Von Volksinitiativen bleiben meist nur zwei Fakten in Erinnerung: Ob sie angenommen wurden und wie knapp das Resultat ausfiel. Eine solche Reduktion wird dem politischen Instrument Volksinitiative aber nicht gerecht, bewegt sie doch meist alle gesellschaftlichen Gruppen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Der Umstrittenheitsindex soll ein tieferes Verständnis ermöglichen.
Seit 2010 sind 18 Volksinitiativen zur Abstimmung gelangt, von denen das Volk vier angenommen hat. Dass die verschiedenen Volksinitiativen unterschiedlich umkämpft waren, ist allgemein bekannt. Besonders die knapperen Abstimmungsergebnisse dürften vielen politisch Interessierten in Erinnerung geblieben sein.
Der Volksinitiative als politisches Instrument der direkten Demokratie wird eine solch reduzierte Betrachtungsweise aber nicht gerecht. Das Volk amtet zwar letztinstanzlich als entscheidende Kraft. Wie es diese Entscheidung aber fällt, hängt stark davon ab, wie andere gesellschaftliche Akteure zur jeweiligen Vorlage stehen und wie umstritten die Vorlage unter eben diesen Akteuren ist.
Ein Umstrittenheitsindex für Volksinitiativen
Dieser Blogeintrag will einen Umstrittenheitsindex für Volksinitiativen anbieten, der nicht nur auf dem Abstimmungsentscheid im Volk basiert, sondern auch auf der Umstrittenheit der Vorlagen in der politische Elite, in der Wirtschaft und in den Medien. Mit der folgenden Grafik lassen sich die Volksinitiativen, über die in der Schweiz seit 2010 abgestimmt wurde, auf ihre allgemeine Umstrittenheit hin vergleichen. Grundsätzlich gilt: Je grösser die Fläche im Diagramm, desto umstrittener war die Volksinitiative. Die einzelnen Dimensionen werden im Anschluss erklärt.
Erklärungen zu den einzelnen Achsen:
Volk
Wie kontrovers eine Abstimmungsvorlage vom Volk beurteilt wurde, lässt sich unschwer an der Differenz zwischen dem Ja- und Nein-Stimmen-Anteil ablesen. Zudem berücksichtigte ich für die Dimension Umstrittenheit im Volk die Differenz zwischen den Ständen.
Politik
Parteien fassen Parolen zu den Abstimmungsvorlagen. Ich untersuchte, wie viele Parteien ablehnende und wie viel befürwortende Parolen gefasst hatten und berechnete aus der Differenz einen ersten Wert für die Dimension Umstrittenheit in der Politik. Des weiteren analysierte ich den Abstimmungsentscheid im Parlament zum jeweiligen Bundebeschluss. Zeigte sich hier eine grosse Differenz, deutete ich dies als Kontroverse unter den Parteien. Je grösser die Differenz, desto umstrittener die Vorlage im Parlament. Dies bildete den zweiten Wert für die Dimension Umstrittenheit in der Politik.
Medien
Medien versuchen Themen aufzugreifen, die die Bevölkerung bewegen. Sie funktionieren aber auch selbst als Multiplikatoren und erzeugen womöglich gar erst Kontroversen. Für die Dimension Umstrittenheit in den Medien zählte ich die Einträge in der Schweizerischen Mediendatenbank zu den jeweiligen Abstimmungsvorlagen. Den Zeitraum beschränkte ich auf die zwei Jahre, die der eigentlichen Volksabstimmung vorangingen. Je mehr über eine Vorlage berichtet wurde, desto höher ihr Umstrittenheitswert.
Wirtschaft
Wirtschaftsverbände (Dach- und Branchenverbände) sowie Gewerkschaften fassen je nach Grad der Betroffenheit ihrer Mitglieder zu einzelnen Initiativen Parolen. Der Parolenspiegel auf parlament.ch fasst diese Abstimmungsempfehlungen zusammen. Der Grad der Umstrittenheit einer Initiative in der Wirtschaft leitet sich aus drei Indikatoren ab:
- Anzahl der Verbände und Gewerkschaften, die Parolen fassten: Verbände und Gewerkschaften fassen dann Parolen, wenn sie davon ausgehen, dass ihre Mitglieder duch die Initiative betroffen sind oder wenn die Initiative Werte und Prinzipien, für die sie sich einsetzen, bedroht oder verändert. Je mehr Parolen gefasst werden, desto wahrscheinlicher erscheint Verbänden und Gewerkschaften, dass ihre Mitglieder in ihrerer Rolle als Gewerkschafts- oder Wirtschaftsverbandsmitglied durch die Initiative bewegt werden.
- Absolute Spaltung der Parolen: Wie gross war die Differenz zwischen der Anzahl bejahenden und der Anzahl ablehndenden Parolen?
- Ideologische Spaltung zwischen Arbeitgebern/Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften: War eine Spaltung Arbeitgeber-Arbeitnehmer zu beobachten, oder waren die Fronten gemischt?
Analysen
Allgemein:
Volksinitiativen sind – wenig erstaunlich – unterschiedlich kontrovers. Der Vergleich mit dem Spinnendiagramm zeigt aber deutlich, dass sich die Initiativen auch in den verschiedenen analysierten Dimensionen hinsichtlich ihrer Umstrittenheit sehr stark unterscheiden. Drastischstes Beispiel stellt sicherlich die 1:12-Initiative dar, die letztlich vom Volk deutlich verworfen, von den Medien aber mit überproportionaler Aufmerksamkeit bedacht wurde. Im Folgenden sind die Volksinitiativen nach ihrer Umstrittenheit aufgelistet.
Die vier angenommenen Volksinitiativen zählen zu den umstrittensten Vorlagen des ganzen Samples. Die Rangliste relativiert auch die gefühlte Siegessträhne der Rechten: Viele von rechter Seite lancierte Volksinitiativen scheiterten letzendlich weniger umstritten als linke Volksinitiativen, die grösstenteils ebenfalls abgelehnt wurden.
Typologie:
Es lassen sich zwei Grundtypen identifizieren.
Zum Typ A gehören Vorlagen, die in den Dimensionen Wirtschaft und Politik relativ wenig umstritten waren, beim Volksentscheid aber sehr knapp angenommen oder abgelehnt wurden. Zu diesen Initativen gehören beispielsweise die Masseneinwanderungsinitiative oder die Zweitwohnungsinitiative.
Zum Typ B zählen Vorlagen, die in der Dimension Wirtschaft unumsritten waren, im Volk und in der Politik aber sehr kontrovers diskutiert wurden. Beispiele hierfür sind die Ausschaffungsinitiative, die zwei Bausparinitiativen, die Familieninitiative der SVP oder auch die Waffeninitiative.
Elite-Volk-Graben:
Der viel zitierte Graben zwischen Politikerklasse und Volk kann mit den zwei Dimensionen Volk und Politik untersucht werden. Die Differenz zwischen der Umstrittenheit einer Vorlage unter Parteien und Politikern sowie der Umstrittenheit derselben Vorlage im Volk ergibt die in der folgenden Grafik abgebildete Elite-Volk-Differenz.
Die Streuung ist gross. Vorlagen wie beipsielsweise die Waffeninitiative waren im Parlament nahezu gleich umstritten wie im Volk. Am anderen Ende der Skale findet sich die Abzockerinitiative wieder. Im Volk war diese deutlich weniger umstritten als im Parlament, was auch im langwierigen Beratungsprozess mit letztendlich gescheitertem Gegenvorschlag seine reale Entsprechung findet.
Interessant: Angenommene Initiativen weisen einen deutlich höheren Elite-Volk-Differenzwert auf; Volk und Parlament beurteilten Initiativen, die das Volk in letzter Instanz annahm, also extrem unterschiedlich.