Die SeniorInnen – der heimliche Souverän?

Über 65-Jährige weisen mittlerweile die mit Abstand höchste Wahlbeteiligung auf, wählen im Schnitt deutlich konservativer als ihre jüngeren MitbürgerInnen und stellen aufgrund gestiegener Lebenserwartung und anhaltend tiefer Geburtenziffer einen immer grösseren Teil der Stimmberechtigten. Da stellt sich die Frage, wie die nationalen Parteistärken in den letzten Jahren ausgefallen wären, hätten die jüngeren Generationen ihre Wahlzettel auch so fleissig ausgefüllt.

Foto: Eric Wüstenhagen (CC BY-SA 2.0)

Dass die Wahlbeteiligung mit steigendem Alter zunimmt, ist nichts Neues und neben der Schweiz auch in vielen anderen Ländern zu beobachten1. Doch das Ausmass, das die Unterschiede zwischen den verschiedenen Altersklassen bei den Nationalratswahlen 2011 erreicht haben, scheint rekordverdächtig. Wie untenstehender Grafik zu entnehmen ist, gehen über 75-Jährige mittlerweile mehr als doppelt so oft wählen wie die 18- bis 25-Jährigen. Der Vergleich mit den fünf vorhergehenden Wahljahren zeigt, dass diese Diskrepanz tendenziell zunimmt. Die Ältesten unserer Gesellschaft waren über die vergangenen 20 Jahre noch nie so teilnahmefreudig wie heute.

Ältere Bürger, ältere Wähler

Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Anstieg in der obersten Altersklasse nicht zuletzt mit der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung zusammenhängt. Eine Frau in der Schweiz bringt im Schnitt rund 1,5 Kinder zur Welt – zum Generationenerhalt wären ca. 2,1 notwendig. Die tiefe Geburtenziffer stagniert seit Mitte der Siebzigerjahre, bei Frauen mit Schweizerpass liegt sie gar noch darunter. Wie sich vor diesem Hintergrund das Durchschnittsalter der Stimmberechtigten entwickelt hat, verdeutlicht das nachstehende DiagrammI.

Nachdem die Absenkung des Stimmrechtalters von 20 auf 18 Jahre beim ersten Anlauf 1979 gescheitert war, wurde das Begehren zwölf Jahre später mit deutlicher Mehrheit angenommen. Dies verpasste dem rasanter werdenden Anstieg zwar einen kurzzeitigen Dämpfer, vermochte  aber natürlich nicht, der Überalterung des Wahlvolkes längerfristig etwas entgegenzusetzen: Von 1991 bis 2014 ist dessen Medianalter wieder um 5 Jahre emporgeklettert – und der Peak scheint aus heutiger Sicht noch immer in weiter Ferne zu liegen.
Der kleine Knick im Durchschnittsalter 2010 ist übrigens nicht etwa auf eine plötzliche Einbürgerungswelle junger AusländerInnen oder ähnliches zurückzuführen, sondern schlicht einer im Rahmen der Umstellung von der klassischen Volkszählung auf die Registererhebung erfolgten Korrektur geschuldet.

Die Alten mögen keine Linken

Dass grüne und alternative Parteien ihre Kernwählerschaft nicht gerade unter den SeniorInnen wiederfinden, dürfte wohl nicht bloss für WahlforscherInnen einer Binsenweisheit gleichkommen. Dass hingegen auch die älteste noch bestehende Partei der Schweiz so viel Mühe hat, bei WählerInnen über dem Pensionsalter zu punkten, vermag dann doch ein wenig zu erstaunen. Die Wahrscheinlichkeit, 2011 SP gewählt zu haben, reduziert sich von 20 % bei 55- bis 64-Jährigen bis zur höchsten Altersklasse auf rund die Hälfte. Wie es sich mit anderen Parteien und in anderen Wahljahren verhielt, lässt sich anhand der folgenden Diagramme nachvollziehen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass es sich um vorausgesagte Wahrscheinlichkeiten handelt, welche aufgrund der limitierten Datenbasis immer einer gewissen Unsicherheit unterliegenII.




Neben den bürgerlichen Parteien BDP und FDP, welche bei den SeniorInnen beide überdurchschnittlich gut ankommen, kann auch das schweizerische Rechtspopulismus-Erfolgsmodell der überalternden Gesellschaft mit einem lachenden Sünneli begegnen – zumindest was das WählerInnenpotenzial anbelangt. An keiner anderen Altersklasse lässt sich der Aufstieg der nationalkonservativen Volkspartei eindrücklicher ablesen als an den über 75-Jährigen.

Was wäre wenn?

Ausgehend von diesen Befunden könnte man durchaus vermuten, dass die Wahlresultate in den letzten Jahren bedeutend anders ausgefallen wären, hätten die jüngeren ihre Wahlzettel ähnlich fleissig ausgefüllt wie die älteren Semester. Deshalb wage ich folgendes Experiment durchzurechnen: Wie hätte das Wahlresultat ausgesehen, wenn alle Altersgruppen mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit an die Urnen gegangen wären? Wie, wenn die Wahlbeteiligung spiegelverkehrt ausgefallen wäre?

In obenstehendem Balkendiagramm finden sich die Resultate dieses Gedankenexperiments. Die dunklen Balken stehen dabei jeweils für das „reale“, sprich gemäss den weiter oben aufgeführten Wahlbeteiligungswahrscheinlichkeiten prognostizierte WahlresultatIII. Die mittleren Balken für einen hypothetischen Wahlausgang bei exakt gleicher Wahlbeteiligungswahrscheinlichkeit aller Altersgruppen. Und die hellen Balken schliesslich für das zweite hypothetische Szenario, das Wahlresultat bei spiegelverkehrter Wahlbeteiligung der sieben AlterskategorienIV. Bei beiden fiktiven Szenarien wird von der Annahme ausgegangen, dass sich die Wähler- und die NichtwählerInnen nicht wesentlich unterscheiden in ihren Parteipräferenzen.

Insgesamt fallen die Resultate ziemlich ernüchternd aus. Die Verschiebungen bewegen sich auf niedrigem Niveau. 2011 bei inverser Wahlteilnahme am meisten verlieren würde die SVP mit -1,7 Prozentpunkten, danach die BDP mit -1,2 Prozentpunkten. Die glp könnte demgegenüber als grösste Gewinnerin immerhin +1,4 Prozentpunkte zulegen, danach folgen die Grünen mit +1,3 Prozentpunkten.
In den Jahren zuvor zeigt sich ein ähnliches Bild: Die Parteien links der Mitte würden ein wenig zulegen, bürgerliche und rechte Parteien dagegen ein paar Tausend Stimmen einbüssen.

Unter dem Strich lässt sich festhalten, dass auch eine immense Zunahme der Wahlbeteiligung jüngerer SchweizerInnen der politischen Linken bzw. der glp keinen Erdrutschsieg verschaffen und die SVP kaum mehr als eine Handvoll Sitze kosten würde. Dennoch dürften sich besonders die Grünen und die Grünliberalen nach einem derartigen Szenario sehnen, hätten sich 2011 für sie die Stimmengewinne im Verhältnis zur bestehenden Wählerbasis doch immerhin im Bereich zwischen 15 und 23 % bewegt.

Wenngleich die Realität kaum Stoff für derartige Träume liefert, so hat sich doch zumindest der Bundesrat zuletzt dafür eingesetzt, das Thema „Stimmrechtsalter 16“ ernsthaft zu prüfen. Freilich wäre auch dessen Einführung kaum mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein des überalternden Wahlvolkes.


Anmerkungen:

IDas berechnete Stimmrechtsalter fällt hier systematisch tiefer aus als das tatsächliche, weil bei der Berechnung aufgrund der unvollständigen Datengrundlage alle über 98-jährigen Personen zu einer Gruppe zusammengefasst wurden und die darüber hinausgehenden Altersjahre somit keine Berücksichtigung fanden; die Abweichung fällt mit steigender Jahreszahl höher aus, da immer mehr Leute das 99. Lebensjahr überschreiten; sie fällt allerdings insgesamt gering aus und dürfte sich auch im Jahr 2014 noch im Bereich der 3. Nachkommastelle bewegen. Dennoch weichen die hier berechneten Werte mangels besserer Datenbasis (z. B. Stimmregisterdaten) geringfügig von den tatsächlichen Werten ab, weil einerseits entmündigte BürgerInnen nicht aus der Analyse ausgeschlossen werden konnten und andererseits die AuslandschweizerInnen in der Berechnung unberücksichtigt bleiben müssen.

IIBis auf die Werte für das Jahr 1991 sowie die Zahlen aus dem untersten Diagramm zu den vorausgesagten Wähleranteilen nach Beteiligungsmodus bilde ich keine Werte ab, welche nicht auch Lutz (2012) bereits publizierte (wobei die von mir berechneten Werte an einigen Stellen geringfügig abweichen). Analog zu Lutz verzichte ich auch auf die Angabe von Nachkommastellen, um nicht den Eindruck einer Präzision zu erwecken, welche gar nicht gegeben ist. Mit Ausnahme des letzten Diagrammes wurden alle vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten auf Ganzzahlen gerundet. Das letzte Diagramm wurde von dieser Vorgehensweise ausgenommen, damit die Tendenz der Ergebnisse besser sichtbar wird.
Auf die Abbildung von Konfidenzintervallen verzichte ich, zumal diese mitunter sehr gross ausfallen (95 %-Konfidenzniveau). Hingegen wurde für alle Modelle ein Chi-Quadrat-Test durchgeführt, der aussagt, ob ein statistisch signifikanter Zusammenhang (95 %-Konfidenzniveau) besteht zwischen den Alterskategorien als unabhängige Variablen und der Wahlbeteiligung bzw. dem Wahlentscheid als abhängige Variable.
Bei der Wahlbeteiligung fielen alle Resultate positiv aus, im Falle der Wahlentscheide zeichneten die Tests hingegen ein gemischtes Bild: Für die CVP sind die Resultate nur im Jahr 1991 signifikant, für die glp und die BDP lediglich im Jahre 2011 (was angesichts des Alters dieser beiden Parteien nicht weiter verwunderlich ist). Für die FDP sind die Resultate nicht signifikant in den Jahren 2007 und 1991, für die SVP und die SP nicht in den Jahren 1999 und 1991, in letzterem Jahr für die Grünen auch nicht.

IIIDass dabei keine Rede von allzu hoher Präzision dieser Werte sein kann, illustriert schon alleine die Tatsache, dass die vorausgesagten Wähleranteile nach „realem“ Beteiligungsmodus (d. h. basierend auf vorausgesagten Wahrscheinlichkeiten zur Wahlbeteiligung nach Altersgruppe) mehr oder weniger deutlich von den tatsächlichen Wahlresultaten abweichen. Das soll meinem Vorhaben aber keinen Abbruch tun, zumal einerseits die Abweichungen nicht allzu gross ausfallen und andererseits vor allen Dingen die Verhältnisse zwischen den Parteien von Interesse sind – und diese scheinen soweit stimmig.

IVSoll heissen, unter der Annahme, die Wahlbeteiligungskurve aus der ersten Grafik würde genau umgekehrt verlaufen, sprich an der mittleren Alterskategorie der 45-54-Jährigen gespiegelt.

Für alle drei Szenarien wurden die Werte immer nach folgendem Schema berechnet:
(Anzahl der Stimmberechtigten in der jeweiligen Altersklasse × Wahlbeteiligung der jeweiligen Altersklasse [real/gleichmässig/spiegelverkehrt] × Wahlwahrscheinlichkeit der jeweiligen Altersklasse für die entsprechende Partei) ÷ (Gesamtzahl der Stimmberechtigten × durchschnittliche Wahlbeteiligung [real/gleichmässig/spiegelverkehrt])
Für die Anzahl der Stimmberechtigten wurde auf eigene Berechnungen (vgl. erste Grafik) basierend auf Daten des BFS (siehe Quellenangaben unten) zurückgegriffen, da die Vertretung der Altersgruppen im Selects-Datensatz nicht repräsentativ ist und keine Gewichtungsvariablen fürs Alter enthalten sind.


Autor: Salim Brüggemann, 08-915-126, salim@posteo.ch
Blogeintrag im Rahmen des Forschungsseminars Politischer Datenjournalismus der Universität Zürich
Dozierende: Prof. Dr. Fabrizio Gilardi, Dr. Michael Hermann, Dr. des. Bruno Wüest, Dr. Sarah Bütikofer
Abgabedatum: 6. Dezember 2015
Anzahl Worte (exkl. Lead): 787 + 523 (Anmerkungen)

Datenquellen: Bundesamtes für Statistik | Selects: Swiss national election studies (FORS)
Datensätze: Ständige CH-Wohnbevölkerung 1971-2014.tar.gzSelects cumulative file 1971-2011 (Registrierung notwendig)

R-Quellcode: SeniorInnen.R (GitHub Gist)

Literatur:

1LUTZ, Georg (2012): Eidgenössische Wahlen 2011. Wahlteilnahme und Wahlentscheid.
Lausanne: Selects – FORS.

Historisches Lexikon der Schweiz. Stimm- und Wahlrecht. 6. Oktober 2014.


3 comments

  1. Gibt es erste Vermutungen oder Thesen, aus welchen Gründen die Wahlbeteiligung der Senioren so stark in die Höhe schnellte? 39% im Jahr 1991 zu 69% 20 Jahre später finde ich doch ziemlich erstaunlich. Könnte dies vielleicht etwas mit den viel häufiger eingereichten Volksinitiativen zu tun haben?

    • Die 39% Wahlteilnahme der ältesten Altersgruppe 1991 scheinen mir auch eigenartig. Ich hab meine Berechnungen nochmals angeschaut, konnte aber keine Fehler entdecken.
      Grundsätzlich relevant bei so einem Vergleich ist natürlich die statistische Unsicherheit. Bei den abgebildeten Diagrammen habe ich bewusst auf die Darstellung der Konfidenzintervalle verzichtet. Ich habe aber kurzerhand eine Version des fraglichen Diagrammes inkl. 95%-Konfidenzintervalle hochgeladen: https://plot.ly/~slim-b/146.embed
      Wie man dort sehen kann, beträgt der entsprechende Unterschied im Minimum dann bloss noch 11 Prozentpunkte (zwischen der unteren Vertrauensgrenze 2011 und der oberen 1991).
      Aber auch für diesen Unterschied kann ich leider keine brauchbare Erklärung liefern. Ich vermute, im Allgemeinen ist der Wahlbeteiligungsanstieg der SeniorInnen v. a. auf die gestiegene Wahlbeteiligung der Frauen (mit entsprechender Verzögerung über die Generationen) und den verbesserten durchschnittlichen Gesundheitszustand der älteren Semester zurückzuführen. Wieso sich allerdings der Anstieg nicht kontinuierlich vollzieht und 1991 ein derartiger Ausreisser ist, ist mir schleierhaft.

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