Das Tessiner Covid-Trauma – In der italienischsprachigen Schweiz werden Rufe nach Föderalismus laut

Das Tessin misstraut dem Krisenmanagement des Bundesrats während der zweiten Corona-Welle nach wie vor. Die Unzufriedenheit mit den Massnahmen nimmt zu und stärkere kantonale Kompetenzen werden gefordert.

Louis Schäfer, 27.01.2021

Die während der Frühlingsferien aufgehängten Plakate mit der Aufschrift „Möchtest du so enden?“ waren eine Reaktion der Tessiner Kantonsregierung auf die Lockerungen des Bundesrats, da eine Flut an Touristen aus der Deutschschweiz erwartet wurde. (Bild: Luzerner Zeitung)  

Ein Bericht der Forschungsstelle sotomo zeigte jüngst auf, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Strategie des Bundesrats im Umgang mit der Covid-Krise schweizweit erodierte. Insbesondere im Tessin wurde der Bundesregierung bereits im Frühjahr eine grosse Skepsis zuteil, welche sich während der Pandemie weiter verstärkte. Anhand einer Analyse von Daten des Corona-Monitorings der 5. Welle (sotomo) ist ersichtlich, dass zu Beginn der zweiten Corona-Welle lediglich 29% der Tessiner Bevölkerung ein grosses bis sehr grosses Vertrauen in den Bundesrat aufwiesen und satte 32% bezüglich der Vertrauensfrage unentschlossen waren. Ein Vertrauensverlust ist auch in den meistbetroffenen Kantonen der Romandie und Deutschschweiz beobachtbar. In Zürich war der Anteil an Personen, welche ein kleines bis sehr kleines Vertrauen in den Bundesrat hatten, mit 44% sogar noch grösser als im Tessin (39%). Der Anteil an Unentschlossenen ist in Zürich mit 24% im Vergleich dennoch geringer und so bleibt der hohe Anteil an Unentschlossenen im Tessin einzigartig.

Die grosse Skepsis im Südkanton erstaunt, da dessen Bevölkerung der Landesregierung in den vergangenen Jahrzehnten ein gleich grosses oder gar noch grösseres Vertrauen zukommen liess wie der Rest der Schweiz. Dies zeigt eine Analyse des FORS, des Schweizerischen Kompetenzzentrums Sozialwissenschaften in Lausanne. Die verbreitete Annahme, dass das Tessin der Bundesregierung aufgrund von Unterrepräsentation im Bundesrat skeptischer gegenübersteht, kann das tiefe Vertrauen während der Covid-Pandemie nicht erklären. Die Frage bedarf einer anderen Erklärung, wobei sich hierfür ein Rückblick auf die Erfahrungen des Tessins mit der Pandemie im Frühjahr aufdrängt. Im Tessin sind zudem während der zweiten Welle starke Rufe nach Föderalismus vernehmbar. Ein Resultat der wachsenden Skepsis.


Traumatische Covid-Erlebnisse des Südkantons

Der erste Schweizer Covid-Fall wurde vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) am 25. Februar publik gemacht. Es handelte sich bei dem Infizierten um einen 70-jährigen Tessiner, welcher in Mailand an einer Versammlung mit dem Virus in Kontakt kam. Rund einen Monat später betrug die Zahl der infizierten Personen bereits 11’000, wie ein Artikel der SWI (swissinfo.ch) am 27. März aufzeigte. Im internationalen Vergleich zählte die Schweiz somit während der ersten Welle zu den am stärksten betroffenen Ländern, wobei der Grenzkanton Tessin die meisten Ansteckungen pro 10’000 Einwohner und die meisten Todesfälle zu verzeichnen hatte.

Problematisch war für das Tessin vor allem die Grenze zu Italien, wo Corona im März ebenfalls viele Ansteckungen nach sich zog. Die Tessiner Forderungen nach Pandemiekontrollen bei Grenzübertritten bzw. grossräumigen Grenzschliessungen stiessen allerdings dem Politiker Norman Gobbi (Lega) zufolge in Bern auf taube Ohren. Zwar erliess der Bund Massnahmen, welche einige Grenzschliessungen sowie vermehrte Grenzkontrollen umfassten, aber es gelangten dennoch viele Personen aus den Corona-Hotspots Italiens in die Schweiz, was für einen exponentiellen Anstieg der Ansteckungen sorgte. Das Tessin war mit den ergriffenen nationalen Massnahmen „unzufrieden“.

Eine weitere Episode, welche die angespannte Beziehung zwischen dem Tessin und der Bundesregierung aufzeigt, war das Aufhängen von abschreckenden Plackten durch die Tessiner Kantonsregierung. Mit Schockbildern von Patienten auf Intensivstationen und dem Satz «Möchtest du so enden?» wurde versucht, Touristen aus der Deutschschweiz abzuschrecken. Im Tessin rechnete man nämlich aufgrund der sinkenden Fallzahlen im April mit einer Flut an Touristen. Der CVP-Präsident Fiorenzo Dadò meinte dazumal, die Appelle des Bundesrats an das Volk, nicht in den Südkanton zu reisen, seien zu geringfügige Massnahmen, um den Tourismus aus der Deutschschweiz und die weitere Verbreitung des Covid-Virus einzudämmen.


Künftige Schweizer Strategie im Umgang mit dem Coronavirus

Die Unzufriedenheit mit den Massnahmen des Bundesrats während der ersten Welle sowie die starke Betroffenheit des Tessins scheinen im Südkanton zu einer Art Trauma geführt zu haben. So plädierte die Tessiner Bevölkerung zu Beginn der zweiten Welle am stärksten für strenge Massnahmen. Die Umfragedaten von sotomo zeigen eindrücklich auf, dass sich von den am stärksten betroffenen Kantonen lediglich im Südkanton eine absolute Mehrheit der Befragten für strenge Massnahmen aussprach (63%). Zwar war der Anteil an Personen, welcher sich strenge Massnahmen wünschte, in den anderen stark betroffenen Kantonen ebenfalls hoch, aber ein so hoher prozentualer Anteil wie im Tessin ist einzigartig. Interessant ist dabei auch, dass das Tessin zu Beginn der zweiten Welle deutlich weniger stark von Covid betroffen war als Genf und Freiburg.


Der Tessiner Wunsch nach mehr Föderalismus

Die sotomo-Umfragedaten zeigen weiter auf, dass sich die Tessiner Bevölkerung zu Beginn der zweiten Welle vermehrt kantonale Kompetenzen in der Bewältigung der Covid-Krise wünschte. Dabei handelt sich wohl um eine Konsequenz des relativ stark erodierten Vertrauens in den Bundesrat. So forderten dies ganze 39% der Tessiner Bevölkerung. In allen anderen stark betroffenen Kantonen findet sich eine absolute Mehrheit in der Bevölkerung, welche mehr Vorgaben durch den Bund wünschte. Zwar wünschte sich das Tessin ebenfalls am ehesten mehr Vorgaben durch den Bund, aber der Anteil dieser Personen war relativ gesehen geringer als in den anderen Kantonen und erzielte keine absolute Mehrheit.

Die relativ starke Betroffenheit während der ersten Welle, der Wunsch nach strengen Massnahmen und das daraus resultierende, tiefe Vertrauen in den Bundesrat haben im Tessin dazu geführt, dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung mehr Föderalismus wünscht. In den letzten Jahrzehnten genoss der Bundesrat dabei im Südkanton ein vergleichsweise ebenso grosses oder gar noch grösseres Vertrauen, wie die Analyse von FORS aufzeigt. Die ergriffenen Massnahmen des Bundesrates zur Krisenbewältigung scheinen der Tessiner Bevölkerung zu kurz zu greifen. Ob der Bundesrat den ähnlich lautenden Forderungen des Tessins in der zweiten Welle verstärkt Gehör schenken wird, wobei erneut Grenzkontrollen bzw. Grenzschliessungen gefordert werden, wird sich in den kommenden Wochen weisen.


Daten

Die Daten für die vier Grafiken stammen vom Forschungsinstitut sotomo, welches das Corona-Monitoring in der Schweiz bisher 5-mal durchgeführt hat. Im Rahmen des Corona-Monitoring werden dabei Umfragedaten generiert, welche die Meinungen der Bevölkerung bezüglich Corona sowie soziodemografische Merkmale umfassen. Anhand von Gewichtungsverfahren soll dabei sichergestellt werden, dass ein repräsentatives Sample aus der Grundgesamtheit gezogen wird. In diesem Beitrag werden lediglich Daten der 5. Befragungswelle, die zwischen dem 23. Oktober und 2. November erhoben wurden, verwendet.

Für die Bestimmung der am stärksten durch Covid betroffenen Kantone werden Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verwendet. Auf den Grafiken sind die 10 am stärksten durch Covid betroffenen Kantone zu sehen. Dabei verzeichnen diese Kantone seit Beginn der Pandemie am meisten Erkrankungsfälle (Stand: 23.10.2020, Beginn der 5. sotomo Befragung).

Weitere Quellen/ Recherche:

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