Hotel Mama – zu bequem um auszuziehen?

Ein voller Kühlschrank, frische Wäsche, gebügelte Hemden – das Hotel Mama ist wieder in! Anstatt nach Unabhängigkeit zu streben, scheinen junge Leute in den letzten Jahrzehnten immer häufiger den Komfort im Elternhaus zu suchen. Glaubt man dem Klischee, werden vor allem Kinder aus Einwanderer-Familien gerne bis ins Erwachsene Alter von Mama umsorgt. Ein Vorurteil oder steckt wirklich etwas dahinter? 

Laut dem Bundesamt für Statistik verliessen Jugendliche in den 1970er das Elternhaus bereits mit 20 Jahren. Heutzutage scheint die Suche nach der Unabhängigkeit immer später stattzufinden. Wird unsere Generation zu Nesthockern oder lässt sich diese Entwicklung etwa auf Einwanderer-Familien zurückführen? Die Grafik zeigt, wie sich die Wohnsituation von jungen Leuten in der Stadt Zürich zwischen 2013 und 2016 verändert hat, aufgeteilt nach Nationalität.


Verwöhnte Kinder oder traditionsbewusste Eltern?

Im Alter von 15 bis 19 Jahren zieht nur ein Bruchteil der Jugendlichen schon von zu Hause aus und das unabhängig von der Nationalität. Spannend wird es in der Altersklasse zwischen 20 und 24. Hier sind deutliche Unterschiede zwischen den Nationen erkennbar. Etwa die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer wohnt in diesem Alter noch zu Hause. Bei Familien aus dem Balkan, der Türkei und Sri Lanka ist es ein weit höherer Anteil. Das Klischee der Nesthocker aus dem Süden scheint sich im Vergleich zu Westeuropäern zu bestätigen.

Wer bei Mama wohnt muss oft weder putzen, waschen noch kochen, sondern wird rundum von den Eltern verwöhnt. Die Unterschiede in der Grafik legen nah, dass vor allem Kinder aus bestimmten Nationen diese Dienste zu beanspruchen scheinen. Werden Kinder aus dem Balkan, der Türkei und Sri Lanka etwa zu unselbstständigen Muttersöhnchen- und Töchterchen erzogen? Tatsächlich ist Bequemlichkeit häufig ein Hindernis, das Nest zu verlassen. Dies trifft jedoch genau so auf Schweizer wie auf Migranten zu und sollte daher keineswegs ein Bild von faulen oder verwöhnten Migrantenkindern zeichnen (Marty 2013). Vielmehr sind es die Familienstruktur und verankerte Traditionen, die den Schritt zum Auszug erschweren. (Süd-)Osteuropäische Länder gelten als kollektivistische Kulturen, in denen das Gefühl von Gemeinschaftlichkeit, gegenseitiger Abhängigkeit und familiärem Zusammenhalt stärker ausgeprägt ist als in individualistischen Gesellschaften wie der Schweiz (Hofstede 2003). Folglich ist zu erwarten, dass Einwanderer aus Südeuropa, dem Balkan und türkischstämmige Familien in der Schweiz ein hohes familiäres Solidaritätspotential aufweisen und deshalb die Eltern vergleichsweise erst später „verlassen“.

Traditionell bedingt bleiben viele «Kinder» aus diesen Kulturkreisen bis zur Hochzeit bei den Eltern wohnen. Für einige Familien wäre es gar eine Schande, wenn das Kind vor der Ehe auszieht. Dies bestätigt auch die Grafik: Leute aus dem Balkan, Sri Lanka und der Türkei wohnen auch zwischen 25 und 29 vergleichsweise häufig noch «zu Hause». Ein tieferer Blick in die Daten zeigt, dass hierbei in vielen Fällen schon vor 2013 eine eigene Familie gegründet wurde und diese Personen deshalb den eigenen Familienhaushalt als Haushaltskategorie «zu Hause» angeben.

Neben dem traditionellen Aspekt spielen auch ökonomische Gründe eine wichtige Rolle. Familien aus den besprochenen Ländern gehören häufig noch zu einer einkommensschwachen gesellschaftlichen Schicht und können daher ihren Kindern vergleichsweise wenig finanzielle Unterstützung bei einer eigenen Wohnung bieten.

Italiener, Spanier und Portugiesen entkommen dem Image der «Mama Kinder» – zumindest in Zürich

Das wohl bekannteste Klischee ist das der italienischen Muttersöhnchen und der Südeuropäern, die sich nicht vom Elternhaus lösen können. Wie die Grafik zeigt, scheint dieses Vorurteil zumindest für Italiener, Spanier und Portugiesen in Zürich überwunden zu sein. Mit 20 bis 24 Jahren ist schon über die Hälfte von zu Hause ausgezogen, ähnlich wie in Schweizer Familien. Auffällig ist der Unterschied zu anderen westeuropäischen Ländern in dieser Alterskategorie. Deutsche, Franzosen und Niederländer wagen den Schritt zur Unabhängigkeit schon um einiges früher. 2013 wohnten über dreiviertel von ihnen schon in einem eigenen Haushalt. Dieser grosse Unterschied zur Schweiz lässt sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass es sich dabei häufig um Studenten handelt, die schon alleine in die Schweiz gezogen sind. Ein anderer Faktor ist, dass auch eingebürgerte Migrantinnen und Migranten zur Nationalität „Schweiz“ gehören. Zwischen 25 und 29 Jahren haben auch über 75% der Schweizerinnen und Schweizer den Auszug aus dem Elternhaus geschafft und erreichen eine ähnliche Quote wie der Rest der Westeuropäer.

Flexibilität statt Unabhängigkeit

Das Auszugsalter ist also in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Schnell werden Jugendliche deswegen als faul und unselbstständig abgestempelt. Dabei handelt es sich aber längst nicht immer um bequeme Nesthocker. Laut einer Studie von comparis.ch ist meist die finanzielle Situation für den Aufenthalt im Hotel Mama entscheidend. Über die Hälfte der Befragten gab an, sich keine Wohnung leisten zu können. Dies ist in allen Altersklassen der Hauptgrund – sei es wegen einer Ausbildung, eines zu geringen Einkommens oder aufgrund von Arbeitslosigkeit. Jeder Zweite geniesst die All-inclusive Betreuung der Eltern gratis und muss zu Hause nichts abgeben. Vielen Jugendlichen geht es aber auch darum, nicht auf einen gewissen Lebensstandard verzichten zu müssen – neue Kleider, Ferien und Ausgang gehören dazu. Für diese finanzielle Flexibilität gibt man gerne ein Stück Unabhängigkeit her.

Die zweite Grafik zeigt, in welchen Altersklassen welcher Haushaltstyp bei Zürcherinnen und Zürchern unabhängig der Nationalität am beliebtesten ist. Ziemlich eindeutig ist die Wohnsituation der 15 bis19-Jährigen. Diese scheinen sich bei den Eltern am wohlsten zu fühlen. In der nächsten Alterskategorie liefert sich das Elternhaus ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Wohngemeinschaft. Auch Zweipersonenhaushalte kommen häufig vor. Die Daten bilden jedoch nur die Stadt Zürich ab, wo Wohngemeinschaften wegen der Universitätsnähe vermutlich beliebter sind als in anderen Städten und auf dem Land. Die Kategorien, die für das «Hotel Mama» stehen, nehmen dann zwischen 25 und 29 Jahren eindeutig ab. Hier herrscht der Zweipersonenhaushalt vor, aber auch Wohngemeinschaften und Einpersonenhaushalte sind gut vertreten.

 

Informationen zum Blogbeitrag

Verfasserin: Blerta Salihi, Matrikelnummer: 12-758-736, Mail: blerta.salihi@uzh.ch
Abgabe: 17.12.2017
Veranstaltung: Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus, Universität Zürich
Dozierende Personen: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. des. Bruno Wüest, Alexandra Kohler
Anzahl Wörter: 863

Daten

Der Blogbeitrag basiert auf Daten der Statistik Stadt Zürich, welche im Rahmen des Forschungsseminars politischer Datenjournalismus dem Institut für Politikwissenschaft zur Verfügung gestellt wurden.

Literatur

Hofstede, G. (2003): Culture’s consequences: Comparing values, behaviors, institutions and organizations across nations. Sage publications.

Marty, S. (2015): «Es ist cool geworden, bei den Eltern zu wohnen». (http://www.20min.ch/schweiz/news/story/20145147[Stand 17.12.2017]).

Spielhofer, N. (2017): Fast jeder zweite Nesthocker wohnt gratis im Hotel Mama. (https://www.comparis.ch/comparis/press/medienmitteilungen/artikel/2017/immobilien/nesthocker/hotel-mama[Stand 17.12.2017]).

Beitragsbild: dierck schaefer | Flickr CC BY-SA 2.0

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