Nur langsames Vorwärtskommen in der Behindertenpolitik

Das schweizerische Parlament schenkt dem Thema Behinderung inzwischen mehr Aufmerksamkeit. Im Vergleich zu anderen Themen hinkt es jedoch deutlich hinterher. Dies zeigt die Analyse der Parlamentsdebatten der letzten zwanzig Jahren.

Alexandra Würmli

«Behinderte und ihre Angehörigen haben einfach keine Lobby», sagt Astrid Mäder im Dezember 2020 in einem Artikel zum Tagesanzeiger. Sie hat eine Tochter mit einer Behinderung. Wegen der Betreuung ihrer Tochter konnte sie nur Teilzeit arbeiten, was sich jetzt im Pensionsalter auf ihre Altersvorsorge auswirkt. Sie ist gelernte Pflegefachfrau und arbeitet immer noch halbtags, um über die Runden zu kommen. Wie sieht es aus im nationalen Parlament? Wie häufig wird über Themen, die Menschen mit Behinderung betreffen, gesprochen? Diese Fragen werden hier mittels einer Analyse der Parlamentsdebatten untersucht.

Das Parlament schenkt dem Thema Behinderung inzwischen mehr Aufmerksamkeit, aber hinkt im Vergleich immer noch hinterher

Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Davon sind rund 27% stark beeinträchtigt. Laut dem Verein Tatkraft wird vielen Menschen mit Behinderung die Teilnahme am öffentlichen Leben von Institutionen und ihrem Umfeld erschwert oder verunmöglicht. Um diese Barrieren überwinden zu können, sind sie unter anderem auf individuelle Anpassungen und Unterstützung angewiesen. Dabei kann das nationale Parlament eine wichtige Rolle spielen. Eine Auswertung aller deutsch- und französischsprachigen Geschäfte[1] der letzten zwanzig Jahre, in denen es um Behinderung geht, zeigt eine leicht steigende Tendenz (Abbildung 1).


Auffallend ist dabei, dass weder das Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) im Januar 2004 noch die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention im April 2014 zu einem deutlichen Anstieg der Geschäfte geführt hat. Dafür zeigt sich sehr deutlich, dass im Jahr 2020 die Anzahl Geschäfte angestiegen sind. Das ist auf den Beginn der Covid-19-Krise zurückzuführen. Die meisten Geschäfte im Jahr 2020 behandeln Fragen, in denen es darum geht, ob es zusätzliche Massnahmen für Menschen mit Behinderungen braucht. Das heisst, es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Anstieg kurzfristiger Natur ist.

Im Vergleich zu anderen Themen sieht man, dass das Thema Behinderung immer noch deutlich hinterherhinkt (Abbildung 2). Nur schon der Vergleich mit dem Thema Covid zeigt ein deutliches Ergebnis. Die Covid-19-Krise hat innerhalb von knapp zwei Jahren doppelt so viele Geschäfte erzeugt wie das Thema Behinderung innerhalb von zwanzig Jahren. Auch im Vergleich zu anderen Themen, wie Frauen oder Asyl, ist eine deutliche Differenz zu erkennen.

Das Parlament spricht zwar weniger über Menschen mit Behinderung, wird dafür schneller aktiv

Wenn die Art der Geschäfte genauer analysiert wird, zeigt sich ein leicht verändertes Bild. Wichtig ist, dass zwischen den Geschäften differenziert wird. Einerseits gibt es solche, in denen vor allem Fragen gestellt oder Auskunft zu bestimmten Angelegenheiten verlangt werden. Zu denen gehören Fragestunden, Interpellationen und Anfragen aller Art. Andererseits gibt es auch Geschäfte, in denen das Parlament oder der Bundesrat aufgefordert wird, aktiv zu werden. Zu diesen Geschäften gehören Motionen, Standesinitiativen, Parlamentarische Initiativen und Postulate. Je nachdem, welche Geschäfte genauer betrachtet werden, können verschiedene Schlüsse daraus gezogen werden.

Bei fast allen Themen sind die Fragestunden und Interpellationen an erster Stelle (Abbildung 3). Dies zeigt, dass in den meisten Fällen vor allem über die Gegenstände diskutiert wird. Wenn das Thema Behinderung genauer betrachtet wird, kann gesehen werden, dass Motionen an zweiter Stelle kommen. Das kann als positives Zeichen interpretiert werden, da dies bedeutet, dass zwar das Thema Behinderung insgesamt weniger vorkommt, aber das Parlament dafür schneller aktiv wird. Was sich zusätzlich feststellen lässt, ist, dass die Anzahl der eingereichten Petitionen von all den Themen am höchsten ist. Daraus kann geschlossen werden, dass bei diesem Thema viel Input von ausserhalb kommt.

Keine Überraschung bei der Analyse der Fraktionen, jedoch bei den ParlamentarierInnen

Keine Überraschungen zeigt die Analyse, welche Fraktion das Thema Behinderung am häufigsten aufgreift. Im Gesamten spricht die SP-Fraktion mit 26% am meisten darüber. Danach folgt die Mitte-Fraktion[2], die FDP-Fraktion und schliesslich die SVP-Fraktion. Dass die Grüne- und Grünliberale-Fraktion das Schlusslicht bilden, liegt daran, dass diese Fraktionen noch nicht so lange bestehen. Diese Reihenfolge ist nicht überraschend, da sie mit den Parteiprofilen übereinstimmt.


Im Gegensatz dazu zeigt die Analyse der ParlamentarierInnen, dass Ständerat Christoffel Brändli von der SVP-Fraktion am häufigsten über das Thema Behinderung gesprochen hat. Er war von 1995 bis 2011 Mitglied des Ständerates und bis zum Jahr 2002 Präsident der Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen Pro Infirmis, was dieses Resultat erklärt. Auch der zweite und der dritte Platz ist eher ungewöhnlich. An zweiter Stelle kommt Nationalrätin Thérèse Meyer von der Mitte Fraktion und an dritter Stelle Marc Suter von der FDP-Fraktion. Das heisst, dass sich bei der SP-Fraktion generell mehr verschiedene ParlamentarierInnen mit diesem Thema beschäftigen, bei den anderen Fraktionen konzentriert es sich mehr auf einzelne Personen.

ParlamentarierIn Fraktion Rat Anzahl Reden 
Brändli Christoffel SVP Fraktion Ständerat 27 
Meyer Thérèse Die Mitte-Fraktion. Die Mitte. EVP. Nationalrat 24 
Suter Marc F. FDP Fraktion Nationalrat 20 
Triponez Pierre FDP Fraktion Nationalrat 15 
Gross Jost SP Fraktion Nationalrat 14 
Graf Maya Grüne Fraktion Nationalrat 12 
Bruderer Pascale SP Fraktion Nationalrat 11 
Bruderer Wyss Pascale SP Fraktion Ständerat 
Widrig Hans Werner Die Mitte-Fraktion. Die Mitte. EVP. Nationalrat 
Stahl Jürg SVP Fraktion Nationalrat 
Wirz-von Planta Christine FDP Fraktion Nationalrat 
Goll Christine SP Fraktion Nationalrat 
Jenny This SVP Fraktion Ständerat 
Ory Gisèle SP Fraktion Ständerat 
Studer Heiner Die Mitte-Fraktion. Die Mitte. EVP. Nationalrat 
Studer Jean SP Fraktion Ständerat 
Zäch Guido Die Mitte-Fraktion. Die Mitte. EVP. Nationalrat 
Brunner Christiane SP Fraktion Ständerat 
Galli Remo Die Mitte-Fraktion. Die Mitte. EVP. Nationalrat 
Schenker Silvia SP Fraktion Nationalrat 4

Es ist in den letzten Jahren in Bezug auf den Behindertenbereich einiges in Gang gekommen. […] All diesen Schritten, insbesondere auch dem neuen Bundesverfassungsartikel, ist eines gemeinsam: Sie anerkennen den Handlungsbedarf in Bezug auf die Verbesserung der Situation der Behinderten.»

Christoffel Brändli, SVP-Fraktion im Ständerat, (06. Juni 2000)

Gleichstellung und Integration sind die am häufigsten mit Behinderung assoziierten Themen

Aus der Analyse, worüber die ParlamentarierInnen in Verbindung mit dem Thema Menschen mit Behinderung gesprochen haben, können verschiedene Schlüsse gezogen werden. Unter den 50 häufigsten deutschen und französischen Wörtern befinden sich Gleichstellung und Integration. Dies deutet darauf hin, dass es sich bei beiden um wichtige Ziele handelt, die in der Behindertenpolitik zu verfolgen sind. Die Wörter Bauten, Zugang und Anlage lassen daraus schliessen, dass vor allem über bauliche Massnahme zur Gewährleistung von hindernisfreien Zugängen gesprochen wird. Das Wort Kinder zeigt, dass nicht nur Erwachsene mit einer Behinderung, sondern auch Kinder ein Thema sind. Auch die Finanzen wurde in diesem Zusammenhang mit Worten wie Franken und Kosten thematisiert.

Die Analyse der Parlamentsdebatten zum Thema Behinderung hat aufgezeigt, dass das schweizerische Parlament diesem Thema inzwischen mehr Aufmerksamkeit schenkt. Jedoch ist diese Tendenz nur ganz leicht steigend. Im Grossen und Ganzen hinkt die Behandlung des Themas Behinderung im Vergleich zu anderen deutlich hinterher. Ein kleiner Hoffnungsschimmer zeigt sich bei der Analyse der Geschäfte. Das Thema Behinderung kommt insgesamt weniger vor in den Geschäften, aber die ParlamentarierInnen werden schneller aktiv. Jedoch kann auch gesehen werden, dass viel Input von ausserhalb in Form von Petitionen kommt. Um zur Aussage von Astrid Mäder vom Anfang zurückzukommen, dass Menschen mit Behinderung eine grössere Lobby brauchen. Dieses Ergebnis würde dafür sprechen

[1] Sämtliche Beratungsgegenstände, welche das Parlament behandelt, werden in Form von Geschäften abgewickelt.

[2] Ehemalige CVP und BDP Fraktionen sind in diesem Wert enthalten.

Informationen zum Blog

Autorin: Alexandra Würmli, 13-706-114, alexandra.wuermli@uzh.ch
Modul: Politischer Datenjournalismus FS 20
Dozenten: Theresa Gessler, Bruno Wüest, Alexandra Kohler
Anzahl Worte: 1024
Selbständigkeitserklärung

Daten, Methoden und Validität

Die Analyse der Parlamentsdebatten wurde mit dem Statistikprogramm R durchgeführt. Zunächst wurden mit dem Rpackage «Swissparl» von David Zumbach von der Webseite parlament.ch alle Geschäfte auf Deutsch und Französisch im Parlament zum Thema Behinderung heruntergeladen. Dabei wurden alle Geschäfte mit dem Wortteil „behind“ und „handicap“ im Titel berücksichtigt. Danach wurden die Texte zu den jeweiligen Geschäften heruntergeladen. Es handelt sich dabei um 355 Titel und 323 Wortbeiträge im Zeitraum zwischen dem 9. Oktober 1992 und dem 7. Dezember 2020. Das gleiche Vorgehen wurde bei den anderen Themen gewählt.

  • Geflüchtete («flücht», «refug»)
  • Asyl («asyl», «asil»)
  • Frauen («frau», «femme»)
  • Klima («klima», «climat»)
  • AHV («ahv», «avs»)
  • Bildung («bildung», «formation»)
  • Cobiv («covid», »covid»)
  • Armee («armee», «armée»)

Dies hat den Vorteil, dass möglichst viele Geschäfte mit diesen Titeln herausgefiltert werden, aber den Nachteil, dass auch Geschäfte verloren gehen, die das gleiche meinen, aber anders benannt sind. Ein Kritikpunkt kann auch sein, dass die verschiedenen Themen nicht eins zu eins vergleichbar sind.

Die Reden der Ratspräsidenten und des Bundesrates wurden entfernt, da nur die Debatten der ParlamentarierInnen berücksichtigt werden.  In der Tabelle, welche/r ParlamentarierIn am häufigsten über das Thema Behinderung gesprochen hat, wurden nur die ersten 20 angezeigt.

Der Code zur Analyse kann hier eingesehen werden.

Quellen:

Bundesamt für Statistik. 2017. «Menschen mit Behinderungen». https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-menschen-behinderungen/behinderungen.html (1. Juli 2021).

Eidgenössisches Departement des Innern EDI. 2020. «Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen».

Fedlex. 2020. «Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen». https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2003/667/de (13. Mai 2021).

Kohler, Alexandra, und Christian Kleeb. 2021. «Die Grünen machen im Parlament am meisten Politik mit Corona». NZZ. https://www.nzz.ch/visuals/die-gruenen-machten-im-parlament-am-meisten-mit-corona-politik-ld.1606433?mktcid=smsh&mktcval=E-mail (5. Mai 2021).

Söldi, Andrea. 2020. «Immer für die behinderte Tochter da». Tagesanzeiger. https://www.tagesanzeiger.ch/immer-fuer-die-behinderte-tochter-da-780418856568 (20. Juni 2021).

tatkraft. 2021. «Unsere Projekte». https://tatkraft.org/projekte/ (23. Juni 2021).

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