Eine Auswertung der Twitter-Diskussionen zu eidgenössischen Vorlagen macht deutlich: Die digitale Präsenz von Politikern und Parteien spielt für das Abstimmungsresultat eine wichtige Rolle. In den meisten Fällen gewinnt dasjenige Lager den Abstimmungskampf, welches auf Twitter das Thema beherrscht.
Auf Twitter kämpfen politische Akteure nicht nur bei Wahlen um die Gunst ihrer (potenziellen) Anhängerschaft, das Absetzen von Tweets eignet sich auch bei Abstimmungen zur Mobilisierung von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Diese sollen bei wichtigen Urnengängen zur Teilnahme bewegt werden und ihre Stimme möglichst im Sinne der mobilisierenden Partei abgeben.
Meinungsführerschaft in Abstimmungskämpfen
Inwieweit die Parteien und Politiker Einfluss auf Diskussionen in Abstimmungskämpfen nehmen, kann anhand ihrer relativen Beherrschung des Twitter-Diskurses quantifiziert werden. Für sämtliche eidgenössischen Abstimmungen des letzten und dieses Jahres wurden die über den Kurznachrichtendienst geführten Diskussionen ausgewertet. Dabei wurden in den sechs Wochen vor dem Abstimmungsdatum die Tweets politischer Meinungsführer zum Thema gemessen. Die folgende Grafik zeigt auf, über welche Anteile an der Twitter-Diskussion [in Prozenten] die Parteien bei den entsprechenden Abstimmungen verfügten. Welche Partei in der Diskussion den Ton angab, erfährt man durch Anklicken der gewünschten Vorlage.
Den Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative dominierte ganz klar die SVP, welche Urheberin der Initiative war. Fast 52% der abgesetzten Tweets stammten von SVP-Vertreterinnen und -Vertretern. Wesentlich deutlicher war die Beherrschung der Twitter-Diskussionen dieses Jahr, als es um die CVP-Familieninitiative und die Energieinitiative der Grünliberalen ging. Bei diesen Vorlagen herrschte zwischen den Parteien bezüglich Präsenz auf Twitter ein krasses Ungleichgewicht. Zwei Drittel der Tweets im Kampf um die Familieninitative stammten von deren Urheberin, der CVP, während die GLP den Twitter-Diskurs über ihre Vorlage zu stolzen 76% beherrschte. Daneben gab es auch Vorlagen, bei denen die Initianten von anderen Meinungsführern im sozialen Netzwerk übertrumpft wurden. So geschehen in der Diskussion über eine öffentliche Krankenkasse, die nicht von SP- und Grünen-Vertretern, sondern ausgesprochenen Gegnern (FDP) dominiert wurde.
CVP und FDP am „twitterfreudigsten“
Aus der nächsten Grafik wird ersichtlich, dass sich die beiden Mitteparteien CVP und FDP am häufigsten an Twitter-Diskussionen beteiligten. An dritter Stelle folgt die GLP, deren grosses Engagement für eine Energie- statt Mehrwertsteuer auch ihre durchschnittliche Aktivität im sozialen Medium positiv beeinflusste. Gemessen an ihrem Wähleranteil von lediglich 5.4% mischen die Grünliberalen bei der Meinungsbildung und Mobilisierung via Twitter überdurchschnittlich stark mit. Obwohl die SP von allen Parteien die grösste Twitter-Präsenz aufweist, beteiligt sie sich im Vergleich zu ihrem Wähleranteil unterdurchschnittlich oft an Diskussionen zu Abstimmungsvorlagen.
Aktiv auf Twitter – erfolgreich bei Abstimmungen
In Abstimmungskämpfen agieren die Parteien selten autonom. Vielmehr schliessen sie sich zu parteiübergreifenden Abstimmungskomitees zusammen, die oft gemeinsam eine JA- oder NEIN-Kampagne fahren. So lassen sich die Parteien zu jeder der analysierten Vorlagen in Lager aufteilen: Eines der Befürworter, eines der Gegner und eines der Unabhängigen (bei Fällen, in denen Parteien Stimmfreigabe beschliessen). Addiert man für jedes Lager die Anteile der einzelnen Parteien an der Twitter-Diskussion, kann aufgezeigt werden, welche Seite im untersuchten sozialen Netzwerk eine Übermacht einnahm. Ein Vergleich der prozentualen Anteile Tweets mit den an der Urne erzielten Abstimmungsergebnissen fördert Interessantes zutage: Je mehr die Befürworter einer Vorlage die Diskussion auf Twitter beherrschen, desto höher fällt der JA-Stimmenanteil zu dieser Vorlage am Abstimmungssonntag aus.
Das Gleiche gilt auch umgekehrt: Je höher der Anteil Tweets von Gegnern einer Vorlage, desto wuchtiger wird diese an der Urne verworfen. 2014 korrelierte die Diskussionsbeherrschung auf Twitter mit den Abstimmungsresultaten sehr stark. In neun von zwölf Fällen gewannen die dominanten Diskutanten die Abstimmung auch an der Urne. Häufig lagen die verglichenen Werte äusserst nahe beeinander: Die Befürworter der Masseinwanderungsinitiative beispielsweise beherrschten den Abstimmungskampf auf Twitter zu 51.7% und gewannen die Initiative mit einem Volksmehr von 50.3%.
…und dieses Jahr?
Bei der März-Abstimmung dieses Jahres war dagegen kein Zusammenhang zwischen Twitter-Dominanz und Abstimmungsergebnis auszumachen. Die CVP und GLP, welche auf dem sozialen Medium einen intensiven Abstimmungskampf führten, verloren die Volksbefragung relativ deutlich. Die CVP wurde von ihrer Verbündeten, der SVP, kaum unterstützt. Letztere verfasste nämlich nur 3% der Tweets zur Familieninitiative. Ähnlich erging es der GLP: Ihre Mitstreiterin, die Grüne Partei, war in der Twitter-Diskussion zur Energieinitiative mit einem Anteil von 5% praktisch irrelevant. Diese krasse Einseitigkeit des auf Twitter geführten Abstimmungskampfes könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die NEIN-Lager ihrer Abstimmungssiege bereits sicher waren und daher auch das Twitter-Feld weniger aktiv nutzten. Die fehlende Emotionalität im Abstimmungskampf sowie die wahrgenommene Aussichtslosigkeit beider Anliegen unterstützen diese These.
Die „Renner“ und „Penner“ auf Twitter
Dass unter den Meinungsführern auf Twitter nicht alle Abstimmungsthemen gleichermassen beliebt waren, zeigt ein Vergleich der absoluten Anzahl Tweets zu den untersuchten Vorlagen. Daraus kann die Wichtigkeit bzw. Irrelevanz, die ihnen vom auf Twitter aktiven politischen Etablissement beigemessen wurde, illustriert werden. Die untenstehende Grafik gibt Aufschluss darüber, welche Themen die „Renner“ und „Penner“ unter den Twitter-Diskutanten waren.
Auf dem letzten Platz mit lediglich 78 Tweets im Abstimmungskampf befindet sich das Thema der medizinischen Grundversorgung. Über einen entsprechenden Bundesbeschluss befanden die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen im Mai letzten Jahres, wohlgemerkt gleichzeitig, wie sie zu weit umstritteneren Sachfragen (Pädophileninitiative, Mindestlohninitiative, Gripen) Stellung beziehen mussten. Die Stimmbeteiligung bei der medizinischen Grundversorgung belief sich dennoch auf überdurchschnittlich hohe 55.8%. Dies ist aber nicht weiter verwunderlich, da die anderen drei Vorlagen als „Zugpferde“ fungierten und deshalb die Stimmbevölkerung überdurchschnittlich stark an die Urnen zu locken vermochten.
Ecopop meistdiskutiertes Thema auf Twitter
Die grösste Resonanz unter den Meinungsführern auf Twitter erfuhr die Ecopop-Initiative, obwohl sie unter den Parteien – zumindest auf nationaler Ebene – unumstritten war. Lediglich die Tessiner Rechtspartei Lega beschloss Stimmfreigabe, während alle anderen Parteien ein Nein empfahlen. Die intensive Twitternutzung zu diesem emotional aufgeladenen Migrationsthema könnte darauf hindeuten, dass gewisse Parteien ihrer Anhängerschaft stark misstrauten und offenbar im Vorfeld der wuchtigen Ablehnung der Ecopop-Initiative viel Überzeugungsarbeit via soziale Netzwerke zu leisten versuchten. Im Falle der SVP, die sich mit 23.4% der Tweets am stärksten an der Twitter-Diskussion (vgl. erste Grafik) beteiligte, scheint dies nicht gelungen zu sein: So zeigt die VOX-Analyse zu besagter Abstimmung, dass trotz NEIN-Parole der SVP deren Sympathisanten und Sympathisantinnen mehrheitlich für das Ecopop-Anliegen votierten.
Daten und Methodik
Der verwendete Datensatz stammt von Bruno Wüest (Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich) und enthält alle auf Bundesebene agierenden Politiker sowie zahlreiche Kantonal- und Lokalpolitiker, die sich eindeutig einer Partei zuordnen lassen. Zudem sind alle Twitter-Accounts der Nationalparteien und weitere von Jungparteien, Kantonal- und Lokalsektionen im Datensatz vorhanden. Insgesamt umfasst dieser 1645 Twitter-Accounts (Stand Februar 2015). Davon wurden nur diejenigen in die Analyse miteinbezogen, die mindestens einen Tweet veröffentlicht hatten und somit als „aktiv bewirtschaftete Accounts“ waren. Zum Zeitpunkt der Auswertungen für diesen Blogbeitrag (März 2015) traf dies auf 1242 Accounts zu.
Die Tweets dieser 1242 Meinungsführer der Schweizer Politik wurden jeweils im Vorfeld der jeweiligen Abstimmungstermine auf Schlagworte („Keywords“), die auf eine Äusserung hinsichtlich des Abstimmungsthemas hindeuten, gefiltert. Die pro Abstimmung definierten Keywords finden sich im angehängten R-Skript. Als Zeitraum des Abstimmungskampfes galten dabei die sechs Wochen vor dem Abstimmungstermin. Der Abstimmungssonntag wurde nicht in die Untersuchung einbezogen, da die Meinungsbildung an selbigem als abgeschlossen betrachtet werden kann und die Keywords dann überwiegend in Kommentaren und Einschätzungen des Abstimmungsresultats auftauchen.
Pro Vorlage wurden sodann die absoluten (Anzahl Tweets zum Abstimmungsthema) und relativen (im Vergleich zu den anderen Parteien) Häufigkeiten der Twitter-Aktivitäten der Parteien erhoben. Damit liess sich die erste Grafik zur Präsenz im Abstimmungskampf auf Twitter pro Partei erstellen. Für die durchschnittliche Präsenz wurden alle Anteile zusammengezählt und durch die untersuchten 14 Vorlagen geteilt, da eine Gewichtung der Vorlagen normativ nicht möglich ist. Anhand der nationalen Parteiparolen liessen sich für die zweite Grafik die Lager der Befürworter bilden. Hierbei zählten nur diejenigen Parteien zu den Befürwortern, bei welchen sowohl die nationale Mutterpartei als auch eine Mehrheit der Kantonalsektionen die JA-Parole gefasst hatten. Aufgrund der im Datensatz fehlenden Kodierung der Accounts nach Wirkungsort der Politiker und Parteien konnten allenfalls abweichende Kantonal- und Jungparteien für die Definition der Lager nicht berücksichtigt werden.
Autor: Lukas Lauener | lukas.lauener@uzh.ch | @l_lauener
Veranstaltung: Seminar Policy-Analyse: Politischer Datenjournalismus (Frühjahrssemester 2015)
Dozierende: Dr. Sarah Bütikofer, Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann und Dr. des. Bruno Wüest
Abgabedatum: 29.03.2015
Wörter: 987 (exkl. Beschreibung zu Daten und Methodik)
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