Vergleich zweier eidgenössischen Vorlagen, die sich mit öffnungspolitischen Themen befassten.
Am 9. Februar 2014 hat das schweizerische Stimmvolk die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) knapp mit 50.3% angenommen. Dieses Resultat ist erstaunlich, da von den Regierungsparteien einzig die SVP hinter dieser Initiative stand und diese auch initiierte hatte. Auch die Umfragen, welche vor der Abstimmung durchgeführt wurden, rechneten zwar mit einem knappen Ausgang, nicht aber mit einer Annahme der Initiative.
Trotz des knappen Ergebnisses, wurde damit ein deutliches Signal nach Brüssel gesendet, dass deutliche Reaktionen hervorbringen musste (vgl. Tagesanzeiger Artikel vom 10. Februar).
Die Annahme dieser Vorlage zeigt deutlich, dass in der Bevölkerung eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem Ausland und der EU vorhanden ist. Auch dass die BürgerInnen ein Bedürfnis nach einer von der Politik kontrollierten Immigration haben, weist auf vorhandene Ängste diesbezüglich hin.
Schnell wurden Vergleiche mit der Abstimmung von 1992 laut, in der das Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnte und somit schon damals vorhandener Skepsis gegenüber der EU Ausdruck verlieh. Das Resultat dazumals war genau dasselbe, es sprachen sich jeweils 50,3% gegen eine Annäherung an die EU aus.
Ein Vergleich dieser beiden Vorlagen bezüglich dem Abstimmungsverhalten ist nicht nur naheliegend, sonder drängt sich geradezu auf.
Bei den folgenden Grafiken muss beachtet werden, dass die Nein-Stimmen beim EWR und die Ja-Stimmen bei der MEI beide gegen eine Öffnung zum Ausland und zur EU zu interpretieren sind.
Auf den ersten Blick ist der Graben zwischen der Deutschschweiz und der Romandie sichtbar. Der berühmte „Röstigraben“ ist also bei beiden Vorlagen eindeutig vorhanden. Die Romandie zeigt sich in öffnungspolitischen Abstimmungen generell öffnungsfreudiger als der Rest der Schweiz. Daher ist es nicht erstaunlich, dass ein Grossteil der französischsprechenden Gemeinden (72.1%) sich nach dem Ja zum EWR-Beitritt , gegen die MEI (55.0%)aussprachen. Die Gemeinden der Romandie hatten sich 1992, bis auf ganz wenig Ausnahmen, geschlossen hinter den EWR-Beitritt gestellt. Bei der MEI fiel der Entscheid zwar nicht mehr ganz deutlich aus, aber alle welschen Kantone lehnten die Initiative ab.
In diesem Balkendiagramm sind die durchschnittlichen Gemeindeergebnisse inklusive der Standartabweichung zum Vergleich dargestellt.
Die italienischsprachige Schweiz geht mit der Deutschschweiz einher, was die Abstimmung zum EWR angeht. Bei der MEI ist allerdings klar zu erkennen, dass sich das Tessin am eindeutigsten, mit 68.2% Ja-Stimmenanteil, hinter diese Initiative gestellt hat. Dies hat wohl vor allem damit zu tun, dass die italienischsprachige Schweiz durch die Grenzgänger und die Einwanderer aus dem Süden die Folgen einer weiteren Öffnung gegenüber Europa am deutlichsten spürt.
Die rätoromanische Schweiz ging bei der EWR Abstimmung, wie das Tessin, mit der Deutschschweiz einher, hat sie also grösstenteils abgelehnt. Im Gegensatz zur Deutschschweiz und dem Tessin, hat sie die MEI überwiegend, abgelehnt. Dies ist erstaunlich, da sich die rätoromanische Schweiz geographisch und auch demografisch nicht so sehr vom Tessin unterscheidet und der Kanton Graubünden in welchem sich alle rätoromanischen Gemeinden befinden mit 50.6% für die MEI gestimmt hat. Da die rätoromanischen Gemeinden vermehrt touristische Gemeinden und somit von Ausland abhängig sind, könnte das Abstimmungsergebnis teilweise erklären.
Grafik 3 zeigt die Ergebnisse nach Gemeindetypen und Sprachregion. Bei den verschiedenen Gemeindetypen handelt es sich um eine Einteilung gemäss Bundesamt für Statistik, welche zum Ziel hat, die Gemeinden anhand vorgegebener Kriterien zu kategorisieren. Zu beachten ist, dass die rätoromanische Schweiz über lediglich drei der neun Gemeindetypen verfügt, daher ist keine Aussage über das Stimmverhalten der rätoromanischen Gemeindetypen möglich.
Hier interessierte vor allem der Stadt-Land Gegensatz. Wiederum ist die Unterscheidung zwischen der Deutschschweiz und der Romandie bei der EWR Abstimmung gut sichtbar. Bei der MEI ist das Ganze weniger deutlich. Hier sticht vor allem hervor, dass die Zentrumsgemeinden (Gemeinden, welche Hauptorte einer Region sind), sowie die einkommensstarken Gemeinden (Gemeinden mit hohem Einkommen pro Kopf, die gleichzeitig einer Agglomeration angehören) sich in allen Sprachregionen deutlich gegen die Initiative gestellt haben. Als einziger Gemeindetyp haben die agrarischen Gemeinden die MEI in der Romandie knapp angenommen. Auch in der Deutschschweiz verfügt dieser Gemeindetyp über die grösste Zustimmung. Im Tessin haben die ländlichen Pendlergemeinden am eindeutigsten für die MEI gestimmt. Aber auch hier ist es ein ländlicher Gemeindetyp, der sich am klarsten für die MEI aussprach. Dies kann daran liegen, dass die SVP vor allem in ländlichen Gebieten sehr stark ist und bei beiden Vorlagen für das Resultat federführend war. (Vgl. Grafik von Lucas Leemann auf Twitter).
Der Stadt-Land unterschied ist also definitiv vorhanden.
Ein häufiges Argument der Befürworter der MEI war die Angst, dass Jobs vermehrt an Ausländer gehen werden, da diese weniger Lohn für die gleiche Arbeit fordern.
In Grafik 4 sieht man wiederum die Resultate der beiden Abstimmungen, allerdings auf Bezirksebene und eingefärbt nach entsprechendem Ausländeranteil.
Jene Bezirke welche sich gegen die MEI und für den EWR-Beitritt ausgesprochen haben, weisen den höchsten Ausländeranteil auf. Dies ist erstaunlich, da dies der erwähnten Argumentation, gegen eine Annäherung ans Ausland, eindeutig widerspricht. Dieser Umstand ist allerdings dadurch zu erklären, dass es sich bei diesen Bezirken oft um Städte oder um französisch sprechende Bezirke handelt, welche ohnehin schon vermehrt für die Öffnung gegenüber Europa und dem Ausland allgemein stimmen. Dies hat einerseits sicher wirtschaftliche Gründe, da die Industrie, welche von guten Beziehungen mit dem Ausland abhängig ist, sich in den Städten befindet. Andererseits ist die SVP eher auf dem Land und nicht in den Städten stark vertreten. Auf einen weiteren möglichen Grund für diese Korrelation weisen Freitag und Rapp (2013) in ihrer Publikation über Intoleranz gegenüber Immigranten in der Schweiz hin. Sie argumentieren, dass soziale Kontakte mit Ausländern alle diese Ängste und Bedrohungen gegenüber Immigranten abschwächen. Der soziale Kontakt ist in Bezirken mit einem hohem Ausländeranteil wahrscheinlicher, als in anderen Bezirken. Daher könnte dies das Abstimmungsverhalten erklären.
(Vgl. Artikel von Marko Kovic im Datenblog des Tagesanzeiger)
Es besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden eidgenössischen Vorlagen EWR-Beitritt und MEI. Gemeinden, die ein Nein zum EWR-Beitritt beschlossen haben, sprachen sich meistens auch für die MEI aus. Es spielt auch eine Rolle, um welchen Typ Gemeinde es sich handelt. Einkommensstarke und Zentrumsgemeinden sprachen sich meistens für, agrarische Gemeinden häufig gegen die Öffnung aus. Der Ausländeranteil hatte keinen eindeutigen Einfluss auf die Abstimmungsentscheide.
Dies war ein erster Versuch zu einem Vergleich dieser beiden Vorlagen, für eine genauere Untersuchung müsste eine tiefgreifende Analyse durchgeführt werden, welche über bivariate Zusammenhänge hinausgeht.
Freitag, Markus und Rapp, Caroline: Intolerance Toward Immigrants in Switzerland: Diminished Threat Through Social Contacts? Swiss Political Science Review, Volume 19, Issue 4, pages 425–446, December 2013