regeln der Freizügigkeit verantwortlich gemacht. Dass es sich hierbei um eine Situation handelt, die der Genfer Bevölkerung wichtig ist, zeigen die Resultate der Grossratswahlen und des rasanten Aufstiegs des MCG, welches seinen Wähleranteil seit der Schengen-Abstimmung im Jahr 2005 auf aktuell über 19% steigern konnte:

Zahl ausländischer Arbeitnehmer und MCG Erfolg eng verbunden

Für die hohe Arbeitslosenquote im Kanton werden nach MCG Rhetorik die immer zahlreicheren französischen Grenzgänger verantwortlich gemacht und argumentiert, deren Stellen müssten mit Genfern besetzt werden um Druck vom lokalen Arbeitsmarkt zu nehmen. Die Zahl der Grenzgänger und der Wähleranteil des MCG, welches deren Anteil reduzieren möchte, stehen in einer positiven Beziehung:

Betrachten wir Pierre*, einen 40-jährigen Genfer mit abgeschlossener Berufsausbildung und heute mittlerem Einkommen. Pierre interessiert sich leicht überdurchschnittlich für Politik und vertritt politische Mitte-Positionen. Normalerweise wäre er keine typische Person, die sich stark gegen eine offene Beteiligung von Grenzgängern am Arbeitsmarkt aussprechen sollte. Da das MCG nach eigener Definition aber keine Erscheinung der extremen Rechten ist, kann selbst für ihn eine Wahlwahrscheinlichkeit von signifikanten 50% für das MCG ausgemacht werden.

Auswirkungen auf die eigene Sicht Europäer zu sein

Auch in der Wahrscheinlichkeit sich selbst als Europäer zu fühlen, veränderten sich in diesem Zuge während der letzten Jahre die Ansichten. In jeder untersuchten Gemeindegrösse der Romandie war 2003 die Wahrscheinlichkeit einer positiven Europaidentifikation für die Menschen höher als in vergleichbaren Orten der Deutschschweiz. Das Land präsentierte damals das heute noch oft zitierte Bild des West-Ost-Gefälles in Europahaltungen. Vier Jahre später konnten die Menschen in der Deutschschweiz erheblich Boden gut machen und die Wahrscheinlichkeit sich als Europäer zu fühlen, stieg dort besonders auf dem Land um teilweise 10% an. Im gleichen Zeitraum sank die Europaidentifikation in der Westschweiz immer mehr ab. Besonders stark war diese Veränderung in Genf zu beobachten. Um nahezu 20% (signifikanter Unterschied, werden beide Jahre miteinander verglichen) sank für einen Menschen wie Pierre zwischen 2007 und 2011 die Wahrscheinlichkeit sich als Europäer zu fühlen.

Der Grund für diese Veränderung könnte in den Bilateralen Verträgen liegen, welche den Zugang zum Arbeitsmarkt für Ausländer und Grenzgänger erleichtern. Eine von der NZZ (Hollenstein 2015) durchgeführte Umfrage ergab eine mehrheitlich im Westen des Landes auszumachende Unzufriedenheit mit der Umsetzung des Vertragswerks. Dies sollte ein Grund sein, warum gerade dort eine derart starke Veränderung stattfand. Der Eindruck, von Franzosen auf dem eigenen Arbeitsmarkt bedroht zu sein, lässt offensichtlich bei Genfern das Gefühl, Europäer zu sein, verblassen. Die Frage nach der Europaidentifikation zeigte, dass Deutsch- und Westschweizer sich im Allgemeinen in dieser Sache meist gar nicht so gegensätzlich sind, wie oft angenommen. Betrachtet man die Ansichten aber nach Urbanitätsgrad getrennt, sind Zürcher und Berner mit höherer Wahrscheinlichkeit Anhänger des Wertes der europäischen Idee als ihre Genfer Mitbürger. Der Kanton und die Stadt Genf werden in den nächsten Jahren ein ausgezeichnetes Feld für weitere Forschung in diesem Bereich bieten, um zu überprüfen ob der dortige Trend weiter anhält.

Für die Beziehung von Wohnort innerhalb der Westschweiz und der Wahrscheinlichkeit einer Wahl des MCG zeigte die Analyse oft (insbesondere in den grössten Gemeindetypen) signifikante Effekte. Bis auf den Unterschied der für Genf ermittelten Werte zwischen den Jahren 2007 und 2011 sind die Vorhersagen der Europaidentifikation auf Basis des Selects Datensatzes der schweizer Wahlforschung nicht signifikant. Über die Analysen robust und signifikant ist jedoch der Alterseffekt, nach dem Ältere eine geringere Tendenz haben, sich mit Europa zu identifizieren. Es scheint, als würde dieser Einfluss insgesamt den Effekt des Wohnortes absorbieren. Jedoch beeinflusst dieser signifikant das Genfer Wahlverhalten. Es bleibt abzuwarten, ob eine Stimme für das MCG in auch in Zukunft mit geringer Europaidentifikation in Verbindung gebracht werden kann. Ebenso bietet sich für die weitere Forschung ein Vergleich mit dem Tessin und den dort durch die Lega teils ähnlichen vertretenen Meinungen (Lob 2015) an.

Methodische Information: Die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten einer Europaidentifikation wurden mittel logistischer Regressionen berechnet.

*Fiktive Person

Literatur:

Bundesamt für Statistik, Kantonsporträts (2015): http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/regionen/kantone.html (01.12.2015).

Hollenstein, Pascal (2015) Junge wenden sich von Europa ab.: http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/junge-wenden-sich-von-europa-ab-1.18507456 (05.12.2015).

Lob, Gerhard (2015): Profitieren Einheimische sogar von den Grenzgängern? http://www.swissinfo.ch/ger/umstrittene-studie-im-tessin_profitieren-einheimische-sogar-von-den-grenzgaengern-/41736652 (02.12.2015).

Reichen, Philippe (2013): http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Genfer-Rechte-legt-massiv-zu/story/14264824 (01.12.2015).

République et canton de Genève, Résultats statistiques, nombre des frontaliers du canton de Genève (2008):

http://www.ge.ch/statistique/graphiques/affichage.asp?filtreGraph=03_05&dom=1 (01.12.2015).

Talermann, David (2009): Le MCG, le parti genevois anti frontaliers, http://blog.travailler-en-suisse.ch/09/2009/le-mcg-le-parti-genevois-anti-frontaliers.html (01.12.2015).

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