Misstrauischer und medienkritischer: Wie das Coronavirus die Stimmung in der Ostschweizer Bevölkerung verändert hat

Als der Bundesrat Ende März 2020 den ersten Lockdown verkündete, stand noch ein einig Volk hinter der Schweizer Regierung. Doch wie sieht es nach rund neun Monaten Coronapolitik aus? Ein genauerer Blick in die Ostschweiz zeigt: Nicht nur das Vertrauen in die Landesregierung hat gelitten.

„Wir haben zu spät reagiert“, sagte der St.Galler Gesundheitsdirektor Bruno Damann Mitte Dezember während einer Pressekonferenz über die Lage im Kanton. Mit dieser Aussage war der „St.Galler Weg“, wie ihn Medien nannten, offiziell gescheitert. Der Kanton St.Gallen, und mit ihm die gesamte Ostschweiz, hatten sich härteren Coronamassnahmen über längere Zeit verweigert. Auch noch, als sich die Romandie und weitere Teile der Schweiz bereits wieder in lokalen Lockdowns befanden. Ob man früher auf die Empfehlungen des Bundesrats hätte reagieren sollen, wurde Damann in einem Interview mit dem St.Galler Tagblatt gefragt. Seine Antwort:

„Im Nachhinein ist man immer schlauer.“

Doch trotz steigender Infektionszahlen und ausgelasteter Intensivstationen: Immer mehr Ostschweizerinnen und Ostschweizer hatten den „St.Galler Weg“ begrüsst und striktere Massnahmen, wie vom Bund gefordert, abgelehnt. Hat die Ostschweizer Bevölkerung, wobei die Kantone St.Gallen, Thurgau und die beiden Appenzell gemeint sind, das Vertrauen in die Bundesregierung verloren? Und falls ja: Denken die Einwohner aller vier Kantone so? 

Das Vertrauen leidet besonders in der Ostschweiz

Damann dürfte die Stimmung in seinem Kanton tatsächlich nicht entgangen sein. Neuste Bevölkerungsumfragen von sotomo zeigen nämlich, dass die Massnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie massiv an Zustimmung verloren haben. Waren es während der ersten Welle noch rund 63 Prozent der Ostschweizer, welche die Massnahmen für angemessen hielten, sank dieser Wert Ende Oktober auf knapp 30 Prozent. Mit einher ging auch ein Verlust des Vertrauens in die Landesregierung.

Ein Grund für den Bruch dürfte dabei das Verhalten der Landesregierung nach den ersten Lockerungen im Sommer gewesen sein. Das Gröbste, so konnte man meinen, war überstanden. Der Bundesrat verabschiedete sich in die Ferien und übergab die Verantwortung den Kantonen. Dieser Regimewechsel kam abrupt und wurde, so sagen Experten, schlecht kommuniziert. Statt des Ausnahmezustands galt damals gemäss Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga „eine neue Normalität“.

Während die Westschweizer Kantone und vor allem das Tessin mit der ersten Coronawelle zu kämpfen hatten, kamen die Deutsch- und vor allem die Ostschweiz mit einem blauen Auge davon. Die prophezeiten Kapazitätsengpässe in den Spitälern blieben aus. Im Gegenteil: Die St.Galler Regierung bezifferte die Ertragsausfälle für die Spitäler wegen abgesagter Operationen auf rund 66 Millionen Franken.

Dies dürfte ein weiterer Grund gewesen sein, weshalb das Vertrauen der Ostschweizer, aber auch beispielsweise die der Zentralschweizer Kantone Schwyz , Zug und Nidwalden, in die Landesregierung deutlich litt. Während in der Romandie das Vertrauen lediglich um rund einen halben Punkt sank, auf einer Skala von 1 bis 5, wobei 5 ein sehr grosses Vertrauen bedeutet, war es in den Kantonen St.Gallen, Thurgau und den beiden Appenzell im Schnitt über ein Punkt. Und auch aus dem Gesundheitssektor kam Kritik: „Eine wichtige Lehre aus der ersten Welle betrifft die Kommunikation auf Behördenebene“, sagte Thomas Münzer, Chefarzt der Geriatrischen Klinik St.Gallen, in einem Interview im St.Galler Tagblatt Ende Juli dieses Jahres.

Vor allem die Heime seien geradezu mit Empfehlungen überhäuft worden. Es habe Informationen vom Gesundheitsdepartement, vom Departement des Innern, vom Bund und von den Verbänden gegeben. „Es war nicht immer klar, was nun tatsächlich gilt.“ Diese Kritik spiegelt sich auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung wieder. Ähnlich wie das Vertrauen in den Bundesrat ging die Zustimmung bezüglich der Kommunikation der Schweizer Behörden in der Ostschweiz überproportional zurück im Vergleich mit beispielsweise der Westschweiz. Zum Vergleich: In der Ostschweiz sank der Wert um 1.1 Punkte, wieder auf einer Skala von 1 bis 5, in der Westschweiz waren es lediglich deren 0.6.

Medien als Panikmacher?

Doch nicht nur die Kommunikation der Regierung hat in den vergangenen Monaten gelitten, auch die klassischen Medien erhalten von der Ostschweizer Bevölkerung ein schlechtes Zeugnis. Während zu Beginn der Pandemie noch knapp 30 Prozent der Befragten geantwortet hatten, dass die Medien sachlich informieren, waren es Ende Oktober nur noch deren 20 Prozent.

Gleichzeitig stieg die Einschätzung, Medien würden Panik verbreiten, um über 15 auf rund 42 Prozent. 44 Prozent der Ostschweizer sind zudem der Meinung, Medien würden grundsätzlich in ihrer Berichterstattung übertreiben. Schweizweit zeigt sich ein ähnlicher, wenn auch nicht so stark ausgeprägter Trend: Ende Oktober gaben jeweils rund 37 Prozent von Herr und Frau Schweizer an, Medien würden grundsätzlich übertreiben und/oder Panik verbreiten.

„Verständlich“, sagt Vinzenz Wyss, Medienwissenschaftler der ZHAW, auf Anfrage. „Die Bevölkerung kann es nicht verstehen, wenn während der ersten Welle die Spitalbetten leer bleiben, sie gleichzeitig aber tagtäglich über die Gefahren des Virus in den Medien lesen muss.“ Besonders zu Beginn der Pandemie hätten es viele Journalistinnen und Journalisten verpasst, die Zahlen des Bundes in Relation zu setzten und sie für die Bevölkerung verständlich aufzubereiten.

Diese Wahrnehmung hatte zur Folge, dass grosse Teile der Bevölkerung die Medienschaffenden einzig als Sprachrohr des Bundesrats wahrgenommen hätten. Dies sei aber mit der Zeit besser geworden. Wyss nimmt die Journalistinnen und Journalisten in Schutz:

„Zu Beginn der Pandemie gab es schlicht nur das BAG und seine Zahlen als Quelle. Dies hat sich aber geändert, was die Mehrheit der Medien auch wieder kritischer gegenüber dem Bundesrat gemacht hat.“

Eine medienkritische Bevölkerung als Grund für den Vertrauensverlust gegenüber der Landesregierung sieht er aber nicht. Dafür müsse es andere Gründe geben, so Wyss.

Den Unterschied machen die 40- bis 50-Jährigen

Über die genauen Gründe darf spekuliert werden. Die verhängten Massnahmen kurz vor der letzten Befragung gehören aber nicht dazu: Die Daten von sotomo zeigen zwar, dass die Zustimmung insgesamt abnahm, Befürworter und Gegner der Massnahmen sich aber die Waage halten. Doch es lohnt sich ein genauerer Blick. Hat das Vertrauen in der Ostschweiz also gesamthaft abgenommen, oder gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen?

Die Daten zeigen, dass ein geographischer Unterschied hauptsächlich zwischen der deutschen und der lateinischen Schweiz besteht. Ein Vergleich der Ostschweizer Kantone zeigt eine geographische Homogenität. Dasselbe gilt für die Merkmale Geschlecht und Bildungsabschluss.

Ein Unterschied zeigt sich schliesslich in der Altersstruktur der Ostschweizer Bevölkerung. Während der Rückgang bei Jungen und Alten im Verhältnis weniger stark ausgeprägt ist, sind es vor allem die 30- bis 50-Jährigen, welche für einen Grossteil des Vertrauensverlustes verantwortlich sind. Waren Anfang April noch beinahe 75 Prozent der befragten 30- bis 50-Jährigen mit der Leistung des Bundesrats zufrieden (Frage mit 4 oder 5 beantwortet), schrumpfte dieser Anteil Ende Oktober auf rund 30 Prozent.

Demgegenüber steht die Einschätzung der über 70-Jährigen. Zwar ist auch ihr Anteil im Vergleich zum April geschrumpft, dennoch attestiert noch über die Hälfte aller Befragten der Landesregierung eine gute Leistung.

Es muss also nicht die Frage gestellt werden, ob die Ostschweizer Bevölkerung das Vertrauen verloren hat, sondern wie stark sie es verloren hat. Die Untersuchungen haben eines deutlich aufgezeigt: Hinsichtlich Vertrauen in der Bevölkerung sind die klassischen Medien, an erster Stelle aber die Schweizer Landesregierung, die grossen Verlierer der Pandemie.


Daten, Validität und Methoden:
Für diesen Blogbeitrag wurde das Corona-Monitoring von sotomo verwendet.
Die Antworten der Befragten wurden gewichtet.
Zudem wurden die Unterschiede mit Hilfe von t-Tests auf ihre Signifikanz hin untersucht.
Der ursprüngliche Datensatz hat 142’335 Beobachtungen. Für die zweite Befragungswelle in der Ostschweiz wurden 2062 Personen befragt, für die fünfte deren 2956.

Zusätzliche Erklärungen
In diesem Blogbeitrag wurden die Antworten der zweiten und fünften Befragungswelle des sotomo Corona-Monitorings untersucht. Ein Vergleich dieser beiden Befragungswellen eignet sich besonders, da sich die Schweiz zu den jeweiligen Zeitpunkten der Befragungen in einer ähnlichen Situation bezüglich Corona befand (Kurz nach dem Start der ersten (Befragung im April) und der zweiten (Befragung im Oktober) Coronawelle).

Wenn im Artikel von der Ostschweiz gesprochen wird, sind die Kantone St.Gallen, Thurgau, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden gemeint. Als Grundlage dafür dient das Einzugsgebiet des St.Galler Tagblatts.

Bloginformationen
Titel: Misstrauischer und medienkritischer: Wie das Coronavirus die Stimmung in der Ostschweizer Bevölkerung verändert hat
Autor: Tim Naef
Email: tim.naef@uzh.ch
Matrikelnummer: 09-732-082
Abgabedatum: 03. Januar 2021
Vorlesung: Vorbereitung Forschungsseminar Politischer Datenjournalismus (HS2020)
Dozierende: Alexandra Kohler, Bruno Wüest, Fabrizio Gilardi
Anzahl Wörter: 997 (exkl. Titel, Lead, Anhänge)

Referenzen
St.Galler Tagblatt, 16.12.2020,
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/interview-wir-haben-zu-spaet-reagiert-regierungspraesident-bruno-damann-relativiert-den-stgaller-weg-ld.2076422

St.Galler Tagblatt, 26.07.2020
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wir-hatten-unglaubliches-glueck-der-stgaller-altersmediziner-thomas-muenzer-blickt-auf-die-erste-coronawelle-zurueck-ld.1241241

Prof. Dr. Vinzenz Wyss
https://www.zhaw.ch/de/ueber-uns/person/wysv/

Massnahmen und Verordnungen des Bundes
https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/massnahmen-des-bundes.html


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