Das Wahljahr 2019 war ein Frauenwahljahr. Noch nie wurden so viele Frauen in den Nationalrat gewählt. Zwischen Februar und September 2022 wurden nun die Zürcher Gemeindebehörden neu besetzt. Der grosse Ansturm blieb jedoch aus, trotz besseren Wahlchancen.
Die Eidgenössischen Wahlen 2019 wurden bekannt unter dem Namen «Frauenwahl 2019». Der Anteil von Frauen im Nationalrat stieg um zehn Prozentpunkte, von 32% auf 42%. Damit werden nun 84 von 200 Sitzen im Nationalrat von Frauen gehalten. Das ist neuer Schweizer Rekord. Von den 35 Nationalratssitzen des Kantons Zürich, sind 16 an Frauen gegangen. Nun standen in Zürcher kommunale Gesamterneuerungswahlen an. Zwischen Februar und September 2022 wurden in allen Zürcher Gemeinden die Behörden neu besetzt. Es stellte sich die Frage, ob Frauen auch in den Gemeinden die Politik erstürmen. Ermutigt anzutreten wurden Frauen von der Frauenzentrale Zürich, welche, in Zusammenarbeit mit der Direktion der Justiz und des Innern, das Mentoringprogramm «Züri Löwinnen brüllen» ins Leben riefen. Ziel dieses Programmes war es «politisch interessierte Frauen jeden Alters zu einer Kandidatur ermutigen – unabhängig von ihrer politischen Einstellung.» Laut der Medienmitteilung der Direktion des Innern, war vor den Wahlen 2022 nur etwa jeder vierte Sitz der Gemeindeexekutiven durch eine Frau besetzt. Genauere Zahlen, insbesondere zu den weiteren Behörden, sind nicht bekannt.
Nachdem im September 2022 die Gemeine Andelfingen als letzte Zürcher Gemeinde ihre Ämter neu besetzte, kann nun deren Zusammensetzung analysiert werden.
Frauen sind in den Gemeindeexekutiven und Rechnungsprüfungskommissionen massiv untervertreten, dafür in den Schulpflegen leicht übervertreten
Frauen sind in den Zürcher Behörden wenig gesehen. Gerade einmal 37% machen sie insgesamt aus. Aufgeschlüsselt nach Behördentyp zeigt sich ein spannendes Bild. Bei den Gemeindeexekutiven sind nur etwas mehr als ein Viertel der Sitze von Frauen besetzt. In den Rechnungsprüfungskommissionen ist der Frauenanteil noch tiefer bei 21%. Leicht in der Mehrzahl sind die Frauen hingegen in den Schulpflegen.
Obwohl der Frauenanteil in den Zürcher Behörden sich gesamthaft auf 37% beläuft, hat sich seit den letzten Erneuerungswahlen kaum etwas verändert. Gemäss den offiziellen Angaben des Kantones lag der Frauenanteil in den Gemeindeexekutiven bei etwa 25%. Genauere Angaben über die Zusammensetzung der Gemeindeexekutiven sind leider nicht bekannt. In dem angegebenen Bereich liegt der Frauenanteil nach den Wahlen 2022 weiterhin bei 29%.
Exkurs Behördentypen:
Bei den kommunalen Gesamterneuerungswahlen wurden drei Behörden neu besetzt: Gemeindeexekutive, Rechnungsprüfungskommission (RPK) und Schulpflegen. Die Gemeindeexekutive kümmert sich um die «öffentlichen Aufgaben, für die weder der Bund oder Kanton zuständig sind». Die Schulpflegen kümmert sich ausschliesslich um die Angelegenheiten einer Schule. Dabei kann es sich um Primar-, Sekundar- oder Gesamtschulen handeln. Die Rechnungsprüfungskommission überprüft die Geschäfte der Exekutive und Schulpflege auf Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen.
In Zürich werden die Gemeinden von Männern regiert. Zwar sind bloss in fünf Gemeinden keine Frauen in der Exekutive vertreten, eine hohe Anzahl von Gemeinden weist lediglich eine Frau in der Exekutivbehörde vor. Auffällig dabei – selbst in den grossen linken Städten Zürich und Winterthur sind wenige Frauen vertreten. Dies obwohl in diesen Städten die Frauenförderung eigentlich grossgeschrieben wird. Tatsächlich lässt sich keinen Unterschied in den Wahlwahrscheinlichkeiten von Frauen für die verschiedenen geographischen Räume finden. In den Agglomerationen und den ländlichen Gemeinden werden genauso wenige Frauen in Behördenämter gewählt, wie in den Städten. Die fehlende statistische Signifikanz mag auch auf die geringe Anzahl grosser Städte im Kanton Zürich zurückzuführen zu sein, jedoch lässt sich ebenso kein Unterschied zwischen sehr ländlich geprägten Gemeinden und grossen Agglomerationsgemeinden finden. Die tiefe Vertretung der Frauen in den kommunalen Behörden ist also kein Phänomen von Stadt oder Land. Im Gegensatz dazu stehen Untersuchungen, die zeigen, dass konservative Wählerinnen und Wähler bei gleicher Qualifikation eher Männer wählen (Giger et al. 2022) und daher ein Stadt-Land Graben zu erwarten wäre. Dass dem offensichtlich nicht der Fall ist, mag auf das Naturell der Wahl zurückzuführen zu sein. Bei kommunalen Majorzwahlen handelt es sich vornehmlich um Personenwahlen. In den kleinen Wahlkreisen sind die Kandidierenden den Wählenden oftmals persönlich bekannt. Allfällige unterbewusste Vorurteile oder Präferenzen könnten durch die persönliche Beziehung moderiert werden. So könnte auch die geringen Differenzen der Wahlchancen zwischen den Parteien zu erklären sein. Vernetzung im Dorf und Bekanntheitsgard scheint oftmals wichtiger zu sein, als andere Prädiktoren wie das Geschlecht oder die politische Einstellung.
Die Gemeinde mit dem höchsten Frauenanteil in der Gemeindeexekutive ist die Stadt Uster. In der Stadt mit über 36’000 Einwohnern, sind fünf von sieben Stadtratssitzen mit Frauen besetzt. In Uster zeigt sich auch wie Einheitsgemeinden (politische und schulische Gemeinde bilden eine Einheit) das Bild trüben können. Denn nur vier der fünf Frauen in der Stadtregierung Usters haben ordentlichen Einsitz. Lucia Bernet (SP) wurde nicht in den Stadtrat selbst gewählt, sondern ist als Schulpräsidentin von Amtes wegen im Stadtrat vertreten und führt dort das Ressort Bildung. In den meisten der wachsenden Anzahl von Einheitsgemeinden gilt diese Regelung, nur wenige wählen ein Mitglied der Gemeindeexekutive ins Schulpräsidium. Dies führt zu einer «künstlichen Erhöhung» des Frauenanteils, da in den Schulpflegen Frauen deutlich besser vertreten sind. Über den gesamten Kanton betrachtet, haben 91 Exekutivmitglieder ihren Einsitz aufgrund des Amtes des Schulpräsidiums. Hier liegt der Frauenanteil deutlich höher als bei den ordentlichen Mitgliedern der Gemeindexekutive (28.4%) bei 46.7 Prozent.
Trotz besserer Wahlchancen schlechter vertreten
Betrachtet man die Geschlechtervertretung in den Zürcher Gemeindebehörden, so könnte man meinen, dass Frauen deutlich weniger gewählt werden. Tatsächlich ist das jedoch nicht der Fall. Während sich die Wahlchancen bei den bisherigen Behördenmitgliedern nicht unterscheiden, weisen von den neu antretenden Personen, Frauen gut 5 Prozentpunkte höhere Wahlchancen auf (73%) als die Männer (68%). Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich dadurch erklären, dass sich Frauen insgesamt deutlich weniger häufig zur Wahl stellen als Männer. Obwohl sie gute Karten hätten, scheinen Frauen politische Ämter, im Gegensatz zu den Männern, eher zu meiden. Es werden weniger Frauen gewählt, weil sich viel weniger Frauen zur Verfügung stellen. Besonders gross ist dieser Gap bei den Rechnungsprüfungskommissionen. Von 847 Kandidierenden für die Rechnungsprüfungskommission im ersten Wahlgang, waren lediglich 181 (21%) Frauen.
Auch der Mythos, dass Frauen eher in die Schulpflege als in die Gemeindeexekutive gewählt werden, bleibt ein Mythos. Für welche Behörde die Wahl stattfindet, hat keinen signifikanten Einfluss auf die Wahlchancen der Geschlechter. Auch hier ist der Grund des leichten Frauenüberschusses die Anzahl angetretener Frauen. Im Gegensatz zur Gemeindeexekutive und der Rechnungsprüfungskommission treten für die Schulpflegen mehr Frauen als Männer an.
Dass die ungleiche Vertretung der Geschlechter weniger auf die Wahlchancen, sondern eher auf die überhaupt verfügbaren Kandidatinnen zurückzuführen ist, ist keine neue Erkenntnis. Die Politikwissenschaftler:innen Richard Fox und Jennifer Lawless konnten in ihrer 2010 veröffentlichten Studie aufzeigen, dass Frauen für politische Ämter weniger stark umworben und ermutigt werden zu kandidieren. Das Programm «Züri Löwinnen brüllen» der Frauenzentrale Zürich hat also im Grundsatz am richtigen Ort angesetzt. Weshalb diese Bemühungen scheinbar dennoch nicht viele Früchte getragen haben, darüber kann nur spekuliert werden. Mögliche Gründe könnten der Fokus auf kommunale Parlamentswahlen, sowie fehlende Rekrutierung von nicht grundinteressierten Frauen sein. Von den 33 Kandidatinnen im Mentoringprogramm der Frauenzentrale, haben lediglich 8 für ein Exekutivamt kandidiert. Weiter hat man mit diesem Programm in erster Linie Personen angesprochen, welche sich bereits vorstellen konnten für ein Amt zu kandidieren und sogar schon Mitglied einer Partei waren. Diese hätten jedoch potentiell auch ohne Mentoringprogramm kandidiert.
Die langfristige Entwicklung des Frauenanteils in der lokalen Politik bleibt abzuwarten und zu verfolgen. Jedoch scheint es so, als würde sich in diesem Bereich noch wenig tun. Obwohl die Parteien prädestiniert wären mehr Frauen für lokale Ämter zu rekrutieren, sind sie trotz erfolgen auf höheren Stufen dazu nicht in der Lage. Die lokalen Sektionen suchen händeringend um engagiertes und insbesondere auch junges und weibliches Personal. Dass dies kaum gelingen zu scheint, könnte auch auf die Umstände dieser Ämter zurückzuführen zu sein. In der lokalen Politik ist man stark exponiert, hat hohen Aufwand und wird eher schlecht entschädigt. Welcher Faktor tatsächlich Ausschlaggebend ist, müsste wissenschaftlich genauer untersucht werden, um die enorm tiefe Vertretung der Frauen in den Gemeindeexekutiven und Rechnungsprüfungskommissionen effektiv anzuheben.
Informationen zum Blogbeitrag:
Autor: Nick Glättli
Email: nick.glaettli@uzh.ch
Lehrveranstaltung: Vorbereitung zum Forschungsseminar „Politischer Datenjournalismus“
Dozierende: Prof. Fabrizio Gilardi, Dr. Bruno Wüest, Alexandra Kohler
Daten, Validität und Methoden:
Bei den verwendeten Daten handelt es sich um den bislang noch nicht veröffentlichten Zurich Municipality Election Results (ZMER) Datensatz. Dieser Datensatz wurde vom Autor des Blogbeitrages zwischen April und November 2022 erstellt. Der Datensatz umfasst die Wahlergebnisse der Gemeindeexekutiven, Rechnungsprüfungskommissionen, sowie der Schulpflegen aller 160 Zürcher Gemeinden auf der individual Ebene. Die Daten bauen auf den lücken- und fehlerhaften Daten des statistischen Amtes auf (siehe hier), wurden vervollständigt, bereinigt und ergänzt. Die wichtigsten Merkmale der Kandidierenden (Alter, Geschlecht, Parteizugehörigkeit) liegen im ZMER Datensatz vollständig vor. Der Datensatz umfasst 59 Variablen und 4111 Datenpunkte.
Die Angaben zum Mentoringprogramm der Frauenzentrale Zürich wurden von der Frauenzentrale ZH zur Verfügung gestellt.
In die Analyse eingeflossen sind alle namentlich in den Wahlprotokollen aufgeführten Personen. Die Daten der unter „Vereinzelte“ zusammengefassten Personen wurden nicht berücksichtigt, da einerseits es sich dabei weder um eine einzelne Person handelt, noch die notwendigen Indikatoren wie das Geschlecht oder Parteizugehörigkeit vorliegen. Die Validität der Analyse ist als sehr hoch einzustufen, da es sich bei der Datengrundlage um eine Vollerhebung handelt. Jedoch ist eine Schwäche feststellbar: In den meisten Gemeinden sind für die kommunalen Gesamterneuerungswahlen keine offiziellen Kandidaturen vorgesehen. Wählbar ist grundsätzlich jede stimmberechtigte Person. Auch in Gemeinden in denen eine minimale Beschränkung in der Form einer Mindestanzahl von Unterschriften vorgesehen ist, um an der Wahl teilnehmen zu können, ist die Wählbarkeit nicht mit einer Kandidatur gleichzusetzen. So wurden beispielsweise in der Gemeinde Schleinikon die notwendigen Unterschriften ohne dem Wissen der betroffenen Person gesammelt und eingereicht. Aufgrund dieser fehlenden Hürde kommt es zu leichten Verzerrungen, aufgrund doppelter Nennungen für verschiedene Behörden. Ein Beispiel dafür ist Markus Späth (SP), welcher in der Amtsperiode 2018 bis 2022 als Gemeinderat (Exekutive) amtete. Für die Periode 2022 bis 2026 kandidierte er für die Schulpflege und deren Präsidium. Dennoch erhielt er für die Wahl des Gemeinderates eine signifikante Anzahl Stimmen und wurde daher auch dort namentlich im Protokoll aufgeführt. Solche Einzelfälle kommen vor, sind jedoch sehr selten und haben daher keinen grossen Einfluss auf die Ergebnisse der Analyse. Aufgrund der Tatsache, dass es eine gewisse Anzahl Stimmen benötigt um namentlich in den Wahlprotokollen aufgeführt zu werden, ist es legitim in diesem Fall von einer Kandidatur auszugehen.
Um die Wahlwahrscheinlichkeiten berechnen und analysieren zu können, wurde eine logistische Regression gerechnet. Neben dem Geschlecht wurde ausserdem für Alter, Parteizugehörigkeit, bisherigen Status, bisherigen Präsidium Status, Wahlgang und Behördentyp kontrolliert. Die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten wurden mithilfe des R-packages glm.predict errechnet.
Der gesamte R-Code kann hier eingesehen werden.
Quelllenangaben:
Direktion der Justiz und des Innern, Medienmitteilung (16.04.2021), https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2021/04/kampagne-zueri-loewinnen-laeuft-an.html, Stand: 29.12.2022
Frauenzentrale Zürich, https://frauenzentrale-zh.ch/kommunalwahlen-2022-zueri-loewinnen-bruellen/, Stand: 29.12.2022
Frauenzentrale Zürich, Angaben zu den Mentees im Programm «Züri Löwinnen brüllen», nicht veröffentlicht, Genehmigung liegt vor
Gemeindeamt Zürich, Kanton Zürich, https://www.zh.ch/de/politik-staat/gemeinden.html#-1190382459, Stand: 29.12.2022
Natalie Giger, Denise Traber, Fabrizo Gildardi, Sarah Bütikofer (2022), The surge in women’s representation in the 2019 Swiss federal elections. Swiss political science review
politanalyst.ch, ZMER Datensatz, https://politanalyst.ch/datensaetze/, noch nicht veröffentlicht, Stand: 29.12.2022
Richard Fox und Jennifer Lawless (2010). If only they’d ask: Gender, recruitment, and political ambition. The Journal of Politics, 72(2), 310-326.
Swisstopo, Geodaten, https://www.swisstopo.admin.ch/de/geodata/landscape/boundaries3d.html#download, Stand: 01.01.2023