Ein Blick hinter den Schweizer «Coronagraben» im Herbst 2020

Trotz massiv unterschiedlicher Fallzahlen verhielten sich die Menschen in den Schweizer Sprachregionen überraschend ähnlich – aber eben doch nicht gleich. Dies zeigt die Analyse der sotomo-Umfragedaten zu diesem emotional diskutierten Thema.

Aline Laura Metzler

Im Herbst 2020 ist die zweite Welle der Corona-Pandemie in der Schweiz eingetroffen. Innerhalb eines Monats sind die täglichen Corona-Fallzahlen von wenigen hundert positiv getesteten Covid-19-Fällen auf rund 10’000 in die Höhe geschnellt. Dabei waren grosse kantonale Unterschiede zu beobachten. Die frankophonen Kantone waren deutlich stärker betroffen als die Deutschschweiz. Ende Oktober wiesen die Kantone Wallis oder Genf über fünf Mal so viele Covid-19-Fälle auf wie beispielsweise Nidwalden oder Basel-Land bzw. -Stadt. Dieses Muster ist nicht neu: Bereits in der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühling waren die französischsprachige und italienischsprachige Schweiz deutlich stärker von der Pandemie betroffen. Die Fallzahlen in der Romandie und im Tessin waren praktisch durchs Band höher als im Rest der Schweiz. Die Kantone Genf und Waadt führten in der ersten Welle im Frühling wie auch in der zweiten Welle im Herbst sowohl in relativen wie auch in absoluten Fallzahlen.

Die Infografik zeigt, wie ausgeprägt der «Röstigraben» – neu auch «Coronagraben» genannt – bei den kantonalen Fallzahlen in der zweiten Welle ist. Durch die Berechnung der 7-Tage-Inzidenz, der Summe der Covid-19-Fallzahlen der letzten sieben Tage pro 100’000 Einwohner, kann das Infektionsgeschehen regional vergleichbar gemacht werden.

Auf die hohen Fallzahlen und grossen regionalen Unterschiede folgend ist im November 2020 eine hitzige Diskussion darüber entbrannt, worin die Gründe dafür liegen könnten. Die Umfrage der Forschungsstelle sotomo im Herbst (5. Umfrage-Welle) zum Umgang mit der Pandemie ist deshalb besonders interessant. Hierbei zeigen sich auf den ersten Blick keine grossen Unterschiede zwischen den Sprachregionen in Bezug auf das coronahemmende Verhalten der Bevölkerung während der Pandemie. In allen drei Sprachregionen hat ein ähnlicher Anteil der Berufstätigen auf Home-Office umgestellt. Ebenso homogen ist das Verhalten bei den sozialen Kontakten: Im Schnitt haben Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer sogar etwas mehr nähere Kontakte zu Personen ausserhalb ihres Haushalts als in den anderen beiden Sprachregionen. Entscheidend für die Verbreitung des Virus ist jedoch die Einhaltung von Schutzmassnahmen, wie das Tragen von Masken oder das Einhalten des Sicherheitsabstands. Auch hier schneiden die Deutschschweizer wieder schlechter ab: In der italienischen Schweiz hat fast ein Drittel der Befragten keinen ungeschützten Kontakt ausserhalb des Haushaltes angegeben, bei den Romands war es noch ein Viertel und bei den Deutschschweizern nur rund 20%.


Heisst das nun, dass es überhaupt keine Unterschiede der Sprachregionen in Bezug auf panedmieeingrenzende Verhaltensmuster gibt und die Vorwürfe an die Romands, zu wenig vorsichtig zu sein trotz hoher Fallzahlen, ungerechtfertigt sind? Nicht ganz: Bei näherem Hinsehen sind trotzdem deutliche Unterschiede zwischen den Sprachregionen zu beobachten – und zwar in der Nutzung von Angeboten des öffentlichen Lebens.

Tessiner und Romands sind im Herbst gemäss eigenen Angaben deutlich schneller zu ihren Gewohnheiten von vor der Coronakrise zurückgekehrt – trotz hoher Fallzahlen. Im Tessin besuchten bereits knapp 80% der Befragten, welche vor dem Ausbruch der Pandemie häufig Fachgeschäfte oder Warenhäuser besucht hatten, diese Angebote bereits wieder in ähnlichem Ausmasse. In der Romandie sind es knapp 60%, während in der Deutschschweiz lediglich 43% bereits im Herbst wieder zu ihren früheren Einkaufsgewohnheiten zurückgekehrt sind.

Auch Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel oder Museen und Bibliotheken werden in der italienischen Schweiz von einem grösseren Anteil der Befragten wieder ähnlich häufig besucht wie vor dem Ausbruch der Pandemie, gefolgt von der Romandie. Bei den Gottesdiensten und religiösen Feiern besucht knapp die Hälfte der regelmässigen NutzerInnen in der Deutschschweiz und der italienischen Schweiz dieses Angebot bereits wieder ähnlich häufig. Dieser Anteil ist in der Romandie kleiner. Am stärksten zurückgegangen in allen drei Sprachregionen ist der Besuch von Angeboten des öffentlichen Lebens, welche in grossen Menschenmengen stattfinden. Dazu zählen etwa Konzerte, Clubs, Bars oder das Kino.

Paradoxerweise waren es genau die Romands und die Tessiner, welche weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens am stärksten befürworteten. Ende Oktober gab es angesichts der hohen Fallzahlen in der Romandie und der italienischen Schweiz bereits eine Mehrheit für einen schweizweiten Kurz-Lockdown von wenigen Wochen (sog. «Circuit Breaker»), um den Anstieg der Fallzahlen wieder in den Griff zu bekommen. Dies war in der Deutschschweiz noch nicht der Fall, über ein Drittel der Befragten lehnten dies sogar explizit ab.

Unbestrittener waren andere Massnahmen wie eine Sperrstunde für Restaurants und Bars um 22:00 oder das Beschränken von privaten und öffentlichen Veranstaltungen auf maximal 10 Personen. Doch auch diese fanden in der Romandie und der italienischen Schweiz eine deutlichere Mehrheit.

Die Analyse der sotomo-Umfragedaten zeigt, dass es sehr schwierig ist, bei Vergleichen der Sprachregionen klare Aussagen zu treffen. Im grundlegenden Hygiene-Verhalten, wie der Arbeit im Home-Office oder dem Schutz bei näherem Kontakt zu Personen ausserhalb des eigenen Haushaltes, um die die Verbreitung des Coronavirus einzuschränken, haben alle Sprachregionen der Schweiz Eigenverantwortung gezeigt und sich in ähnlichem Ausmass eingeschränkt – dies notabene ohne nationale Pandemievorschriften.

Wenn es um die Nutzung von Angeboten des öffentlichen Lebens geht, zeigten sich im Herbst 2020 jedoch Differenzen. In der italienischen Schweiz und – trotz sehr hohen Fallzahlen – auch in der Romandie kehrten die Menschen deutlich häufiger zu ihrem früheren Shopping-Verhalten zurück als in der Deutschschweiz. Ob dies als Erklärung für den Schweizer «Coronagraben» im Herbst 2020 ausreicht, darf bezweifelt werden. Das unterschiedliche Verhalten könnte aber als Indiz dafür gewertet werden, dass die «Politik der Eigenverantwortung» nicht in allen Sprachregionen gleich gut funktioniert. Die sotomo-Umfrage zeigt demnach, dass ein differenzierter bzw. «föderalistischer» Ansatz bei der Pandemiebekämpfung in gewissen Phasen durchaus Sinn macht.


Methode und Validität:

Die Covid-19-Fallzahlen stammen von der Webseite des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Dieses Dokument wird täglich aktualisiert und ist öffentlich zugänglich. Die Fallzahlen wurden pro Kanton und Tag gezählt. Schliesslich wurde für jeden Tag während der Umfragewellen von sotomo die Wochensumme der kantonalen Fallzahlen berechnet und deren Schnitt für die spätere 7-Tage-Inzidenz der Welle verwendet.

Für die 7-Tage-Inzidenz wurden ebenfalls die statistischen Kennzahlen für die Kantone vom Bundesamt für Statistik BFS benutzt. Die Daten sind für den Zeitraum von 2004-2019 erfasst und frei verfügbar auf der Webseite. Dabei wurde die jüngste Erfassung der Einwohner nach Kanton (2018) verwendet. Um die Fallzahlen der Kantone miteinander vergleichbar zu machen, wurden sie mit der 7-Tage-Inzidenz nach ihrer Einwohnerzahl pro 100’000 Einwohner berechnet.

Die für den Artikel verwendeten Umfrage-Daten der 5. Welle des Coronamonitor von sotomo wurden für diesen Kurs von der Forschungsstelle zur Verfügung gestellt. Für repräsentative Berechnungen wurde nach dem von sotomo erstellten Gewichtungsfaktor gewichtet.

Das Shapefile für die Infografik wurde von GADM heruntergeladen. Die Daten sind für den akademischen Gebrauch und andere nicht-kommerzielle Zwecke frei verfügbar.

Methodische Details und der Code für die Visualisierungen finden sich hier.

Informationen zum Blogbeitrag:

Name: Aline Laura Metzler
Matrikelnummer: 16-721-227
Email: alinelaura.metzler@uzh.ch

Seminar: Politischer Datenjournalismus (HS2020)
Leitung:  Fabrizio Gilardi, Alexandra Kohler, Bruno Wüest
Abgabedatum: 03.01.2021

Anzahl Wörter: 861

Selbstständigkeitserklärung


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .