Wieso Strahm zur Hälfte falsch liegt

Die Generation 50+ ist zufriedener mit der Wirtschaftsalge als früher. Das widerspricht Rudolf Strahms Interpretation der Vox-Analyse zur Masseneinwanderungsinitiative komplett. Strahms Aussage über die überraschend hohe Zustimmung für die Initiative bei Personen mit einer höheren Berufsbildung ist jedoch plausibel. Das zeigt meine Analyse der Daten des European Social Surveys sowie der Vox-Umfragen zwischen 2000 und 2012. 

Rudolf Strahms Urteil ist klar: «Die Initiative gegen Masseneinwanderung wurde eindeutig durch die 50 bis 59-Jährigen entschieden!» Eine Erklärung dafür reicht der ehemalige SP-Nationalrat in seiner Kolumne im «Tages-Anzeiger» gleich nach. Bürgerinnen und Bürger über 50 Jahre würden besonders unter der Personenfreizügigkeit leiden. Er nennt sie «Opfer des Verdrängungseffekts im Arbeitsmarkt». Deshalb hätten sie überdurchschnittlich stark der Masseneinwanderungsinitiative zugestimmt. So seine Auslegung der detaillierten Vox-Analyse, die ihm vorliegt.

Neben der Generation 50+ identifiziert Strahm noch eine weitere Gruppe, die überraschend deutlich für die Initiative gestimmt habe, nämlich jene Stimmenden mit einer höheren Berufsbildung, «das Rückgrat der KMU-Wirtschaft». Die Gründe dafür seien ähnlich wie bei der Generation 50+«(…) im Zeichen der Personenfreizügigkeit werden ihnen zu Tausenden Fachleute mit akademischen Titeln, deutsche ‚Bachelors‘, ‚Masters‘ und ‚Doktoren‘, vor die Nase gesetzt, nur weil in der Schweiz die Titeläquivalenz fehlt.»

Wertewandel bei Bildungsstufen

Dass gerade Personen mit einer höheren Berufsbildung seit Einführung der Personenfreizügigkeit kritischer gegenüber Migranten wurden, konnte ich anhand der Vox-Umfragen(2000-2012) in meinem ersten Blog-Beitrag zeigen. Dort veranschaulichte ich, dass sich in den vergangenen Jahren die Haltung von Personen mit einem Mittelschulabschluss oder einer höheren Berufsbildung jener mit einer Beurfs- oder obligatorischen Schulausbildung drastisch annäherten.

schweiz

Diese Beobachtungen stützen Strahms Aussagen bezüglich den Stimmenden mit einer höheren Berufsbildung. Die Korrelation zwischen steigender Einwanderung (vor allem auch von besser ausgebildeten) und Wertewandel ist auffällig. Es muss aber festgehalten werden, dass dies noch nicht zwingend heisst, dass es auch eine Kausalität gibt, auch wenn die Erklärung plausibel erscheint. Das heisst, es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere Gründe für die Veränderung verantwortlich sind. Trotzdem unterstützt der Blog-Beitrag Strahms Befund.

Kein Alterseffekt in den Vox-Daten

Analog teste ich nun Strahms Aussagen über die Generation 50+. Sollte er recht haben, wäre zu erwarten, dass die Analyse der Altersgruppen ein ähnliches Bild hervorbringen würde. Das heisst, dass seit 2000 die Haltung der Generation 50+ (blaue Linie in der Grafik) gegenüber der Chancengleichheit für Ausländer kritischer wurde und sie sich vermehrt eine Schweiz wünschten, wo Schweizerinnen und Schweizer bevorzugt würden. Doch die Auswertung der Vox-Umfragen zeigt ein ganz anderes Bild.

vox_chancengleichheit_strahm

Im Jahr 2000 waren die 50 bis 59- und 60 bis 69-Jährigen noch kritischer gegenüber der Chancengleichheit für Ausländer als die Jüngeren. Ab 2004 kann man diese Aussage nicht mehr so klar machen. Denn die farbigen Flächen beginnen sich zu überschneiden. Diese widerspiegeln die Unsicherheit (in sämtlichen Grafiken das 95% Konfidenzintervall) der Durchschnittsschätzungen. Überlappen sie, kann statistisch keine eindeutige Unterscheidung mehr gemacht werden. Die Haltung der Jungen hat sich also jener der älteren angeglichen. Die Generationenunterschiede sind verschwunden.

Der Grund für Strahms Fehlinterpretation der Vox-Analyse erklärt Politikwissenschaftler und Zuständiger für die Vox-Analyse Pascal Sciarini im «Tages-Anzeiger» damit, dass es innerhalb der Altersgruppe 50 bis 59 eine Übervertretung gewisser Berufe und Anstellungsverhältnissen gab: «Unter Einbezug der sozioprofessionellen Kategorie unterscheiden sich die 50- bis 59-Jährigen nicht mehr von den übrigen Altersgruppen.» Strahms These scheint also widerlegt. Zumindest bezüglich der Veränderung der Werte.

Zufriedenheit der Generatino 50+ nimmt zu

Doch der ehemalige Preisüberwacher und Ökonom Strahm hält wenig von «konstruierten Wertmustern.» Für ihn sind die persönliche Betroffenheit und das existenzielle Interesse der Stimmenden die wichtigeren Erklärungsfaktoren, so zumindest der Eindruck aufgrund seiner Aussagen im «Tages-Anzeiger» und in der Sendung «Sternstunde Philosophie».

Das Problem: Anhand der Vox-Daten kann nicht beurteilt werden, ob die 50 bis 59-Jährigen in der Schweiz «Opfer des Verdrängungseffekts im Arbeitsmarkt» sind. Auch der Blick auf die Arbeitsmarktzahlen bringt keine abschliessende Antwort. Vox-Analyst Sciarini sagt gegenüber dem «Tages-Anzeiger» , dass die Arbeitslosenquote der 50 bis 59-Jährigen nicht höher ist als die der 40 bis 49-Jährigen (2.9–3.0 Prozent). Strahm kontert, dass es aber in den höheren Altersklassen mehr Ausgesteuerte und Frühpensionierte habe, die der Quote entgingen.

Um die Frage der Betroffenheit zu klären, bietet sich eine Analyse der Umfragedaten des European Social Survey (ESS) an. Der ESS hat sechs Datensätze, die auf repräsentativen Umfragen basieren, veröffentlicht. Der erste, ESS 02, wurde in den Jahren 2001-2003 erhoben. Der aktuellste, ESS 12, in den Jahren 2011-2013. Jeweils wurde nach der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage und dem Nutzen von Einwanderern für die Wirtschaft gefragt. Auch wenn nach der Beurteilung der gesamtschweizerischen Wirtschaftslage gefragt wird, darf angenommen werden, dass dieser Eindruck eine entscheidende Rolle für Wahlen und Abstimmungen spielt sowie die individuelle Lage widerspiegeln kann. Die Politikwissenschaft nennt diese Phänomen economic voting und brachte dazu eine Fülle von Literatur hervor. Die Grundidee dahinter ist, dass die Wirtschaftslage in einem Land und deren Beurteilung durch die Bürgerinnen und Bürger Wahl- und Stimmentscheide beeinflussen. Läuft es gut, belohnen die Bürger regierende Parteien/Ideen mit Stimmen. Läuft es schlecht, straft man diese an der Urne ab.

Strahm folgt mit seiner Argumentation genau dieser Logik: Die Generation 50+ leidet wirtschaftlich unter der Einwanderung und hat deshalb die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Würde seine Annahme zutreffen, müsste sich die Betroffenheit der Generation 50+ (blaue Linie in Grafik) in der Beurteilung der wirtschaftlichen Situation widerspiegeln. Dies ist aber nicht der Fall.

Wirtschaftslage

Seit der ersten Befragung gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Generation 50+ mit der Wirtschaftslage in der Schweiz unzufriedener wird. Im Gegenteil: Die Zufriedenheit nimmt zu. Auch die Rolle der Ausländer in der Wirtschaft, wird von der Generation 50+ nicht anders wahrgenommen als noch zu Beginn des Jahrtausends. Weiter bringen die Daten auch keine Generationenunterschiede hervor.

Wertewandel bei Bildungsniveaus: Ja – Generationen-Effekt: Nein

Das eindeutige Urteil von Rudolf Strahm muss ich also verwerfen. Er mag bei der Lektüre der Vox-Analyse richtig bemerkt haben, dass die Stimmenden mit einer höheren Berufsbildung auffällig oft für die Initiative gestimmt haben. Doch dass die Generation 50+ mit der wirtschaftlichen Lage in der Schweiz unzufriedener sei als der Rest, da sie «Opfer des Verdrängungseffekts im Arbeitsmarkt» ist, lässt sich weder aufgrund der Vox-Daten bezüglich der Haltung gegenüber Ausländern noch aufgrund der ESS-Befragung bestätigen.

Von Patrice Siegrist
07-920-150
patrice.siegrist@uzh.ch

Blogbeitrag im Rahmen des Forschungsseminars: Politischer Datenjournalismus
Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann, Dr. des. Bruno Wüest

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